V. Die wissenschaftliche Forschung

[379] Die allgemeine Bildung des griechischen Mannes bestand darin, daß er in gewissen Normalgegenständen (ἐγκύκλια παιδεύματα), nämlich im Lesen und Schreiben, in der Musik und in der Gymnastik316 unterrichtet wurde, wozu dann etwa in der Zeit Alexanders an vielen Orten noch das Zeichnen kommen mochte317. Welchen Wert man ihr beilegte, geht z.B. daraus hervor, daß abgefallenen Untertanen als schwerste Strafe das Verbot soll auferlegt worden sein, ihre Kinder unterrichten zu lassen318; von berühmten Männern, wie Plato, wurden die Namen der drei Lehrer aufbewahrt319; daß aber in der frühern Zeit der Staat über die Qualifikation dieser Leute eine Aufsicht geübt hätte, erfährt man nicht320. Im ganzen[379] verließ sich die Polis auf die Bildung der Bürger, die durch das Leben kommt.

Mit der Elementarbildung mochten sich nach einem Worte Aristipps321 manche begnügen wie die Freier Penelopes mit den Mägden; der höherstrebende Teil der Nation aber begehrte mehr, und als nun die Philosophie den Mythus an allen Orten durchbrochen hatte, war sie für ihn sofort auch die Trägerin aller möglichen Wissenschaften. Vor allem betrachtete sie die Geometrie als ihre Vorstufe, aber auch (höhere) musikalische und astronomische Kenntnisse gehörten dahin, und Xenokrates z.B. wies einen, der bei ihm hören wollte und nichts von diesen Dingen verstand, mit der Bemerkung ab: du hast keine Handhaben (λαβὰς) für die Philosophie322. Auch tat dieselbe in alle sonstigen Künste, Gewerbe usw. ihre Blicke, um sich beständig auf eine Welt von konkreten Anschauungen beziehen zu können, wie dies schon das ständige Zitieren von Beispielen aus allen Lebenssphären und Tätigkeiten lehrt; besonders aber schuf sie Wissenschaften, insofern sie große Zweige des Wissens und Könnens durch ihre Einmischung systematisierte, sie ihren Ideen untertan machte. So entsteht durch ihre Einmischung in das Staatswesen die Politik, durch die in die Poesie, mit welcher (wie mit der Musik) die Philosophen sich massenhaft beschäftigten, die Poetik; auch ihre eigene Geschichte schafft sie, indem sie ihre Entwicklung schildert; unzählige Titelzitate bei Diogenes von Laerte lehren, in welche Menge von Dingen und Lebensbeziehungen sie sich eindrängte, oft vielleicht mit bloßer populärer Besprechung, ohne besondere spekulative Grundlage, dann aber auch wieder, indem sie auf den tiefsten Grund der Dinge zu kommen sucht; dazu kommen geschichtliche, mythologische, antiquarische Abhandlungen aller Art, so daß man beim Lesen dieser Titel nie weiß, wo die Philosophie aufhörte und das Spezialwissen an fing323; nur von den[380] bildenden Künsten wurde, wie wir früher gesehen324, fast gar nicht gehandelt; es ist dies, bei Lichte besehen, ein großes Glück für dieselben gewesen. – Eine Ausnahme aber macht doch auch in dieser Beziehung der erste ganz große Gelehrte: Demokrit von Abdera, der 460 v. Chr. geboren, über hundertjährig 357 gestorben sein soll325. Wieweit er in seiner Forschung durch seine Reisen gefördert wurde, die ihn wirklich oder angeblich nach Ägypten, Persien, ans Erythräische Meer, sogar bis zu den indischen Gymnosophisten führten, lassen wir unentschieden; jedenfalls war er Schüler der verschiedensten Lehrer, auch der Pythagoreer. Nachdem er sein Vermögen teils weggeschenkt, teils auf Reisen ausgegeben, widmete er sich – wie es scheint, ohne zu dozieren – in tiefer Zurückgezogenheit der Forschung und betätigte dabei seine wunderbare Gabe, Physisches zu »erraten« und auch Zukünftiges zuweissagen, womit er seinen Mitbürgern den Eindruck einer »übermenschlichen Weisheit« machte326. Er war ein wahrer Polyhistor und vielleicht von allen Griechen der Zeit um 400 v. Chr. derjenige mit dem weitesten Gesichtskreis und der größten geistigen Macht; seine Schriften aber waren u.a. der große und der kleine Diakosmos, ein besonderes Buch über Pythagoras, die Werke über das Wohlsein (εὐϑυμία), d.h. sein von der Lust verschiedenes ethisches Prinzip327, und über die Dinge im Hades, eine Kosmographie, eine Uranographie, eine Schrift über die Planeten, Schriften über Anthropologisches, Physiologisches, Mathematisches, über Wasser- und Sonnenuhren, über den Magnet, über Medizinisches und Diätetisches, über die Rhythmen und die Harmonie, über poetische Schönheit, über die Dichtkunst, dann wieder über den Landbau, ein Traktat über Taktik und Fechtkunst, Schriften über die Forschung überhaupt, über die heiligen Aufzeichnungen in Babylon und die in Meroë, ein Buch über die Chaldäer und eines über die Phryger, und zu diesen allen kommt nun noch seine Schrift über die Malerei, und daß er irgendwo über die Kunst des Wölbens geschrieben haben muß328.

