Siebeck, Hermann

[674] Siebeck, Hermann, geb. 1842 in Eisleben, 1875 Prof. in Basel, 1883 in Gießen.

S., der von Herbart ausging, ist besondere von Kant, Fichte, Lotze beeinflußt und zeigt in mancher Hinsicht Verwandtschaft mit Eucken. Die Religionsphilosophie ist seine Hauptleistung; sie untersucht das Wesen und die Entwicklung des religiösen Bewußtseins und den Wahrheitsgehalt der Religion. Die (reine) Religion definiert S. als die »Verstandes- und gefühlsmäßige, praktisch wirksame Überzeugung von dem Dasein Gottes und des Überweltlichen und in Verbindung hiermit von der Möglichkeit einer Erlösung«. Diese »Erlösungsreligion« ist die oberste Stufe der religiösen Entwicklung, die mit den Naturreligionen anfängt und zu den Gesetzes- oder Moralitätsreligionen aufsteigt. Erst in der Erlösungsreligion erkennt der Mensch, daß die Erhebung über das Naturhafte, in letzter Instanz die »geistige Wesensbildung« und das mit ihr gesetzte Verhältnis zum Göttlichen, ein mit Freiheit anzustrebendes Ziel ist. Die Religion hat das Überweltliche zum Gegenstand, das schon im Weltlichen, Zeitlichen sich manifestiert und vom Menschen erlebt und erstrebt wird. Der Glaube an dieses Überweltliche, Göttliche ist eine Tat der Freiheit, d.h. der Fähigkeit, auch den Naturhindernissen gegenüber eine sittlich-geistige[674] Aufgabe anzuerkennen und sich ihr in einem Akte der Zustimmung zu unterstellen. Das Überweltliche, Ewige ist nicht sowohl ein Sein, als ein Wert, der Inbegriff der absoluten, ewigen Werte, in deren Dienst das Werden, das Weltgeschehen steht. Der Inhalt und Zusammenhang dieser Werte ist das Gute als Ziel des Weltgeschehens; die raumzeitliche Welt ist die »Verwirklichung des Guten«, d.h. des Inbegriffes oberster Werte. In diesen bekundet sich das in der Welt und ihrem Zusammenhange waltende, persönlich-überpersönliche göttliche Wesen.

Während die Naturentwicklung eine notwendige ist, herrscht im Geistigen eine andere Gesetzlichkeit, welche die Fähigkeit hat, die Widerstände der Natur, in welchen die »Übeln« liegen, zu überwinden. Der menschliche Geist ist des Fortschritts fähig und dazu berufen, aber diese Fähigkeit bedeutet eine Aufgabe, die der Geist je nachdem lösen oder verfehlen kann (Ethischer Idealismus). Der Fortschritt ist keine naturgeschichtliche Tatsache, sondern eine »ethische Aufgabe«, an der jeder weiter zu arbeiten hat. Der kategorische Imperativ lautet nach S.: »Handle so, daß du dir bewußt bleibst, durch das, was du tust, zur Verwirklichung des Guten beitragen zu können und zu sollen.« Das Sollen herrscht alle geistige Entwicklung, deren Ziel die »Hervorbringung eines Werthaltigen« parallel mit der Wesensbildung der Persönlichkeit ist. Das bewußte Geistesleben ist fortdauernde Überwindung von Widerständen (vgl. Eucken). In der historischen Form der Entwicklung ist ein Überzeitliches beschlossen, das sich in ihr verwirklicht, und zwar zuhöchst vermittelst des Willenslebens von Persönlichkeiten, auf welche das Sein angelegt ist und die bewußt an der Realisierung des göttlichen Willens mitarbeiten.

Die Ästhetik S.s vermittelt zwischen Form- und Gehaltsästhetik. Die Form beruht auf einer bestimmten Ordnung der Teile oder Merkmale und gibt sich selbst den Inhalt. Bei der ästhetischen Anschauung kommt ein Seelisches zu sinnlichem Ausdruck, ein Sinnliches erweckt die Illusion eines individuell Charaktermäßigen bzw. den Eindruck einer erscheinenden Persönlichkeit.

SCHRIFTEN: Das Wesen der ästhetischen Anschauung, 1875. – Das Traumleben d. Seele, 1877. – Über das Bewußtsein als Schranke der Naturerkenntnis, 1879. – Über Wesen und Ziel des wissenschaftlichen Stadiums, 1883. – Geschichte der Psychologie l, 1880 f. – Untersuchungen zur Philosophie der Griechen, 1873; 2. A. 1888. – Beiträge zur Entstehungsgeschichte der neueren Psychologie, 1891. – Über die Lehre vom genetischen Fortschritt der Menschheit, 1892. – Lehrbuch der Religionsphilosophie, 1894. – Aristoteles, 1899; 2. A. 1902. – Goethe als Denker, 1902. – Zur Religionsphilosophie, 1907. – Zeitschr. f. Philos. u. philos. Krit., Bd. 94, 112; Arch. f. Gesch. d. Philos. I ff. (Über die Psychologie der Scholastiker: Duns Scotus u. a.). – Vgl. GEISLER, S.s. Religionsphilos., 1908.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 674-675.
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