Zehntes Kapitel
Kaiser Wilhelm II.

[602] Der Kaiser hat in seiner natürlichen Veranlagung von den Eigenschaften seiner Vorfahren eine gewisse Mannigfaltigkeit zur Mitgift erhalten. Von unserm ersten Könige hat er die Prachtliebe, die Neigung zu einem durch das Kostüm gehobnen Hofceremoniell bei feierlichen Gelegenheiten, verbunden mit einer lebhaften Empfänglichkeit für geschickte Anerkennung. Die Selbstherrlichkeit der Zeiten Friedrichs I. ist in ihrer praktischen Erscheinung durch den Lauf der Zeiten wesentlich modificirt; aber wenn es heut innerhalb der gesetzlichen Möglichkeiten läge, so würde mir, glaube ich, als Abschluß meiner politischen Laufbahn das Geschick[602] des Grafen Eberhard Danckelmann nicht erspart geblieben sein. Ich würde angesichts der Kürze der Lebensdauer, auf die ich in meinem Alter überhaupt noch zu rechnen habe, einem dramatischen Abschlusse meiner politischen Laufbahn nicht aus dem Wege gegangen sein und auch diese Ironie des Schicksals mit heitrer Ergebung in Gottes Willen ertragen haben. Den Sinn für Humor habe ich auch in den ernstesten Lagen des Lebens niemals verloren.

Gleiche erbliche Anklänge zeigt der Kaiser an Friedrich Wilhelm I., zuerst in der Aeußerlichkeit der Vorliebe für »lange Kerls«. Wenn man die Flügeladjutanten des Kaisers unter das Maß stellt, so findet man fast lauter Offiziere von ungewöhnlicher Körperlänge, um 6 Fuß herum und darüber. Es ist vorgekommen, daß sich an dem Hoflager im Marmorpalais ein unbekannter, hochgewachsener Offizier meldete, Zulaß zu Sr. M. verlangte und auf Befragen erklärte, er sei zum Flügeladjutanten ernannt, eine Angabe, die erst nach Rückfrage bei Sr. M. Glauben fand. Der neue Flügeladjutant überragte an Körperlänge seine Kameraden, welche er bei seinem Erscheinen im Palais nicht ohne Schwierigkeit von seiner Berechtigung überzeugt hatte.

Ausgeprägter noch ist die Vererbung der Neigung Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II. zu selbstherrlicher Leitung der Regierungsgeschäfte1 und der Glaube an die Berechtigung des hoc volo, sic jubeo2. Aber jene übten die Selbstherrlichkeit, wie es der Tendenz ihrer Zeit entsprach, ohne Rücksicht darauf, ob sie durch die Art, wie sie regierten, Beifall erwarben oder nicht. Es läßt sich kaum ermitteln, ob die Zeitgenossen Friedrich Wilhelms I. ihm die Anerkennung gezollt haben wie die Nachwelt, daß er in seinen gewaltthätigen Eingreifen frei gewesen ist von der Rücksicht auf das Urtheil Anderer, wie sein Vater sie nahm. Heute steht das Urtheil der Geschichte fest, daß ihm salus publica und nicht Anerkennung seiner Person suprema lex gewesen ist.[603]

Friedrich der Große hat sein Blut nicht fortgepflanzt; seine Stellung in unserer Vorgeschichte muß aber auf jeden seiner Nachfolger wirken als eine Aufforderung, ihm ähnlich zu werden. Ihm waren zwei einander fördernde Begabungen eigen, des Feldherrn und eines hausbackenen, bürgerlichen Verständnisses für die Interessen seiner Unterthanen. Ohne die erste würde er nicht in der Lage gewesen sein, die zweite dauernd zu bethätigen, und ohne die zweite würde sein militärischer Erfolg ihm die Anerkennung der Nachwelt nicht in dem Maße erworben haben, wie es der Fall ist – obschon man von den europäischen Völkern im Allgemeinen sagen kann, daß diejenigen Könige als die volkstümlichsten und beliebtesten gelten, welche ihrem Lande die blutigsten Lorbeern gewonnen, zuweilen auch wieder verscherzt haben. Karl XII. hat seine Schweden eigensinnig dem Niedergange ihrer Machtstellung entgegen geführt, und dennoch findet man sein Bild in den schwedischen Bauernhäusern als Symbol des schwedischen Ruhmes häufiger als das Gustav Adolfs. Friedliebende, zivilistische Volksbeglückung wirkt auf die christlichen Nationen Europas in der Regel nicht so werbend, so begeisternd wie die Bereitwilligkeit, Blut und Vermögen der Unterthanen auf dem Schlachtfelde siegreich zu verwenden. Ludwig XIV. und Napoleon, deren Kriege die Nation ruinirten und mit wenig Erfolg abschlossen, sind der Stolz der Franzosen geblieben, und die bürgerlichen Verdienste anderer Monarchen und Regierungen treten gegen sie in den Hintergrund. Wenn ich mir die Geschichte der europäischen Völker vergegenwärtige, so finde ich kein Beispiel, daß eine ehrliche und hingebende Pflege des friedlichen Gedeihens der Völker für das Gefühl der letzteren eine stärkere Anziehungskraft gehabt hätte als kriegerischer Ruhm, gewonnene Schlachten und Eroberungen selbst widerstrebender Landstriche.

Im Gegensatz gegen seinen Vater hatte Friedrich II. unter dem Einfluß der veränderten Zeiten und seines Verkehrs mit ausländischen Schöngeistern ein Beifallsbedürfniß, das sich früh im Kleinen verrieth. In seinem Briefwechsel mit dem Grafen Seckendorff sucht er diesem alten Sünder durch Excesse auf dem geschlechtlichen Gebiet und daraus folgende Krankheiten zu imponiren, und seinen Aufbruch nach Schlesien gleich nach dem Regierungsantritt bezeichnet er selbst als das Ergebniß seines Verlangens nach Ruhm. Er versandte Gedichte aus dem Felde mit der Unterschrift: »Pas trop mal pour la veille d'une grande bataille«. Aber das Verlangen nach Beifall, love of approbation, ist in einem Monarchen eine mächtige[604] und mitunter nützliche Triebfeder; fehlt dieselbe, so verfällt er leichter als ein anderer in genußsüchtige Unthätigkeit; un petit roy d'Yvetot, se levant tard, se couchant tôt, dormant fort bien sans gloire, ist auch kein Glück für sein Land.