[381] Nun mag man ja trotzdem immerhin zugeben: nicht das Wissen ist die starke Seite der Griechen gewesen, sondern ihre Poesie und Kunst, mit denen wir vollkommen zufrieden sein könnten, wenn wir auch nichts anderes von ihnen hätten. Priestertümer sammeln massenhafter, disziplinierter und richtiger als freie Individuen, und die exakte Wissenschaft wird daher dem Orient vielleicht noch mehr »Resultate« verdanken. Dafür aber hat das Wissen der Orientalen innerliche Grenzen, das der Griechen nicht. Diesen war eine allgemeine Teilnahme für alles Geistige erlaubt; indem sie das Wissen und den geistig freien Gebrauch des Wissens vereinigten, forschten sie in einer Zeit weiter, da der Priesterstand in Ägypten und Babylonien vielleicht schon längst stationär war und mit seinen Forschungen abgeschlossen hatte, und so sind schließlich doch sie es gewesen, die den spätern Zeiten die Köpfe aufgetan haben.329 Ihr Verdienst erscheint uns aber von negativer Seite her besonders gewaltig, wenn wir die Hindernisse erwägen, die ihnen im Wege standen. Vergessen wir die Konkurrenz nicht, welche die Forschung an dem alles umwogenden Mythus, an der Redekunst und an der spekulativen Philosophie selbst hatte. Sodann aber waren auch die Opfer, welche der griechische Gelehrte zu bringen hatte, überaus zahlreich und setzten einen äußerst festen moralischen Willen voraus. Erst in den Diadochenlanden entstanden gesicherte Positionen für die Forschung; vorher mußte jeder Forscher selbst sammeln, was ohne die größte Entsagung nicht möglich war; diese Leute arbeiteten ungeheuer und waren dabei arm, im besten Falle vom Staate nicht bemerkt, ohne Verlagsrechte, Honorare usw. Auch ihrer Reisen, soweit sie erwiesen sind, ist hier zu gedenken. Ganz gewiß wurden auch sie unter Armut und vielen Gefahren gemacht; aber um Kunden und Anschauungen zu gewinnen. Wissende aufzusuchen, auch wohl, um zu lehren, wo man sich noch auf griechischem Boden befand, wagte man sie. An der Tatsächlichkeit weiter Reisen des Pythagoras zweifelt denn auch niemand mehr, Xenophanes sagt, daß er siebenundsechzig Jahre die Welt durchstreift habe, Demokrit, daß er von allen Menschen seiner Zeit das meiste Land durchirrt, die meisten Luftstriche und Länder gesehen, die meisten unterrichteten Männer gehört, bei den Weisen in Ägypten fünf Jahre in der Fremde gewesen sei. Von Plato ist es sicher, daß er nach dem Tode des Sokrates Athen verlassen hat und erst in seinem vierzigsten Jahre daselbst wieder aufgetaucht ist. Auch er war u.a. in Ägypten, und ebenso war es später Eudoxos von Knidos. Man wird von diesen Reisenden vielleicht annehmen können, daß sie in den fremden Ländern besonders angesiedelte Hellenen sahen; aber sie konnten lernen, weil sie nicht die hochmütige Ignoranz und den abgeschmackten[382] Rassenhaß des Orientalen hatten, der diesen verhindert haben würde, mit allen Leuten zu verkehren.

