II

[305] Am 12. Juli fand in dem Marschquartier Czernahora Kriegsrath oder, wie die Militärs die Sache genannt haben wollen, Generalsvortrag Statt – ich behalte der Kürze und des allgemeinen Verständnisses wegen den ersteren auch von Roon1 gebrauchten Ausdruck bei, obwohl der Feldmarschall Moltke in einem dem Professor von Treitschke am 9. Mai 1881 übergebenen Aufsatze bemerkt hat, daß in beiden Kriegen niemals Kriegsrath gehalten worden sei. Zu diesen unter dem Vorsitz des Königs gehaltenen Berathungen, die anfangs regelmäßig, später in größeren Abständen Statt fanden, wurde ich 1866 zugezogen, wenn ich erreichbar war. An jenem Tage handelte es sich um die Richtung des weiteren Vorgehens gegen Wien; ich war verspätet zur Besprechung erschienen, und der König orientirte mich, daß es sich darum handle, die Befestigungen der Floridsdorfer Linien zu überwältigen, um nach Wien zu gelangen, daß dazu nach der Beschaffenheit der Werke schweres Geschütz aus Magdeburg herbeigeführt werden müsse2 und daß dazu eine Transportzeit von 14 Tagen erforderlich sei. Nachdem Bresche gelegt, sollten die Werke gestürmt werden, wofür ein muthmaßlicher Verlust von 2000 Mann veranschlagt wurde. Der König verlangte meine Meinung über die Frage. Mein erster Eindruck war, daß wir 14 Tage nicht verlieren durften, ohne die Gefahr mindestens der französischen Einmischung sehr viel näher zu rücken, als sie ohnehin lag. Die Situation war ähnlich wie 1870 vor Paris. Ich machte meine Besorgniß geltend und sagte: »Vierzehn Tage abwartender Pause können wir nicht verlieren, ohne das Schwergewicht des französischen Arbitriums gefährlich zu verstärken.« Ich stellte die Frage, ob wir überhaupt die Floridsdorfer Befestigungen stürmen müßten, ob wir sie nicht umgehen könnten. Mit einer Viertelschwenkung links könnte die Richtung[305] auf Preßburg genommen und die Donau dort mit leichterer Mühe überschritten werden. Entweder würden die Oesterreicher dann den Kampf in ungünstiger Lage mit Front nach Osten südlich der Donau aufnehmen oder vorher auf Ungarn ausweichen; dann sei Wien ohne Schwertstreich zu nehmen. Der König ließ sich eine Karte reichen und sprach sich zu Gunsten dieses Vorschlags aus; die Ausführung wurde, wie mir schien widerstrebend, in Angriff genommen, aber sie geschah.

Nach dem Generalstabswerke, S. 522, erging erst unter dem 19. Juli folgender Erlaß des Großen Hauptquartiers:

»Es ist die Absicht Sr. M. des Königs, die Armee in einer Stellung hinter dem Rußbach zu concentriren. In dieser Stellung soll die Armee zunächst in der Lage sein, einem Angriff entgegen zu treten, welchen der Feind mit etwa 150000 Mann von Floridsdorf aus zu unternehmen vermöchte; demnächst soll sie aus derselben entweder die Floridsdorfer Verschanzungen recognosciren und angreifen oder aber, unter Zurücklassung eines Observationscorps gegen Wien, möglichst schnell nach Preßburg abmarschiren können. – Beide Armeen schieben ihre Vortruppen und Recognoscirungen in der Richtung auf Wolkersdorf und Deutsch-Wagram vor. Gleichzeitig mit diesem Vorrücken soll der Versuch gemacht werden, Preßburg durch überraschenden Angriff zu nehmen und den eventuellen Donauübergang daselbst zu sichern.«

Mir kam es für unsre späteren Beziehungen zu Oesterreich darauf an, kränkende Erinnerungen nach Möglichkeit zu verhüten, wenn es sich ohne Beeinträchtigung unsrer deutschen Politik thun ließ. Der siegreiche Einzug des preußischen Heeres in die feindliche Hauptstadt wäre für unsre Militärs natürlich eine befriedigende Erinnerung gewesen, für unsre Politik war es kein Bedürfniß; in dem österreichischen Selbstgefühl hätte er gleich jeder Abtretung alten Besitzes an uns eine Verletzung hinterlassen, welche, ohne für uns ein zwingendes Bedürfniß zu sein, die Schwierigkeit unsrer künftigen gegenseitigen Beziehungen unnöthig gesteigert haben würde. Es war mir schon damals nicht zweifelhaft, daß wir die Errungenschaften des Feldzugs in ferneren Kriegen zu vertheidigen haben würden, wie Friedrich der Große die Ergebnisse seiner beiden ersten schlesischen Kriege in dem schärferen Feuer des siebenjährigen. Daß ein französischer Krieg auf den österreichischen folgen werde, lag in der historischen Consequenz, selbst dann, wenn wir dem Kaiser Napoleon die kleinen Spesen, die er für seine Neutralität von uns erwartete, hätten bewilligen können. Auch nach[306] russischer Seite hin konnte man zweifeln, welche Wirkung eintreten werde, wenn man sich dort klar machte, welche Erstarkung für uns in der nationalen Entwicklung Deutschlands lag. Wie sich die späteren Kriege um die Behauptung des Gewonnenen gestalten würden, war nicht vorauszusehen; in allen Fällen aber war es von hoher Wichtigkeit, ob die Stimmung, welche wir bei unsern Gegnern hinterließen, unversöhnlich, die Wunden, die wir ihnen und ihrem Selbstgefühl geschlagen, unheilbar sein würden. In dieser Erwägung lag für mich ein politischer Grund, einen triumphirenden Einzug in Wien, nach Napoleonischer Art, eher zu verhüten als herbeizuführen. In Lagen, wie die unsrige damals, ist es politisch geboten, sich nach einem Siege nicht zu fragen, wie viel man dem Gegner abdrücken kann, sondern nur zu erstreben, was politisches Bedürfniß ist. Die Verstimmung, welche mein Verhalten mir in militärischen Kreisen eintrug, habe ich als die Wirkung einer militärischen Ressortpolitik betrachtet, der ich den entscheidenden Einfluß auf die Staatspolitik und deren Zukunft nicht einräumen konnte.

1

In dem Briefe an seine Gemahlin vom 2. Februar 1871.

2

In dem Werke des Generalstabs heißt es S. 484 unter dem 14. Juli: »Nach Dresden wurde an den Obersten Mertens telegraphiert, 50 dorthin dirigirte (also wohl noch nicht eingetroffene) schwere Geschütze so bereit zu halten, daß sie, sobald es befohlen würde, ohne Zeitverlust auf der Eisenbahn abgesandt werden könnten. Die Eisenbahn jenseits Lundenburg war zerstört: der General von Hindersin wurde daher beauftragt, an dem genannten Orte einen Park von Transportmitteln zusammen zu bringen.«

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 307.
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