Hätte die Welt den »großen« Friedrich, hätte sie den helden-müthigen Einsatz Wilhelms I. erlebt, wenn beide ohne Beifallsbedürfniß gewesen wären? Die Eitelkeit an sich ist eine Hypothek, welche von der Leistungsfähigkeit des Mannes, auf dem sie lastet, in Abzug gebracht werden muß, um den Reinertrag darzustellen, der als brauchbares Ergebniß seiner Begabung übrig bleibt. Bei Friedrich II. waren Geist und Muth so groß, daß sie durch keine Selbstüberschätzung entwerthet werden konnten und daß man Uebertreibungen seines Selbstvertrauens, wie bei Colin und Kunersdorf, bei der Vergewaltigung des Kammergerichts in dem Arnold'schen Prozesse und bei der Mißhandlung Trenck's, ohne Schaden für das Gesammturtheil in den Kauf nimmt. Bei Wilhelm I. war das Bewußtsein als preußischer Offizier und als preußischer König sehr lebhaft, aber die edlen Eigenschaften seines Herzens, die Zuverlässigkeit und Gradheit seines Charakters waren groß genug, um die Belastung zu ertragen, um so mehr, als sein Bedürfniß nach Anerkennung frei von Selbstüberschätzung, im Gegentheil seine vornehme Bescheidenheit ebenso groß wie sein Pflichtgefühl und seine Tapferkeit war. Das versöhnende Element für alle Schärfen in Charakter und Haltung unsrer früheren Könige lag in ihrem herzlichen und ehrlichen Wohlwollen für ihre Unterthanen und Diener, in ihrer Treue gegen Beide.

Die Gewohnheit Friedrichs des Großen, in die Ressorts seiner Minister und Behörden und in die Lebensverhältnisse seiner Unterthanen einzugreifen, schwebt Sr. M. zeitweise als Muster vor. Die Neigung zu Randbemerkungen in dessen Stile, verfügender oder kritisirender Natur, war während meiner Amtszeit so lebhaft, daß dienstliche Unbequemlichkeit daraus entstand, weil der drastische Inhalt und Ausdruck dazu nöthigte, die betreffenden Actenstücke streng zu secretiren. Vorstellungen, welche ich darüber an S.M. richtete, fanden keine gnädige Aufnahme, hatten indessen doch die Folge, daß die Marginalien nicht mehr auf den Rand unentbehrlicher Actenstücke geschrieben, sondern denselben angeklebt wurden. Die weniger complicirte Verfassung und der geringere Umfang Preußens gestatteten Friedrich dem Großen eine leichtere Uebersicht der Gesammtlage des Staates im Innern und nach außen, so daß für einen Monarchen von seiner geschäftlichen Erfahrung,[605] seiner Neigung zu gründlichster Arbeit und seinem klaren Blicke die Praxis kurzer Randbescheide im Kabinetsdienste weniger Schwierigkeit darbot als in den heutigen Verhältnissen. Die Geduld, mit welcher er sich vor definitiven Entscheidungen über Rechts- und Sachfragen unterrichtete, die Gutachten competenter und sachkundiger Geschäftsleute hörte, gab seinen Marginalien ihre geschäftliche Autorität.

An dem Erbe Friedrich Wilhelms II. ist Kaiser Wilhelm II. nach zwei Richtungen hin nicht unbetheiligt. Die eine ist die starke sexuelle Entwicklung, die andre eine gewisse Empfänglichkeit für mystische Einflüsse. Auf welche Weise der Kaiser sich über den Willen Gottes vergewissert, in dessen Dienst er seine Thätigkeit stellt, darüber wird kaum ein klassisches Zeugniß beizubringen sein. Die Andeutungen in dem Phantasiestück King and Minister: A Midnight Conversation3 von einem »Buch der Gelübde« und den Miniatürbildern der drei großen Vorfahren geben keine Klarheit.

Mit Friedrich Wilhelm III. finde ich keine Aehnlichkeit in der Erscheinung Wilhelms II. Jener war schweigsam, schüchtern, offnen Schaustellungen und Popularitätsbestrebungen abgeneigt. Ich erinnere mich, daß er bei einer Revue in Stargard zu Anfang der dreißiger Jahre über die Ovationen, mit welchen man sein Behagen inmitten seiner pommerschen Unterthanen störte, in dem Momente, als man ihm »Heil Dir im Siegerkranz«, untermischt mit Hurrahschreien, auf kurze Entfernung in das Gesicht sang, in eine Verstimmung gerieht, deren lauter und energischer Ausdruck die Sänger sofort verstummen ließ. Wilhelm I. hatte Antheil an diesem väterlichen Erbe selbstbewußter Bescheidenheit und wurde empfindlich berührt, wenn die ihm dargebrachte Huldigung die Grenzen des guten Geschmackes überschritt. Schmeicheleien à brûle pourpoint machten ihn verstimmt; sein Entgegenkommen für jeden Ausdruck sympathischer Treue erkaltete momentan unter dem Eindruck der Uebertreibung und des Streberthums.

Mit Friedrich Wilhelm IV. hat der regierende Kaiser die Gabe der Beredsamkeit und das Bedürfniß gemein, sich ihrer öfter als geboten zu bedienen. Auch ihm fließen die Worte leicht zu; in der Wahl derselben war aber sein Großoheim vorsichtiger, vielleicht auch arbeitsamer und wissenschaftlicher. Für den Großneffen ist der Stenograph nicht immer zulässig, an den Reden Friedrich Wilhelm's IV. dagegen läßt sich selten eine sprachliche Kritik anbringen.[606]

Dieselben sind ein beredter und mitunter dichterischer Ausdruck der Gedanken, welche jene Zeit in Bewegung zu setzen im Stande waren, wenn die entsprechenden Thaten gefolgt wären. Ich erinnere mich sehr wohl der Begeisterung, welche die Krönungsrede und Auslassungen des Königs bei anderen öffentlichen Gelegenheiten (»Alaaf Köln«) erregten. Wenn ihnen thatkräftige Entschließungen in demselben schwunghaften Sinne gefolgt wären, so hätten sie schon damals eine gewaltige Wirkung hervorbringen können, um so mehr als man in Betreff politischer Gemüthsbewegungen noch nicht abgestumpft war. In den Jahren 1841 und 1842 war mit weniger Mitteln mehr zu erreichen als 1849. Darüber läßt sich unparteiich urtheilen, nachdem das damals Wünschenswerthe erreicht ist und im nationalen Sinne das Bedürfniß von 1840 nicht mehr vorliegt, im Gegentheil. Le mieux est l'ennemi du bien ist eins der durchschlagendsten Sprichwörter, gegen welches zu sündigen die Deutschen theoretisch mehr Neigung haben als andre Völker. Mit Friedrich Wilhelm IV. hat Wilhelm II. darin eine Aehnlichkeit, daß die Grundlage ihrer Politik in der Vorstellung wurzelt, daß der König, und er allein, den Willen Gottes näher kenne als Andre, nach demselben regiere und deshalb vertrauensvollen Gehorsam verlange, ohne sein Ziel mit den Unterthanen zu discutiren oder denselben kundzugeben. Friedrich Wilhelm IV. hatte an dieser seiner bevorzugten Stellung zu Gott keinen Zweifel; sein ehrlicher Glaube entsprach dem Bilde von dem Hohenpriester der Juden, der allein hinter den Vorhang tritt.

