Thiele, Günther

[748] Thiele, Günther, geb. 1841 in Rohnstedt, 1882 Prof. in Königsberg und (seit 1898) Dozent in Berlin, gest. 1911.

T. ist ein von Kant, Hegel, Lotze beeinflußter Vertreter des spekulativen Theismus. Die Erkenntnis faßt er als Verarbeitung des Empfindungsmaterials durch das Denken auf, welches in fortschreitenden apriorischen Synthesen alles vereinigt. A priori bedeutet also soviel wie: durch die Gesetzmäßigkeit des Denkens, durch das Wesen des Erkenntnisvermögens bedingt. Aus der synthetischen Funktion des Geistes entspringen die Anschauungsformen (Raum und Zeit), welche vom absoluten Weltgrunde abhängig, also objektiv bedingt sind, und die Kategorien. Diesen ist das »Nach-außen-sich-beziehen« wesentlich, sie »meinen« etwas außer sich, beziehen sich auf Anderes[748] und sind objektiv begründet. Das Ich ist kein Denken, sondern »Selbstgefühl«, das »reine Sich-selbst-fühlen der Seele«, das Sichselbstwollen derselben, Identität vom Wissen und realem Sein. Im Fühlen weiß die Seele unmittelbar von sich, hat sie ihr »unwandelbares, beharrliches, stets mit sich identisches Selbst« gesichert. Die Seele ist eine immaterielle Substanz, welche unsterblich ist. In den Funktionen des Ichs manifestiert sich das reine, überzeitliche Ich, welches die Unsterblichkeit der Seele verbürgt, die in jenem ihren Lebensinhalt haben wird. Dem überzeitlichen Ich kommt Wahlfreiheit und Wille zur Freiheit zu, der selbst dem Satze vom Grunde untergeordnet ist. – Außen- und Innenwelt sind als solche Erscheinungen, denen aber einfache, beharrliche Substanzen, die in Wechselwirkung miteinander stehen, zugrunde liegen (Monadologischer Standpunkt). Die Dinge sind in Gott zur Einheit vereinigt (Panentheismus). Gott selbst ist absoluter Weltgrund, überzeitliches, absolutes Selbstbewußtsein, das absolute Ich, welches die Welt einschließt und überragt und in welchem der mechanische Kausalzusammenhang des Geschehens zugleich ein einheitlicher Zweckzusammenhang ist.

Schriften: Wie sind die synthet. Urteile der Mathematik a priori möglich? 1869. – Kants intellektuelle Anschauung als Grundbegriff seines Kritizismus, 1876. – Grundriß der Logik u. Metaphysik, 1878. – Die Philosophie Kants, 1882-87. – Philosophie des Selbstbewußtseins, 1895 (Hauptwerk). – Kosmogonie u. Religion, 1898. – Philos. Streifzüge an deutschen Hochschulen I: J. Bergmanns objektiver Idealismus 1904. – Vgl. H. SCHWARZ, Erkenntnistheoretisches aus der Religionsphilosophie T.s, Vierteljahrsschr. f. wissenschaftl. Philosophie, 21. Bd.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 748-749.
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