Um die Ehrwürdigkeit des hellenischen Forschens inne zu werden, mögen wir auch des Mangels an bleibenden öffentlichen Depositis des Wissens gedenken. Es fehlten die Bibliotheken sehr lange, und Jahrhunderte hindurch war der einzelne Forscher gezwungen, die für ihn notwendige Literatur selbst zu sammeln und oft auch selbst abzuschreiben, bis die Philosophenschulen und die diadochischen Fürsten hierin Hilfe schafften. Sodann fehlte der gleichmäßige Ausbau der Wissenschaft. Wohl hat man angenommen, Meister wie Plato und Aristoteles hätten nach einem einheitlichen, großen Plane die verschiedenen Gebiete durchforschen, Materialien sammeln, Aufgaben bearbeiten lassen, für jede Arbeit die geeignete Kraft zu ermitteln gewußt, die größten Mathematiker hätten sich um Plato gedrängt, und Aristoteles im Lykeion habe das weitere Forschen einem Theophrast und Dikäarch gleichsam vermacht330. Man möchte dies gerne glauben; indes scheint uns bis zu einem strengen Beweise noch manches zu fehlen. Im ganzen forschte doch jeder auf eigene Faust weiter, und Schüler und Lehrer fanden sich zusammen, wie das Schicksal sie zusammengeführt hatte. Von einer Transmission und Ubiquität des Wissens, wie sie heutzutage, durch den Bücherdruck ermöglicht, jedes Resultat zum Eigentum jedermanns macht, konnte keine Rede sein. Auch ergab sich dadurch, daß man voneinander nichts wußte, tatsächlich viele vergebliche Arbeit. Manche Dinge wurden mehrmals entdeckt, was nach der heutigen Theorie Kraftverschwendung ist; nur läßt sich dem entgegenhalten, daß es damals um soviel mehr Glückliche gegeben hat; denn allein der, welcher eine Sache selbst findet, ist glücklich. Immerhin aber konnte so das Große wieder verschüttet werden und der Mythus sich an Stelle des Wissens wieder eindrängen, und dies hatte seinen Grund hauptsächlich darin, daß die Polis keine Notiz vom Unterricht nahm331. Während wir im modernen Staate den Konnex von Schule halten, Examen halten und Beamte anstellen haben, und während auch im Mittelalter zwar nicht der Staat, aber von oben bis unten überall die Kirche Schule hielt, war damals kein Bürger genötigt, irgend eine Quote von Wissen vorzuweisen; denn eine Beamtenkarriere im modernen Sinne existierte nicht; die als etwas Hohes geltenden Ämter für die wesentlichen[383] Verrichtungen im Staate waren von kurzer Dauer, die eine dauernde Tätigkeit verlangenden Anstellungen aber als etwas Banausisches mehr oder weniger verachtet. So hielt denn keine Polis durch abgestufte Schulen ein gesetzliches Maß von Kenntnissen oben, und dies änderte sich auch in der Diadochen- und Kaiserzeit kaum; nur für die gesicherte Aufbewahrung des Wissens wurde besser gesorgt.