In gewissen Beziehungen sucht man vergebens nach Analogien zwischen Wilhelm II. und seinen nächsten drei Ascendenten; Eigenschaften, welche Grundzüge in den Charakteren Friedrich Wilhelms III., Wilhelms I. und Friedrichs III. bildeten, treten bei dem jungen Herrn nicht in den Vordergrund. Ein gewisses schüchternes Mißtrauen in die eigne Leistungsfähigkeit hat in der vierten Generation einem Maße von zuversichtlichem Selbstvertrauen Platz gemacht, wie wir es seit Friedrich dem Großen nicht auf dem Throne gesehn haben, doch nur bei dem regierenden Herrn. Sein Bruder, Prinz Heinrich, scheint das gleiche Mißtrauen in eigne Kräfte und die gleiche innerliche Bescheidenheit zu haben, die man trotz allem olympischen Bewußtsein bei näherer Bekanntschaft in den Kaisern Friedrich und Wilhelm I. zum Grunde liegend fand. Bei dem Letzteren gehörte das starke und gläubige Gottvertrauen dazu, um bei der bescheidenen und vor Gott und Menschen demüthigen Auffassung[607] der eignen Persönlichkeit die Festigkeit der Entschlüsse zu gewähren, welche er in der Confliktszeit an den Tag gelegt hat. Beide Herren versöhnten durch ihre Herzensgüte und ihre ehrliche Wahrheitsliebe mit gelegentlichen Abweichungen von der landläufigen Einschätzung der praktischen Wirkungen Königlicher Geburt und Salbung.

Wenn ich mir ein Bild des jetzigen Kaisers nach Abschluß meiner Beziehungen zu seinem Dienste zu machen suche, so finde ich in ihm Eigenschaften seiner Vorfahren in einer Weise verkörpert, die für meine Anhänglichkeit eine starke Anziehungskraft haben würden, wenn sie durch das Prinzip einer Gegenseitigkeit zwischen Monarch und Unterthanen, zwischen Herrn und Diener belebt wären. Das germanische Lehnrecht gibt dem Vasallen außer dem Besitz des Gegenstandes wenig Anspruch, aber doch den auf Gegenseitigkeit der Treue zwischen ihm und dem Lehnsherrn; Verletzung derselben von der einen wie von der andern Seite heißt Felonie. Wilhelm I., sein Sohn und seine Vorfahren besaßen das entsprechende Gefühl in hohem Maße, und dasselbe ist die wesentliche Basis der Anhänglichkeit des preußischen Volkes an seinen Monarchen, was psychologisch erklärlich ist, denn die Neigung, einseitig zu lieben, liegt nicht als dauernde Triebkraft in der menschlichen Seele. Kaiser Wilhelm II. gegenüber habe ich mich des Eindrucks einseitiger Liebe nicht erwehren können. Das Gefühl, welches die festeste Grundlage der Verfassung des preußischen Heeres ist, das Gefühl, daß der Soldat den Offizier, aber auch der Offizier den Soldaten niemals im Stiche läßt, ein Gefühl, welchem Wilhelm I. seinen Dienern gegenüber bis zur Uebertreibung nachlebte, ist in der Auffassung des jungen Herrn bisher nicht in dem Maße erkennbar; der Anspruch auf unbedingte Hingebung, auf Vertrauen und unerschütterliche Treue ist in ihm gesteigert, eine Neigung, dafür seinerseits Vertrauen und Sicherheit zu gewähren, hat sich bisher nicht bethätigt. Die Leichtigkeit, mit welcher er bewährte Diener, auch solche, die er bis dahin als persönliche Freunde behandelt hat, ohne Klarstellung der Motive, von sich scheidet, fördert nicht, sondern schwächt den Geist des Vertrauens, wie er seit Generationen in den Dienern der Könige von Preußen gewaltet hat.

Mit dem Uebergange von hohenzollern'schem Geiste auf coburg-englische Auffassungen geht ein Imponderabile verloren, welches schwer zu ersetzen sein wird. Wilhelm I. schützte und deckte seine Diener, auch wenn sie unglücklich oder ungeschickt[608] waren, vielleicht über das Maß des Nützlichen hinaus, und hatte in Folge dessen Diener, die ihm über das Maß des für sie Nützlichen hinaus anhingen. Sein warmherziges Wohlwollen für Andere überhaupt wurde unzerstörbar, wenn seine Dankbarkeit für geleistete Dienste dazu trat. Es lag ihm stets fern, den eignen Willen als alleinige Richtschnur und Verletzungen der Gefühle Anderer als gleichgültig anzusehen. Seine Formen Untergebnen gegenüber blieben stets die eines wohlwollenden hohen Herrn und milderten Verstimmungen, die geschäftlich vorkamen. Hetzereien und Verleumdungen, die sein Ohr erreichten, glitten an seiner vornehmen Geradheit ab, und Streber, deren einziges Verdienst in der Schamlosigkeit von Schmeichelei besteht, hatten bei Wilhelm I. keine Aussicht auf Erfolg. Für Hintertreppen-Einflüsse und Verhetzungen gegen seine Diener war er nicht zugänglich, selbst wenn sie von den ihm nächststehenden hochgestellten Personen ausgingen, und trat er in Erwägung des ihm Mitgeteilten ein, so geschah das in offner Besprechung mit dem Betheiligten, hinter dessen Rücken es hatte wirken sollen. Wenn er andrer Meinung war wie ich, so sprach er sich offen gegen mich aus, discutirte die Frage mit mir, und wenn es mir nicht gelang, ihn für meine Ansicht zu gewinnen, so fügte ich mich wo möglich und war es mir nicht möglich, vertagte ich die Sache oder ließ sie definitiv fallen. Meine Unabhängigkeit in Leitung der Politik ist von meinen Freunden ehrlich, von meinen Gegnern tendenziös überschätzt worden, weil ich auf Wünsche, denen der König dauernd und aus eigener Ueberzeugung Widerstand entgegen setzte, verzichtete, ohne sie bis zum Conflict zu vertreten. Ich nahm auf Abschlag, was erreichbar war, und zum strike meinerseits kam es nur in Fällen, wo wie in der Reichsglockenfrage durch die Kaiserin und in der Usedom'schen durch maurerische Einwirkungen mein persönliches Ehrgefühl in Mitleidenschaft gezogen wurde; ich bin weder Höfling noch Maurer gewesen.

