Stern, L. William

[714] Stern, L. William, geb. 1871 in Berlin, Prof. in Breslau. Mitherausgeber der »Zeitschrift für angewandte Psychologie «. Herausgeber der »Beiträge zur Psychologie der Aussage«, 1903 ff.

Als Psycholog beschäftigt sich S. besonders mit Individualpsychologie und angewandter Psychologie. Die Individual- oder Differentialpsychologie ist die »Lehre von der differenzierten Menschenseele«, die es mit den Variationsformen der seelischen Funktionen bei verschiedenen Individuen zu tun hat. Ihre Aufgabe ist: »Auffindung und Beschreibung der wirklich vorhandenen seelischen Verschiedenheiten; Nachweis derselben als besonderer Erscheinungsformen jener allgemeinen psychischen Elemente, Gesetze, Funktionen und Dispositionen, die uns die generelle Psychologie kennen lehrt; Einordnung der psychischen Besonderheiten in Typen; Untersuchung, wie aus dem Zusammentreffen gewisser einfacher Typenformen komplexere Typen entstehen: schließlich Einblick in das Wiesen der Individualität, indem mau sie als Kreuzungspunkt verschiedener Typen betrachtet.« Die Psychologie überhaupt ist »analysierende und isolierende Betrachtung seelischer Phänomene«; dadurch, steht sie im Widerstreit zu allen Gebieten, für welche seelisches Dasein als individuelles Ganzes, d.h. in der Form der Persönlichkeit, von Bedeutung ist. Die Anwendung der Psychologie reicht aber so weit, als die »sachliche« Betrachtungsweise menschlichen Geisteslebens reicht. Psychologie wird zur angewandten Disziplin als Unterlage der psychologischen Beurteilung (»Psychognostik«) und als Wegweisung für psychologische Einwirkung (»Psychotechnik«), welch letztere die Hilfsmittel zur Förderung wertvoller Zwecke durch geeignete Handlungsweisen liefert. Die Psychologie der Aussage hat jene Funktion zum Gegenstand, welche gegenwärtige oder vergangene Wirklichkeit durch menschliche Bewußtseinstätigkeit zur Wiedergabe zu bringen sucht. »Angestrebt wird die Kenntnis des logischen Wahrheitswertes und des moralischen Wahrhaftigkeitswertes der Aussagen, die Einsicht in die Bedingungen, welche diese Werte positiv und negativ beeinflussen, und die Eröffnung von Wiegen, auf welchen sie vervollkommnet werden können.«

Seine Erkenntnistheorie und Weltanschauung basiert S. auf den kritischen Personalismus (Einfluß von Leibniz, Kant, Herbart, Lotze, Wundt u. a,). Die Anschauungs- und Denkformen sind von apriorischer Geltung. Gegenüber dem Sachstandpunkt« des Impersonalismus, der als Methode berechtigt [714] und konsequent festzuhalten ist, leitet der »Personalismus« das Sachliche, Quantitative, Mechanische letzten Endes aus Aktionen und Reaktionen von »Personen« ab und betont das Qualitative, Individuelle, Formende, Aktive, Zielstrebige der Wirklichkeit. Die Person ist »psychologisch neutral«, d.h. sie erscheint sowohl physisch als psychisch. Sie ist »ein solches Existierendes, das, trotz der Vielheit der Teile, eine reale, eigenartige und eigenwertige Einheit bildet, und als solche, trotz der Vielheit der Teilfunktionen, eine einheitliche, zielstrebige Selbsttätigkeit vollbringt«. Sie ist »unitas multiplex«, ein Ganzes, Einheit, aktiv, eigenartig; die Sache hingegen ist ein Aggregat, Quantität, passiv, mechanisch. Fremdzweck. Die »Person« hat zwei Daseinsstufen: als »Person an sich« (Stufe der bloßen Selbsterhaltung) und als »Person an hau und für sich« (Stufe der Selbstentfaltung). Die Teile der Personen sind wieder Personen. Die Welt ist ein Stufenbau von Personen, alle umschlossen von der göttlichen All-Person. Die Person ist an sich metaphysisch und metapsychisch. Das Körperliche ist wie das Psychische Erscheinung von Personen und personalem Wirken. Die Person erscheint als Objekt und ist, sofern sie ihre eigene Einheit erlebt, ein Ich mit Bewußtsein. Zwischen Physischem und Psychischem als den zwei Seiten der Person besteht ein Parallelismus, ohne daß überall Bewußtsein vorhanden ist.

Alles Wirken, welches vom Sach-Standpunkt als Summe quantitativer Relationen sich darstellt, ist an sich personal, innerlich, final, so aber. daß die Wirkungen der anderen Faktoren das Resultat beeinflussen. Alle Notwendigkeit, Kausalität, Gesetzlichkeit ist für den Pantelismus direkt oder indirekt eine Funktion, bzw. ein Niederschlag teleologischen Wirkens, so daß das Mechanische etwas Sekundäres, Abgeleitetes ist (ähnlich u.a. schon Eisler). Alles Geschehen ist teleo-mechanisch. »Die Person wirkt als Ganzes auf ihre Teile, zum Zwecke des Ganzen.« Das Geschehen ist (wie nach Leibniz) »vergangenheitsgesättigt und zukunftsbedeutsam zugleich«, es ist zielstrebig. Der »teleo-mechanische Parallelismus« besagt: »Was von oben, d.h. vom Standpunkt des Ganzen aus persönlich ist, ist von unten, d.h. vom Standpunkt der Teile aus sächlich.« Es gibt also zu jeder personalen Eigenart ein mechanisches Äquivalent und alles Mechanische hat eine teleologische Bedeutung. Den Naturgesetzen liegen. »Selbsterhaltungen« der Personen zugrunde. Das Gesetz der Erhaltung der Energie ist eine Ausstrahlung der »Selbsterhaltung der Allperson«. Der Übergang »latenter« Personen in aktuelle (die »Aktualisation« von Personen) hat ihr Gegenstück in dem umgekehrten Prozeß der »Mechanisation«.

Schriften: Die Analogie im volkstümlichen Denken, 1893. – Psychologie der Veränderungsauffassung, 1898. – Ideen zu einer Psychologie der individuellen Differenzen, 1900. – Die psychol. Arbeit des 19. Jahrhunderts, 1900. – Zur Psychologie der Aussage, 1902. – Die Aussage als geistige Leistung u. als Verhörsprodukt, 1903. – Helen Keller, 1905. – Person u. Sache II, 1906. – Die Kindersprache (mit Clara Stern), 1907. – Erinnerung und Aussage in der ersten Kindheit (mit C. S.), 1908, u.a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 714-715.
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