Was nun die Kunde vom Weltsystem und der Natur betrifft, so ist es, wie schon gesagt, keine Frage, daß Ägypter, Babylonier und Assyrier viel früher gesammelt und viel reichere Kenntnisse von Tatsachen besessen haben als die Griechen; sie hatten hiezu bevorzugte und wohldotierte Kasten und Priesterschaften, die sich aus dem systematischen Zusammenstellen von Beobachtungen einen Lebensberuf machten. Sie konnten das Verhältnis der Mondläufe zu den Sonnenläufen berechnen und ein richtiges Kalenderwesen herstellen, sie konnten die Geometrie bei sich so entwickeln, daß es möglich wurde, Landkarten herzustellen; sie konnten durch das einfach geniale babylonische System, wonach ein Kubus von einer Elle in den verschiedenen Dimensionen zugleich die Basis für das Gewicht ist, Längenmaß, kubisches Maß und Gewicht in einen gesetzlichen Zusammenhang bringen; Ägypten hatte durch die Mumifizierung der Leichen den großen Vorzug, allen andern Völkern in der Anatomie voran zu sein, und schuf ein System der Medizin, das wesentlich richtige Prinzipien hat. Groß müssen die Kenntnisse in den angewandten Wissenschaften: der Chemie, Metallurgie, Statik, Mechanik usw. gewesen sein. – Nun wollen wir gar nicht leugnen, daß die Griechen von diesen Völkern manches direkt oder indirekt überkommen haben; man tut ihnen damit kein Unrecht, wenn man nicht, wie eine frühere Zeit es glaubte tun zu sollen, alles aus ihnen selbst entwickelt: dazu hat man ja vorangegangene Völker, um auf ihren Schultern zu stehen. Aber fragen wir ein wenig weiter: Enthält irgendein Papyrus aus Ägypten oder ein Täfelchen aus Babylon Wahrheiten wie der Satz Anaximanders: »Die Erde ist ein Körper, der frei im unendlichen Raum (ἄπειρον) schwebt«; oder der des Anaximenes: »Die Gestirne gehen nicht über der Erde hin, sondern rings um dieselbe«; oder der des Diogenes von Apollonia: »Es sind viele Welten entstanden durch Verdichtung und Verdünnung der Luft«? Mögen diese Weltkonstruktionen der Ionier aus Prinzipien an sich auch nur ein schwaches Erraten gewesen sein; bedeutend und bezeichnend ist eben, daß sie überhaupt so etwas wagten. – Und nun kommt bei den Pythagoreern des V. Jahrhunderts die größte Lehre, welche die Abschaffung der geozentrischen Vorstellung mit sich bringt: »Die Erde liegt nicht in der Mitte des Weltsystems, sie ist ein Weltkörper wie viele andere und nicht einmal einer der bevorzugten; die Mitte nimmt vielmehr das Zentralfeuer ein, dem die bewohnten Gegenden der Erde abgekehrt,[384] Sonne und Mond zugekehrt sind.« Und es folgt Platos Schüler Heraklides Pontikus, der zwar die Erde wieder in die Mitte der Welt rückt, aber die täglichen Bewegungen der Gestirne durch eine Drehung der Erde um ihre Achse erklärt332 und auch erkannt haben soll, daß die Venus um die Sonne kreise. Endlich um 260 v. Chr. lehrte Aristarch von Samos wenigstens hypothetisch, die Sonne ruhe still und die Erde umkreise sie »durch« Achsendrehung, und Seleukos, der Babylonier, behauptet bereits, der heliozentrische Weltbau lasse sich beweisen333. Damit war doch diejenige dem täglichen Augenschein abzuringende Entdeckung κατ᾽ ἐξοχήν, die wir das kopernikanische System nennen, in ihren Grundzügen bereits gewonnen. Solange, bis uns bewiesen wird, daß Ägypten oder das Zweistromland hievon eine Ahnung gehabt hat, sind die Griechen für uns das geniale Volk, das jene Gabe der Kombination gehabt hat, welche weiter führt als Wissen und Anhäufen von Tatsachen.

Aber keine Macht schützte das einmal errungene Wissen: neben jenem allem entstand und behauptete sich, besonders durch die Autorität des großen Aristoteles, der freilich die vollständige Lehre des Aristarch und Seleukos auch nicht erlebt hat, ungefähr dasjenige geozentrische System, welches später das ptolemäische hieß. Danach schwebt die Erde in der Mitte konzentrischer Hohlkugeln, welche sich mit Sonne, Mond, Planeten und Fixsternen um sie herumbewegen. Dieses System hat das Mittelalter beherrschen können; im Altertum aber hat auch es nicht vermocht, die alten populären Irrtümer zu beseitigen. Trotz der Gradmessung des Eratosthenes hielten noch spät die meisten, und auch viele Gebildete, die Erde für eine längliche Scheibe, die auf dem Ozean schwimme334. Wenn aber geschrieben steht, daß eine einmal entdeckte Wahrheit nicht mehr kann verloren gehen, so erfüllt sich dies auch. Indem er auf zerstreute pythagoreische Winke horchte, hat Kopernikus am Anfang des XVI. Jahrhunderts einer ganzen kirchlichen Anschauung zu Trotz sein heliozentrisches System aufstellen können.