4Der Kaiser zeigt das Bestreben, durch Konzessionen an seine Feinde die Unterstützung seiner Freunde entbehrlich zu machen. Auch sein Großvater machte bei Antritt der Regentschaft den Versuch, die allgemeine Zufriedenheit seiner Unterthanen zu gewinnen, ohne deren Gehorsam zu verlieren und so die staatliche Sicherheit zu gefährden; aber nach vierjähriger Erfahrung erkannte er die Irrthümer seiner Rathgeber und seiner Gemahlin, welche annahmen, daß Gegner der Monarchie liberale Konsessionen in Freunde[609] und Stützen derselben verwandelt werden würden. Er war dann 1862 eher geneigt, abzudanken als dem parlamentarischen Liberalismus weiter nachzugeben, und nahm gestützt auf die latenten, aber schließlich stärkeren treuen Elemente den Kampf auf.

Der Kaiser hat, in seiner christlichen, aber in den Dingen dieser Welt nicht immer erfolgreichen Tendenz der Versöhnung, mit dem schlimmsten Feinde, der Socialdemokratie, den Anfang gemacht. Dieser erste Irrthum, der sich in der Behandlung der Streiks von 1889 verkörperte, hat zu gesteigerten Ansprüchen der Socialisten und neuen Verstimmungen des Monarchen geführt, sobald sich heraus stellte, daß unter dem neuen Regimente ebenso wie unter dem alten der beste monarchische Wille nicht die Macht hat, die Natur der Dinge und des Menschengeschlechtes umzuwandeln. Der Kaiser war ohne eigne Erfahrung auf dem Gebiete menschlicher Leidenschaften und Begehrlichkeiten; daß er aber das frühere Vertrauen zu dem Urtheil und der Erfahrung Anderer verloren hatte, war ein Ergebnis von Intriguen, durch welche er in der Unterschätzung der Schwierigkeit des Regierens bestärkt wurde nicht nur von unberufenen Rathgebern wie Hinzpeter, Berlepsch, Heyden, Douglas und anderen unverfrorenen Schmeichlern, sondern auch von strebsamen Generälen und Adjutanten, von Collegen, auf deren Unterstützung ich angewiesen war, wie Boetticher, der ein anderes Ressort als das, mich zu unterstützen, als Minister nicht hatte, sogar von einzelnen meiner Räthe, die gleich dem Präsidenten von Berlepsch sich gern und heimlich hergaben, wenn der Kaiser sie mit Umgehung ihrer Vorgesetzten befragte. Vielleicht wird er der Socialdemokratie gegenüber bei derselben Enttäuschung anlangen wie sein Großvater 1862 gegenüber der Fortschrittspartei.

Dieselbe Politik des Entgegenkommens, um nicht zu sagen Nachlaufens, ist mit dem Zentrum angenommen worden, mit Windthorst, den nur gesprochen zu haben der Kaiser zu einem der äußerlichen Anlässe des Bruches mit mir nahm und dessen amtliche Ehrung nach meiner Entlassung bis zur Apotheose nach seinem Tode gesteigert wurde – ein wunderlicher »Preußischer« Heiliger. Es ist zu befürchten, daß auch diese begünstigte Stütze der Monarchie eine weichende sein wird in Momenten, wo man ihrer bedarf. Jedenfalls wird die volle Befriedigung der Bundesgenossen, welche die preußische Monarchie und das evangelische Kaiserthum bei dem Centrum und dem Jesuitenorden finden könnte, sich als ebenso unerreichbar erweisen wie die der Socialisten, und[610] es wird sich im Falle der Gefahr und Noth um analoge Ergebnisse handeln, wie bei dem Verfall des Deutschen Ordens in Preußen den Söldnern gegenüber Statt fanden, welche der Orden nicht bezahlen konnte. Die Neigung des Kaisers, antimonarchische und auch antipreußische Kräfte wie die Polen in den Dienst der Krone zu stellen, gibt Sr. M. momentan Mittel zum Druck auf Parteien und Fractionen, welche prinzipiell treu zu den monarchischen Traditionen halten. Die Drohung, daß er, wenn ihm nicht unbedingt gehorcht werde, sich weiter nach links wenden werde, daß er die Sozialisten, die Krypto-Republikaner der freisinnigen Partei, die ultramontanen Kräfte an das Ruder bringen könne, kurz das »Acheronta movebo«, welches sich in dem Nachlaufen hinter unversöhnlichen Gegnern kennzeichnet, schüchtert die hergebrachten Stützen der monarchischen Gewalt ein, Sie fürchten, »es könnte noch schlimmer werden«, und der Kaiser ist ihnen gegenüber heut in der Lage eines Schiffscapitäns, dessen Leitung bei der Mannschaft Besorgniß erregt, der aber mit brennender Cigarre über der Pulvertonne sitzt.

Auch dem Auslande, dem befreundeten, dem feindseligen, dem zweifelhaften gegenüber sind die Liebenswürdigkeiten weiter gegangen, als mit der Vorstellung verträglich, daß wir uns vermöge eigner Schwerkraft sicher fühlten. Es gab eben niemanden, weder in dem Auswärtigen Amte, noch am Hofe, der mit der internationalen Psychologie hinreichend vertraut war, um die Wirkungen des diesseitigen Verfahrens in der Politik richtig zu berechnen; weder der Kaiser noch Caprivi noch Marschall waren durch ihr Vorleben dazu vorbereitet, und das politische Ehrgefühl der Rathgeber der Krone war befriedigt durch des Kaisers Unterschrift, unabhängig vom Erfolge für das Reich.

Die Versuche, die Liebe der Franzosen zu gewinnen (Meissonnier), in deren Hintergrunde der Gedanke eines Besuchs in Paris schlummern mochte, die Bereitwilligkeit, die Grenzmauer der Vogesen wieder gangbar zu machen, haben kein anderes Ergebniß gehabt, als daß die Franzosen dreister und der Statthalter ängstlicher wurden. Die dem russischen Monarchen persönlich unbequeme Anmeldung des Kaisers im Herbst 1889 zu einem zweiten, 1890 ausgeführten Besuche hatte unerfreuliche Ergebnisse. Nicht richtiger erscheint mir das Verhalten England und Oesterreich gegenüber. Anstatt bei ihnen die Vorstellung zu nähren, daß wir schlimmsten Falls auch ohne sie nicht verloren sind, ist ihnen gegenüber ein System der Trinkgelder gehandhabt worden, dessen[611] Kosten bei uns schwer empfunden werden und das uns als hülfsbedürftig erscheinen läßt, während beide unserer Hülfe mehr bedürfen als wir der ihrigen. England könnte bei der Mangelhaftigkeit seiner Landstreitkräfte, wenn es von Frankreich oder von Rußland in Indien und im Orient bedroht würde, gegen jede dieser Bedrohungen Deckung finden im Beistande Deutschlands. Wenn man aber bei uns mehr Gewicht auf die Freundschaft Englands legt als England auf die unserige, so wird damit die Selbstüberschätzung Englands uns gegenüber und die Ueberzeugung, daß wir uns geehrt fühlen, wenn wir ohne Gegenleistung für englische Zwecke ins Feuer gehn können, befestigt. Noch zweifelloser ist in unseren Beziehungen zu Oesterreich die größere Bedürfnißlosigkeit auf unserer Seite und nicht abzusehn, weshalb wir bei den Begegnungen in Schlesien den ohnehin sichern Besitz unserer gegenseitigen Anlehnung durch das Versprechen wirthschaftlicher Konzessionen zu erkaufen oder zu befestigen ein Bedürfniß gehabt hätten. Die Redensart, daß Verschmelzung der wirthschaftlichen Interessen, das heißt Begünstigung der österreichischen auf Kosten der deutschen, eine nothwendige Folge unserer politischen Intimität sei, ist mir zehn Jahre lang in wechselnden Formen von Wien her entgegen getreten, und ich bin der darin liegenden Zumuthung ohne schroffe Ablehnung, aber auch ohne ihnen im Geringsten nachzugeben, mit freundlicher Höflichkeit ausgewichen, bis dieselbe in Wien als aussichtslos erkannt und aufgegeben wurde. Aber in Rohnstock scheint zwischen den beiden Kaisern die Zumuthung von österreichischer Seite so geschickt in den Vordergrund geschoben zu sein, daß die natürliche Neigung, dem Gastfreunde angenehm zu sein, diesseitige Zusagen erzeugt haben mag, welche der Kaiser Franz Joseph utiliter acceptirt hat. Bei den folgenden Besprechungen der Minister wird ebenfalls die österreichische routinirte Geschäftsgewandtheit unsern Neulingen und Freihändlern gegenüber im Vortheil gewesen sein. Es mag sein, daß militärisch mein Freund und College Kalnoky meinem Nachfolger nicht gewachsen gewesen wäre, auf dem Felde der wirthschaftlichen Diplomatie aber war er ihm überlegen, obwohl auch von Hause aus nicht Fachmann.

Eine Wandelung in den persönlichen Beziehungen zwischen den Kaisern Wilhelm II. und Alexander III. hat auf die Stimmung des Ersteren zunächst eine Wirkung gehabt, die nicht ohne Besorgniß zu beobachten war.

Im Mai 1884 wurde der Prinz Wilhelm von seinem Großvater nach Rußland geschickt, um den Thronfolger bei erreichter Großjährigkeit[612] zu beglückwünschen. Die nahe Verwandtschaft, die Verehrung des Kaiser Alexander für seinen Großoheim sicherten ihm einen wohlwollenden Empfang und eine auszeichnende Behandlung, an die er damals in eigner Familie noch nicht gewöhnt war; vom Großvater instruirt, trat er vorsichtig und zurückhaltend auf; der Eindruck war auf beiden Seiten befriedigend. Im Sommer 1886 ging der Prinz wieder nach Rußland, um den Kaiser, der in den polnischen Provinzen Revüen abhielt, in Brest-Litowsk zu begrüßen. Hier wurde er noch freundlicher als bei seinem ersten Besuche empfangen und hatte Gelegenheit, Ansichten zu äußern, welche dem Kaiser zusagten, nachdem dessen Bruch mit dem Fürsten Alexander von Bulgarien erfolgt war und der russische Einfluß in Constantinopel mit dem englischen bis zur Spannung zu kämpfen hatte. Der Prinz war in frühster Jugend gegen England und alles Englische eingenommen und gegen die Königin Victoria verstimmt, wollte auch von einer Verbindung seiner Schwester mit dem Battenberger nichts wissen. Potsdamer Offiziere erzählten damals von drastischen Auslassungen anti-englischer Stimmung des Prinzen. Es war ihm natürlich, auf das politische Gespräch, in welches der Kaiser ihn zog, ganz in dessen Sinne einzugehn, vielleicht weiter, als der Zar traute. Der Eindruck, das volle Vertrauen Alexanders III. gewonnen zu haben, war vielleicht nicht zutreffend.

In der Absicht, seine Beziehungen zu dem russischen Kaiser, der auf dem Rückwege von Kopenhagen im November 1887 Berlin berührte, politisch zu verwerthen, fuhr er demselben in der Nacht bis Wittenberge entgegen. Dort schlief der Kaiser noch, und der Prinz bekam ihn erst kurz vor der Ankunft in Berlin und in Gegenwart eines Theiles des Gefolges zu sehen. Nach dem Diner im Palais sagte er zu einem Herrn, indem er mit ihm die Treppe hinabging, es habe sich ihm keine Gelegenheit geboten, mit dem russischen Kaiser zu sprechen. Die Zurückhaltung des Gastes, die wenn nicht schon aus früheren Beobachtungen, so jedenfalls daraus zu erklären war, daß derselbe in Kopenhagen von Wales'scher und welfischer Seite das Unheil erfahren hatte, welches damals in der königlichen Familie in England über den Enkel der Königin herrschte, erzeugte bei dem Prinzen Wilhelm eine natürliche Verstimmung, welche in der Umgebung bemerkt und von unberufenen militärischen Elementen, die damals Krieg gegen Rußland für indicirt hielten, gesteigert und benutzt wurde. Der Generalstab war so von diesem Gedanken erfüllt, daß der Generalquartiermeister Graf Waldersee ihn mit dem österreichischen Botschafter Grafen[613] Szechenyi besprach. Der Letztere berichtete darüber nach Wien, und nicht lange nachher fragte der Kaiser von Rußland den deutschen Botschafter von Schweinitz: »Weshalb hetzen Sie Oesterreich gegen mich?«

Die Argumente, mit denen auf den Prinzen Wilhelm gewirkt worden war, lassen sich in einem Schreiben erkennen, welches er, inzwischen Kronprinz geworden, am 10. Mai 1888 an mich richtete und dessen Inhalt ich dem steigenden Einflusse des Grafen Waldersee zuschreibe, der den Moment für günstig hielt, Krieg zu führen und für den Generalstab verstärkten Einfluß auf die Reichspolitik zu beanspruchen.


»Berlin, 10. Mai 1888


Ew. Durchlaucht

Schreiben vom 9. cr. habe ich mit hohem Interesse gelesen; aus dem Inhalte desselben glaube ich aber entnehmen zu müssen, daß Ew. meinen Randbemerkungen zu dem Wiener Bericht vom 28. April eine übertriebene Bedeutung beilegen und dadurch zu der Auffassung gelangt sind, ich sei zu einem Gegner der bisherigen friedlichen und abwartenden Politik geworden, welche Ew. mit so viel Weisheit und Vorsicht geleitet haben und hoffentlich zum Segen des Vaterlandes noch recht lange leiten werden. Für diese Politik bin ich wiederholt eingetreten – Petersburg, Brest-Litowsk – und habe ich mich in allen entscheidenden Fragen stets, wie bekannt, auf die Seite Ew. gestellt. Welches Ereigniß sollte eingetreten sein, um mich plötzlich anderen Sinnes zu machen? Die von mir gemachten Randbemerkungen, in welchen Ew. eine Aufforderung meinerseits zu einer Modifikation unsrer bisherigen Politik zu erkennen meinen, bezwecken lediglich den Hinweis, daß über die Nothwendigkeit oder Nützlichkeit des Krieges die politischen und militairischen Ansichten – die ich dadurch zu Ihrer Kenntniß zu bringen beabsichtige – auseinander gegangen seien; und daß die letzteren für sich betrachtet nicht ohne Berechtigung wären. Ich glaubte, ein solcher Hinweis würde für Ew. nicht ohne Interesse sein, aber nie zu dem Glauben führen können, ich wollte die Politik den militärischen Wünschen unterordnen.