[385] Da wir hier Aristoteles auf seiten der wissenschaftlichen Reaktion gefunden haben, möge überhaupt der Klagen gedacht werden, die in neuerer Zeit über ihn erhoben werden. Man tadelt an ihm Liebe zur Breite und behauptet, er sei ungleich, indem er bald die allergrößte Empirie, bald eine einfache, oberflächliche Art, das Einzelne aus dem Allgemeinen zu entwickeln, an den Tag lege. So wirft ihm z.B. Schopenhauer Mangel an Tiefsinn vor und findet, er habe die Lebhaftigkeit der Oberflächlichkeit. Solchen Vorwürfen gegenüber möge man vor allem die nötigen Unterschiede beobachten, indem man seine völlig systematisch ausgearbeiteten Werke und die Kollektaneen, nachgeschriebenen Hefte und Exzerpte anderer auseinanderhält. Ein riesiges Kollektaneenheft sind z.B. die Problemata335, wo er über tausend Fragen, besonders aus dem naturwissenschaftlichen, naturgeographischen, physiologischen, doch auch aus dem ethischen und psychologischen Gebiete aufwirft, und sein »Warum?« Jedesmal mit einem oder mehreren »Weil«, meistens nur in dubitativem Sinne, ja in Gestalt von neuen Fragen provisorisch beantwortet. Weil er einstweilen nur für sich schreibt, nimmt er es leicht und kommt häufig mit einem »Warum?« wo er sich mit einem »Ob« hätte begnügen müssen, ganz wie sein Nachahmer Tassoni. Aber neben den flüchtigen finden sich äußerst tiefsinnige Bemerkungen, und ganz erstaunlich ist, wie ihm alles zum Problem wird. Wir möchten gerne wissen, ob schon frühere Philosophen ähnliche Sammlungen von lauter teils selbst, teils durch andere gemachten Beobachtungen zur Beantwortung angelegt haben. Auch kommen eine ganze Anzahl Stellen vor, welche ohne ein leichtes Experiment, d.h. ohne Hervorlockung des sonst nicht sichtbaren Phänomens durch irgendeine Veranstaltung, nicht denkbar sind336. – Ähnlich wird es sich mit denjenigen Bestandteilen der Schrift de mirabilibus auscultationibus verhalten, welche noch von Aristoteles sind337. Dieselbe enthält eine Masse von Unmöglichkeiten, neben relativ nicht vielem Wahren, führt aber jede Nachricht mit einem »Es heißt« ein und scheint[386] uns auf ein großes Notizenheft zurückzugehen, – worin der Verfasser ohne jede Ordnung alles eintrug, was ihm von Naturtatsachen aus der Fremde durch irgendwelche Erzähler berichtet wurde. Dafür konnte er nichts, daß diese oder ihre Gewährsmänner alle miteinander mythisch gesinnt oder auch Lügner waren; er notierte die Dinge eben vorläufig und kam dann nicht mehr dazu, etwas daraus zu machen338.