Um für die Zukunft jeder mißverständlichen Auffassung vorzubeugen und in theilweiser Anerkennung der von Ew. geltend gemachten Gründe werde ich hinfüro jede Randbemerkung auf den politischen Berichten unterlassen, doch werde ich mir vorbehalten, anderweitig Ew. meine Ansichten mit aller Offenheit zur Kenntniß zu bringen.[614]

Bei der Wichtigkeit der von Ew. angeregten Fragen sehe ich mich genöthigt, auf dieselben näher einzugehn.

Ich bin durchaus Ew. Ansicht, daß es uns selbst bei dem glücklichen Verlauf eines Krieges mit Rußland nicht gelingen wird, die Kampfesmittel Rußlands ganz und gar zu zerstören, doch meine ich, daß dieses Land nach einem für dasselbe unglücklichen Kriege in Folge der inneren politischen Mißstände in eine ganz andere Ohnmacht gelangen wird als irgend ein anderer Europäischer Staat incl. Frankreich. Ich erinnere daran, daß Rußland nach dem Krimkriege fast 20 Jahre ohnmächtig war, ehe es soweit sich erholte, daß es im Stande war, 1877 loszuschlagen. Frankreichs Kampfesmittel wurden im Jahre 1871 nicht ausgiebig zerstört, denn unter den Augen, ja mit Hülfe des wohlwollenden siegreichen Gegners konnte eine neue Armee aufgestellt und formiert werden, um die Commune zu besiegen und um das Land vor gänzlichem Untergang zu retten; die in den Händen des Siegers befindlichen Befestigungen von Paris wurden nicht geschleift, nicht einmal völlig deformirt, die Flotte blieb dem nicht vernichteten, sondern nur politisch gedemüthigten Frankreich erhalten. Diese eben angeführten Thatsachen beweisen zur Evidenz, daß wir, weit entfernt den Feind wirklich zu vernichten, den Stamm erhalten haben zu den jetzt uns bedrohenden ungeheuren Kampfesmitteln zu Wasser wie zu Lande seitens der Republik. Das war militärisch betrachtet falsch, politisch betrachtet jedoch völlig nach Lage der Dinge in Europa gegeben und in dem Moment richtig.

Je mehr die Republik nun erstarkte, desto größere Neigung zeigte Rußland – trotz loyalster Haltung und Absichten des Zaren – ohne von Deutschland im geringsten geschädigt worden zu sein, nur den günstigsten Augenblick zu erfassen, um im Bunde mit der Republik über uns herzufallen. Diese drohende Lage entstand und besteht, nicht nach einem gegen Rußland freiwillig von uns geführten Kriege, sondern durch die gemeinschaftlichen Interessen der Panslavisten und des republikanischen Frankreichs, Deutschland als Hort der Monarchie niederzuwerfen.

Zu diesem Zweck verstärkten beide Nationen ihre Kampfesmittel systematisch an den entscheidenden Grenzen, ohne für dieses unqualifizirbare Vorgehn unsererseits irgendwie provozirt zu sein, noch irgend eine haltbare Entschuldigung dafür vorzubringen.

Mit aus diesem Grunde brachte die durch Ew. geleitete weise Politik meines hochseeligen Herrn Großvaters Bündnisse zu Stande, welche sehr dazu beigetragen haben, uns vor Ueberfällen unsres [615] geborenen Erbfeindes im Westen zu bewahren. Auch verstand diese Politik, Rußlands Herrscher zu unseren Gunsten einzunehmen. Dieser Einfluß wird so lange fortbestehn, als der jetzige Zar die Macht, seinen Willen geltend zu machen, wirklich besitzt; geht sie verloren – und es sind viele Anzeichen dafür vorhanden – so ist es sehr wahrscheinlich, daß Rußland sich von unserem geborenen Feind nicht länger wird trennen lassen, um mit ihm den Krieg zu führen, wenn die beiderseitigen Kampfesmittel ihnen entwickelt genug erscheinen, um uns ungestraft zu vernichten.

Unter solchen Umständen wächst der Werth unserer Bundesgenossen; dieselben an uns zu fesseln,5 ohne ihnen einen eingehenden Einfluß auf das Reich einzuräumen, wird die große, ich gebe zu, schwere Aufgabe einer vorsichtigen deutschen Politik sein und bleiben müssen. Es ist aber zu beachten, daß ein Theil dieser Bundesgenossen romanischen Stammes und mit Regierungsmechanismen versehn ist, deren absolute Sicherheit nicht so garantirt ist wie bei uns. Daher auf eine längere Bundesgenossenschaft wohl kaum zu rechnen sein dürfte, und der Krieg, zu dessen Abwehr respect. Führung sie mithelfen sollen, besser früher als später geführt werden muß.

Unsere Feinde werden es an Versuchen aller Art sicher nicht fehlen lassen, uns zu isoliren, die Bundesgenossen uns abwendig zu machen; jeder von uns begangene Fehler, jede Blöße, die sich die deutsche Politik giebt, wird solchen Bestrebungen Vorschub leisten. Zu solchen Fehlern müßte ich irgend eine Protegirung des Battenbergers rechnen; Oesterreich würde in derselben eine Verletzung seiner speciellen Interessen finden, und Rußland würde die Genugthuung haben, uns von unsrem besten Bundesgenossen getrennt zu sehn; auch wissen, daß ein Krieg, der wegen des Battenbergers entstünde, für Deutschland kein volksthümlicher sein kann, bei dem der so nothwendige furor Teutonicus gänzlich fehlen würde.

Rußland würde mit Leichtigkeit Verhältnisse dann zu schaffen vermögen, die den Krieg zur Folge haben müßten; die öffentliche Meinung wird aber sicherlich Deutschland als Urheber desselben bezeichnen. Ich gebe zu, daß die Beschleunigung der Kriegsgefahr damit erreicht wäre, doch um welchen Preis? Sie zu erstreben liegt mir völlig fern. Da der Krieg gegen Westen fortgesetzt in Sicht war und dementsprechend militairische Vorbereitungen getroffen wurden, derselbe auch, wie Ew. hervorheben, im Westen in jeder Hinsicht mehr Vortheile verspricht wie der im Osten, so würden die[616] militairischen Autoritäten der Politik besonders dankbar sein müssen, welche, sobald der Krieg als unvermeidlich erkannt ist, die Führung desselben im Westen wirklich sicherzustellen im Stande wäre.

Aber auch ich bin der Ansicht, daß wir den Krieg nach beiden Seiten haben, wenn wir ihn auf der Ostseite beginnen, Frankreich wird nur in dem Fall nicht losschlagen, wenn es sich in einer inneren, besonders schweren Krisis befindet, oder wenn wieder militairische Schwierigkeiten eintreten sollten, wie sie im vorigen Herbst ziemlich bestimmt bestanden haben (Fehlschlagen der Melinitgeschosse und Unbrauchbarkeit des neuen Gewehrs, niederschmetternder Eindruck der Resultate des Beschießens der Sperrforts bei Jüterbogk). Dagegen ist nicht mit absoluter Sicherheit vorherzusehn, daß, wenn wir mit Frankreich Krieg führen müssen, Rußland sich eo ipso passiv uns gegenüber verhalten wird.

Jederzeit, ganz besonders aber unter Verhältnissen, wie solche im vorigen Herbst bestanden, ist es Pflicht des Großen Generalstabes, die eigene militairische Lage und die der Nachbarn scharf in's Auge zu fassen, sowie die Vortheile und Nachtheile, die sich in militairischer Beziehung bieten können, sorgsam abzuwägen. Die so gewonnene Ansicht, nicht über die zu führende Politik, sondern über die im Dienst derselben und durch deren augenblickliche Lage bedingten militairischen Maßregeln muß durch die Spitze des Generalstabes dem Leiter der Politik mit aller Offenheit und mit Festhalten des militairischen Standpunktes zur Kenntniß gebracht werden. Hierin liegt meines Erachtens eine durchaus erforderliche Hülfe für die Leitung auch der friedliebendsten Politik.

In diesem Sinne möchte ich meine ominösen Randbemerkungen zu dem Bericht vom 28. April aufgefaßt wissen; sie sollten zugleich darauf hinweisen, daß, obgleich die Deutsche Politik in der friedfertigsten Weise geleitet werden mußte, die militairischen Autoritäten Deutschlands und Oesterreichs mit vollstem Recht im Herbst vorigen Jahres auf die günstige militärische Gelegenheit aufmerksam machen mußten, welche sich für ein kriegerisches Vorgehn beider Länder bot.

Trotz meiner so viel Aufregung verursachenden Marginalia möchte ich doch überzeugt sein, daß Ew. mit dem besten Gewissen bei einem etwa erfolgenden Regierungswechsel mit derselben Sicherheit als bisher das friedliche Verhalten der deutschen Politik in Aussicht zu stellen im Stande sein werden.

Wilhelm

Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen.«
[617]

Am 15. Juni 1888 wurde der Kronprinz Kaiser. Gerade eine Woche später erhielt ich indirect Kenntniß von einer Allerhöchsten Auslassung, welche besagte, daß der Kaiser von verschiedenen Artikeln in Berliner Zeitungen auf das unangenehmste berührt sei: es handele sich besonders um »Berliner Tageblatt«, Abendausgabe vom 20. Juni, und Artikel der »Berliner Zeitung« und »Berliner Presse« vom 21. Juni, die geschrieben schienen, um den Glauben zu erwecken, daß ein Zwiespalt zwischen Sr. M. und dem Reichskanzler betreffs des Grafen Waldersee bestände, das heißt daß auch jetzt Frictionen in den maßgebenden Regierungskreisen existirten bzw. im Anzuge wären, wie sie zur Regierungszeit Kaiser Friedrich's wiederholt öffentlich besprochen worden seien; S.M. befürchte, daß die auswärtige Presse jene Artikel commentiren werde, und wünsche deshalb, daß die Regierungspresse unter Richtigstellung der Sachlage gegen die bezeichneten Preßangriffe Stellung nehme. Der Kaiser stehe nach wie vor auf demselben Standpunkt, den er im Monat Mai entwickelt habe: daß er nie dem Grafen Waldersee, trotz seiner Werthschätzung für ihn, einen unberechtigten Einfluß auf die auswärtige Politik einräumen und daß unter Seiner Regierung keine Hofcamarilla existiren werde; vielmehr sei Er überzeugt, daß unter den Leuten, denen Er Sein Vertrauen geschenkt habe, und die Ihm dienten, keine Parteiungen existirten, sondern daß Alle Ihm auf dem Wege folgten, der zu dem von Ihm als richtig erkannten Ziele führe.

Vom 19. bis zum 24. Juli war der Kaiser zum Besuch in Peterhof. Die Eindrücke, welche er dort hinterlassen hat, sind vollständig erst später zu meiner Kenntniß gelangt und Seite 514 erwähnt. Daß er selbst eine Verstimmung in die Politik übertrug, wurde erst im Juni des folgenden Jahres, während ich in Varzin war, in zwei Vorgängen wahrnehmbar.

Der Graf Phillip Eulenburg, Gesandter in Oldenburg, wegen gesellschaftlicher Talente bei Sr. M. in besonderer Gnade stehend und häufig nach Hofe berufen, vertraute meinem Sohne, der Kaiser halte meine Politik für zu »russenfreundlich«; ob mein Sohn oder ich selbst nicht versuchen wollten, durch Entgegenkommen und erläuternde Darlegung die Stimmung Sr. M. zu beseitigen. Mein Sohn fragte, was russenfreundlich heiße? Man solle ihm politische Actionen bezeichnen, die zu russenfreundlich, daß heißt also für unsere Politik nachtheilig seien. Unsere auswärtige Politik sei ein durchdachtes und sorgsam behandeltes Ganzes, welches die amateurs-Politiker und Militärs, die Sr. M. in die Ohren bliesen,[618] nicht übersähen. Wenn S.M. kein Vertrauen habe und sieh durch Intriguanten einnehmen lasse, so solle er doch meinen Sohn und mich in Gottes Namen gehn lassen; er habe nach bestem Gewissen und Vermögen an meiner Politik mitgearbeitet und seine Gesundheit in den unleidlichen Zerrungen, in deren Mittelpunkt er sich stets befände, zugesetzt. Wenn er jetzt noch eine Politik auf »Stimmung« machen solle, so gehe er lieber heut als morgen. Graf Eulenburg, der eine andere Antwort erwartet haben dürfte, lenkte hierauf mit der dringenden Bitte ein, seinen Bemerkungen keine weitere Folge zu geben: er habe sich wohl ungeschickt ausgedrückt.