Und nun muß man sagen: Wenn Aristoteles alle Zweige der Wissenschaft empirisch so hätte durcharbeiten müssen wie die Rhetorik und die zoologischen Werke, so wäre dazu eine ganze Reihe von Lebensläufen nötig gewesen; er aber verfügte nur über einen, und diesen hat er wohl ausgefüllt. Vor allem hat er die Tatsachen der Natur und der Geschichte vielseitiger und eindringender als irgendein Philosoph vor ihm erforscht. Sein Unterbau war die Kenntnis der Leistungen seiner Vorgänger auf allen Gebieten, der Sophisten und Philosophen sowohl als der Dichter, und hiezu diente ihm seine berühmte Bibliothek339. Von Philipp und Alexander erhielt er dann aber auch jene königlichen Mittel340, die ihm seine ausgedehnte Forschung über die Tierwelt ermöglichten, wodurch er in seinen zoologischen Schriften so unvergleichlich reich an positiven Kenntnissen erscheint341. So ist er der Lehrer der wissenschaftlichen Zoologie und der wissenschaftlichen Botanik und der Schöpfer der vergleichenden Anatomie geworden. Und daneben besitzt er das enorme politische und historische Wissen, wovon seine Politik Zeugnis ablegt342, ist er ferner der Vater der Logik, durch den die Menschheit zum Bewußtsein der reinen Formen und der Tätigkeit des abstrakten Verstandes gekommen ist, ist er durch seine Poetik der Schöpfer der Theorie der Dichtkunst und hat er mit seiner Rhetorik als Lehrer der Redekunst gleichsam eine zweite Existenz. Zu diesem allen kommt noch seine Kunde und Kritik der frühern philosophischen Systeme und seine Metaphysik, die, wenn er in ihr auch nur Bedingtes mag geleistet haben, doch wenigstens[387] der frühste Versuch ist. Der Bau, den er ausgeführt hat, ist unter allen Umständen ein riesiger; er ist und bleibt trotz seiner reaktionären Stellung in der Wissenschaft vom Weltgebäude, wie Dante sagt, »der Vater derer, die etwas wissen«.

Nun wollen wir nicht leugnen, daß bei den Griechen ein wirklicher Undank gegen solche Meister geherrscht hat und daß die Verdunkelung des durch Demokrit und Aristoteles Gewonnenen bei Spätern in bedenklichem Grade eingetreten ist. Nach des letztern meisterhaften zoologischen Schriften konnte noch im II. nachchristlichen Jahrhundert ein Werk wie die historia animalium des Älian entstehen, wo der Wahn in großen Wellen daherrauscht, freilich nicht, ohne daß zwischenhinein immer wieder wichtige und bedeutende Beobachtungen vorgebracht werden343. Auch Pausanias konnte sich, noch dazu im Gefühl, eine richtige Mitte innezuhalten344, einbilden, Flüsse könnten weit unter dem Meere hindurchfließen, um dann wieder als Quellen zum Vorschein zu kommen345,[388] das Styxwasser sei tödlich und nur in einem Pferdehuf aufzubewahren; die stymphalidischen Vögel, die in Arabien noch lebten, zerbissen Erz und Eisen, es gebe Tritone usw., und eine ganze Reihe von andern Autoren zeigt sich von nicht minderm Wahnglauben befangen346. Der Mythus, in welchem sich die Naturfabel, beiläufig gesagt, bisweilen höchst poetisch darstellt347, hatte eben einmal eine allgemeine Fabelliebe für Nähe[389] und Ferne, Altes und Neues, großgezogen, und diese wogte wie ein Meer immer wieder über das schon gewonnene exakte Wissen hin; er selber aber lebte bis in die späteste Zeit weiter und machte, daß das Nachdenken über Ursachen und Wirkungen zu kurz kam. Zu den Phantasiewesen kamen die Phantasievölker und die Fabelländer348. Läßt sich schon Herodot, sobald irgendwo seine Autopsie aufhört, z.B. bei Anlaß von Arabien, mit den dicksten Fabeln berichten, so durften die Gefährten Alexanders mit unerhörten Lügen heimkommen; der Umstand, daß die Weltkunde schon durch die weite Ausdehnung der Kolonien, sobald man wollte, eine sehr große geworden war, schützte nicht davor, wie man ja auch schon innerhalb des täglichen Lebens eine eigentümliche Faulheit an den Tag legte, sich durch das einfachste Experiment aufzuklären.