Einige Tage später, während der Schah von Persien in Berlin zum Besuche war, ertheilte der Kaiser meinem Sohne die Weisung, es müsse in der Presse gegen die neue russische Anleihe geschrieben werden; er wolle nicht, daß noch mehr deutsches Geld für russische Papiere nach Rußland ginge, welches letztere damit nur seine Kriegsrüstungen bezahle. Einer seiner hohen Militärs – wie im Laufe desselben Tags constatirt wurde, der Kriegsminister General von Verdy – habe ihn eben auf diese Gefahr aufmerksam gemacht. Mein Sohn erwiderte, so läge die Sache nicht; es handle sich nur um eine Conversion früherer russischer Anleihen, also um die beste Gelegenheit für deutsche Inhaber, baares Geld zu nehmen und russische Papiere los zu werden, die im Kriegsfalle vielleicht keine Zinsen nach Deutschland zahlen würden. Die Russen wollten den Profit machen, für eine bestimmte Anleihe in Zukunft ein Procent weniger zu zahlen; der Geldmarkt sei dafür günstig, die Sache daher nicht zu hintertreiben. Die Franzosen würden die russischen Papiere nehmen, welche bei uns abgestoßen würden, das Geschäft würde in Paris gemacht. S.M. bestand darauf, es müsse in der deutschen Presse gegen diese russische Finanzoperation geschrieben werden, er habe sich einen Rath des Auswärtigen Amts bestellt, um ihn entsprechend anzuweisen. Mein Sohn sagte, wenn es ihm nicht gelungen sei, Se. Majestät von der Sachlage zu unterrichten, so bitte er, Sich von dem Finanzminister Vortrag halten zu lassen; offiziöse Artikel könnten in dem Sinne nicht geschrieben werden, ohne den Reichskanzler zu hören, weil sie die Gesammtpolitik beeinflussen würden. S.M. bestimmte darauf, mein Sohn solle mir eindringlich schreiben, er wünsche eine Preßcampagne gegen die russische Finanzoperation, und ließ dem Vertreter des gerade abwesenden Finanzministers durch einen Adjutanten sagen, das Aeltesten-Collegium der Börse müsse angewiesen werden, die Anleihe zu inhibiren.[619]

Ich selbst erhielt einige Monate später eine Probe von der Stimmung Sr. M. durch einen Vorgang, der Seite 488 nicht zu übergehn war und behufs Festhaltung des Zusammenhanges hier zu wiederholen ist. Als der Besuch des Zaren im October 1889 in Berlin zum Abschluß gekommen war und ich mit dem Kaiser von dem Lehrter Bahnhofe, wohin wir den nach Ludwigslust abreisenden Zaren begleitet hatten, zurückfuhr, erzählte er, er habe in Hubertusstock sich auf den Bock des Pürschwagens gesetzt, dem Gaste das ganze Jagdvergnügen überlassend, und schloß mit den Worten: »Nun loben Sie mich doch!« Nachdem ich dieser Aufforderung genügt hatte, fuhr er fort, er habe mehr gethan, er habe sich bei dem russischen Kaiser auf längeren Besuch angemeldet, den er zum Theil in Spala mit ihm zuzubringen denke. Ich erlaubte mir Zweifel, ob das dem Kaiser Alexander willkommen sein werde: derselbe liebe Ruhe, Zurückgezogenheit und das Leben mit Frau und Kindern; Spala sei ein zu kleines Jagdschloß und nicht auf Besuche eingerichtet. Ich erwog dabei in Gedanken, daß die beiden hohen Herren zu einem sehr engen Verkehr miteinander genöthigt sein würden und in den durch eine so lange Zeit hinzuspinnenden Unterhaltungen die Gefahr liegen könnte, empfindliche Punkte zu berühren.

Ich nahm mir vor, zu thun, was ich konnte, um diesen Besuch zu verhindern. Die Verschiedenheit der Charaktere und Denkweisen der beiden Monarchen war vielleicht keinem Zeitgenossen so bekannt wir mir, und diese Bekanntschaft ließ mich befürchten, daß ein längeres Beisammensein ohne jede geschäftsmäßige Kontrolle zu Frictionen, zur Abneigung und Verstimmung führen könne, und daß letztre beim Zaren schon durch die längere Störung seiner Einsamkeit gegeben sei, wenn er auch die Ankündigung des Besuchs seines Wirthes natürlich mit Höflichkeit entgegengenommen hatte. Im Interesse des Einvernehmens beider Cabinette hielt ich es für bedenklich, die mißtrauische Defensive des Zaren mit der aggressiven Liebenswürdigkeit unseres Herrn ohne Noth in enge und lange Berührung zu bringen, und um so mehr, als durch die Anmeldung ein Vorschuß an Zuthunlichkeit gewährt wurde, welcher der russischen Politik gegenüber kaum und der mißtrauischen Einschätzung des Kaisers Alexander gegenüber noch weniger angebracht war. Wie begründet meine Besorgnisse waren, zeigte sich in den Seite 514 erwähnten geheimen Berichten aus Petersburg, die, auch angenommen, daß sie übertrieben oder gefälscht waren, doch mit Kenntniß der Situation geschrieben sein mußten.[620]

Der Kaiser war von meinem Bedenken, wo er Anerkennung erwartet hatte, unangenehm berührt und setzte mich vor meiner Wohnung ab, anstatt in dieselbe einzutreten und über Geschäfte weiter mit mir zu sprechen.

Der Besuch, den der Kaiser dem Zaren vom 17. bis 23. August 1890 in Narva und Peterhof abstattete, führte zu der von mir befürchteten Verstärkung der persönlichen Verstimmung.

Auf Narva folgte die Begegnung in Rohnstock und der Handelsvertrag mit Oestreich, die Wendung Sr. M. zu England war schon seit dem Besuche in Osborne Anfang August 1889 von englischer Seite mit geschickter Berechnung betrieben worden und hatte den Vertrag über Sansibar und Helgoland herbeigeführt. Die Uniform des Admiral of the fleet kann als das Symbol eines Abschnitts in der auswärtigen Politik des Reiches angesehn werden.

1

Ich erinnere mich, daß ich beim Abgange nach Petersburg auf meine Kritik über die Unfähigkeit sämmtlicher Minister des Regenten die ungnädige Antwort erhielt: »Halten Sie mich etwa für eine Schlafmütze?« Worauf ich erwiderte, daß schon ein Preußischer Landrath heut zu Tage seinen Kreis weder gern noch gut ohne einen brauchbaren Kreissecretär verwalten würde, die Monarchie aber aus der Möglichkeit der Cabinetsregierung längst herausgewachsen sei. Schon Friedrich der Große habe sich gehütet, unfähige Minister zu seinen Werkzeugen zu wählen.

2

Iuvenalis Satirae, Sat. VI, versus 220–224:

Pone crucem servo; meruit quo crimine servus

Supplicium? quis testis adest, quis detulit? audi,

Nulla unquam de morte hominis cunctatio longa est.

O demens, ita servus homo est? nil fecerit, esto.

Hoc volo, sic jubeo, sit pro ratione voluntas.

3

Contemporary Review, April 1890, pag. 457.

4

Dictirt 4. März 1891.

5

In diesen Worten liegt wohl der Keim der Handelsverträge von 1891.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 602-621.
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