So wird die moderne Welt sich denn stets über die Leichtgläubigkeit verwundern, welche die Griechen in allem an den Tag legten, was außerhalb des innern Lebens der Menschen und außerhalb (bisweilen aber auch innerhalb)349 des alltäglichsten Wahrnehmungskreises lag, über die Leichtigkeit, mit der sie sich in einen von irgendjemand behaupteten Tatbestand fügten und dabei beruhigten, über ihre mangelhaften Begriffe von der Natur und dem, was in deren Bereich und Willen liegen kann, und über die scheinbar geringe Wirkung ihrer großen Forscher und Entdecker. Sie waren eben, sobald sie wollten, der größten und umfassendsten empirischen Forschung fähig, allein weil, wie oben gesagt, keine Polis in Examenform einen bestimmten Grad des Buchwissens von Schulkindern und später von Beamten verlangte, und weil keine Priesterschaft den Geist der Bevölkerung gegen Wahn und Aberglauben hin abzugrenzen und zu hüten suchte,350 waren sie bei ihrer Art von Bildung[390] niemals genötigt, die Resultate der höhern Forschung oder eine bestimmte Quote von Einzeltatsachen daraus offiziell in sich aufzunehmen, und an diesen Verhältnissen, die später bei den Italienern der Renaissance ganz ähnlich wiedergekehrt sind, änderte auch kein Diadochenzeitalter und keine alexandrinische Schule das mindeste. Denn auch das Museion von Alexandria war keine mit Examinibus verbundene Lehranstalt – und schließlich war auch Rom nichts weniger als ein China. Alle Bildung, welche über Kithar, Gymnastik und Grammatik samt Dichterkunde hinausging, war eine völlig freie und praktische, die man sich auf der Agora, im Gymnasion, im Zuhören bei Gesprächen von Philosophen usw., später auch durch Beteiligung am Staat und im Krieg aneignen mochte; wenn man als Bürger und als Mensch in allen Fällen des Lebens Bescheid wußte, so kam es nicht darauf an, ob man die Erde für eine Kugel oder eine Scheibe hielt, und letzteres zu glauben war keine »Schande«.

Wenn wir bedenken, wie verträglich die heutige Kritik und die Exaktitude in der Darstellung von irgendetwas Neutralem mit Lug und Trug im Handel und Wandel ist, werden wir die positive Lust der Griechen am Fabulieren milder beurteilen. Sie logen gerne, nahmen einander aber auch, wie heutzutage die Jäger, ganz gutmütig die Lügen ab. Und ob die jetzige geschulte und lesende und dadurch von den Fabelwesen und mancherlei Naturschrecken emanzipierte Welt im großen und ganzen wahnfreier ist und nicht praktisch viel gefährlicherem Wähnen nachhängt, dürfte noch zu fragen sein. Wenn aber auch die Erkenntnis der Welt (worunter der neuere Fortschritt eigentlich nur die Natur und nicht auch das Innere der Menschen versteht) sich immer weiter durch alle Menschenklassen und Völker und Rassen verbreiten sollte, so geben ja Hellwald und Hartmann zu, daß damit zugleich das Leiden steige.

Je mehr aber den Griechen das Dafürhalten, das Nichtgrübelnmüssen angenehm351 und der Mythus das Geliebte war, desto größer stehen ihre Forscher da, die dem Wahn aus dem Wege gehen konnten. Welch gewaltiger Ernst muß sie besseelt haben, einen Eudoxos von Knidos z.B. (um 366 v. Chr.), der da wünschte, in der Nähe der Sonne weilend und ihre Gestalt, Größe und Erscheinung ergründend, wenn es sein müßte, zu sterben wie Phaëthon352! Bei solcher Gesinnung brachten sie es trotz allem dazu, daß allmählich eine gewaltige Anhäufung wenigstens schriftlich[391] gesicherten Wissens u.a. auf den Gebieten der Mathematik, Astronomie, Mechanik, Medizin entstand, und noch die Stoiker, welche sonst eine ziemliche Geringschätzung des (geometrischen, physikalischen usw.) Wissens bekundeten, sind dafür die Begründer des traditionellen Systems der Sprachlehre geworden, desselben, welches durch die lateinischen Grammatiker bis zu uns gelangt ist; der Erfinder der meisten grammatischen Kunstausdrücke für Redeteile und Flexion war Chrysipp353. So hat diese Nation mit ihrem offenen Sinn für alles Wissenswerte in der Welt der Erscheinungen am Ende doch das Auge der Welt werden können.[392]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. CCCLXXIX379-CCCXCIII393.
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