Sechstes Kapitel.

Alexander als Feldherr.

[231] Zahllose Schlachten und Treffen zu Wasser und zu Lande haben sich die griechischen Staaten untereinander geliefert: sie haben allesamt, sozusagen, nur negative, zerstörende oder verhindernde Wirkungen gehabt; eine große Herrschaft ist auf diesem Wege nicht begründet worden. Die Niederlage der Athener auf Sizilien, die Seeschlacht von Aigospotamoi lösten die Herrschaft Athens auf, gaben aber Sparta nur eine führende, keine herrschende Stellung. Spartas eigene innere Kraft reichte dazu noch weniger aus, als vorher die Athens. Selbst ein Sieg, wie ihn Agesilaus bei Koronea erfocht, hatte keine wesentlichen positiven Folgen, so wenig wie die Siege des Epaminondas bei Leuktra und Mantinea, weil es den Heeren wie den Staaten an der nachhaltigen Kraft gebrach, die Siege auf dem Schlachtfelde bis zu einer bleibenden Neugestaltung der Dinge zu verfolgen. Immer wieder bewundert man die Weisheit des Perikles, der sich durch alle strotzende Kraft seines Athen nicht zu einer Niederwerfungs- und Eroberungsstrategie verleiten ließ und keine nutzlosen Siege erfechten wollte. Die ungeheuren Erfolge der beiden macedonischen Könige wurden erst möglich, als die Mittel dazu bereitgestellt worden waren. Nicht bloß mit einer Hopliten-Phalanx, sagte Demosthenes den Athenern,118 führe König Philipp seine Kriege, sondern zugleich mit Leichtbewaffneten, Bognern und Reitern. Nicht mehr wie zu den Zeiten der Väter sei es, wo die Spartaner im Sommer vier oder fünf Monate zu Felde lagen, ins Land fielen und im Winter wieder nach Hause gingen. Finde der macedonische König den Gegner nicht in freiem Felde, so schreite[231] er zur Belagerung mit seinen Maschinen. Er gehe, wohin er wolle, und Sommer und Winter seien ihm gleich. Das Berufsheer hatte, das ist die Summe des Ganzen, das Bürgerheer abgelöst. In der stetigen Arbeit eines Menschenalters, Schritt für Schritt vordringend, hatte König Philipp seinem Sohn eine Herrschaft erworben und hinterlassen, die das Größte ins Auge zu fassen erlaubte, und mit der Größe der Mittel, der extensiven wie intensiven Steigerung der kriegerischen Kraft hatte die Kriegführung selber ihr Antlitz verwandelt und andere Formen angenommen. Alexander siegte nicht bloß auf dem Schlachtfeld, sondern er nutzte den Sieg auch aus. Die unmittelbare Verfolgung zerstörte die feindliche Streitmacht; die strategisch-politische Kombination brachte die Länder in seine Gewalt, die als Basis für neue Feldzüge dienten. Die Verfolgungsritte der macedonischen Kavallerie, die Märsche durch Gebirge und Wüsten119 waren nicht geringere militärische Leistungen als die Schlachten selber und die Niederwerfung der Festungsmauern. Auf der Verfolgung nach Gaugamela fielen eine Menge Pferde vor Ermattung.

Alexander war nicht nur ein großer Feldherr, sondern auch ein Feldherr in großem Stil. Aber er war noch mehr.

Er nimmt dadurch eine einzigartige Stellung ein, daß er den welterobernden Strategen und den unübertroffenen tapferen ritterlichen Vorkämpfer in einer Person vereinigt. Kunstvoll führt er das Heer an den Feind heran, überwindet Gelände-Hindernisse, läßt es aus Engpässen aufmarschieren, kombiniert die verschiedenen[232] Waffen je nach den verschiedenen Umständen verschieden zu stärkster Gesamtwirkung, sichert strategisch seine Basis und seine Verbindungen, sorgt für die Verpflegung, wartet ab, bis die Vorbereitungen und Rüstungen vollendet sind, stürmt vorwärts, verfolgt nach dem Siege bis zur äußersten Erschöpfung der Kräfte – und derselbe Mann kämpft in jedem Gefecht an der Spitze seiner Ritterschaft mit Speer und Schwert, dringt an der Spitze der Sturmkolonne in die Bresche oder überspringt als erster die feindliche Mauer. Es ist der einzige Moment in der Entwicklung des Kriegswesens, in dem die Elemente der Kriegführung noch so nah bei einander, daß der Feldherr seiner Natur nach zugleich Krieger ist; die strategische und taktische Handlung ist so einfach, daß von Miltiades und Leonidas bis zur Epaminondas die Einheit nicht besonders hervorgehoben zu werden braucht. Mit Philipp und vollends mit Alexander wächst die Heerführung zu einer organischen Funktion von solcher Größe und Vielseitigkeit, daß sie sich von dem persönlichen Kriegertum loslöst. Die höchste Bewunderung muß es erwecken, daß Alexander in der unerschöpflichen Kraft und Sicherheit seiner Persönlichkeit die Einheit noch aufrecht erhält. Sein Genius erkennt mit untrüglichem Scharfblick alle die neuen Bedürfnisse und Möglichkeiten, die die neuen Verhältnisse, die Zusammensetzung und die Größe der Heere, wie die Ausdehnung und Natur der eroberten Länder fordern und bieten. Mit Recht ist stets betont worden, wie er die Vorteile der Verfolgung nach dem Siege, die den griechischen Bürger-Feldherren noch unerreichbar waren,120 erkannt und ausgenutzt hat. Die Spartaner hatten im Peloponnesischen Krieg nicht daran denken können, Athen zu belagern: Alexander vollendet den Erfolg des Sieges von Issus durch die siebenmonatliche, kunstvolle Belagerung[233] und endliche Erstürmung von Tyrus. In Indien tritt die Aufgabe, die neue Waffe der Elefanten zu bekämpfen und angesichts dieser Waffe einen Strom zu überschreiten, an ihn heran: er weiß sie zu lösen, und immer setzt er dabei die eigene Person ein, unbekümmert, daß, wenn das Soldatenlos ihn treffen sollte im Gewühle des Kampfes, sein ganzes Werk mit ihm zusammenzustürzen droht.

Gleich hier will ich andeuten, an welchem Punkt die von Alexander noch festgehaltene Einheit des Feldherrn- und Kriegertums sich endlich notwendig auflösen muß: sobald das Prinzip der taktischen Reserven aufkommt. Alexander darf sich noch persönlich in das Kampfesgewühl stürzen, weil mit dem Angriffssignal die Tätigkeit des Feldherrn erschöpft ist; über Truppen, die einmal im Kampf sind, hat der Feldherr nur noch eine geringe Gewalt. Auch bei Alexander finden wir ja eine gewisse Führung innerhalb der Schlacht; der siegreiche Flügel soll nicht blind hinter dem geschlagenen Gegner herstürmen, sondern sich wieder sammeln und den verhaltenen Flügel, falls dieser noch kämpft, degagieren. Das ist aber schon keine Tätigkeit des Oberkommandos mehr, sondern fällt in die Sphäre der Führung der einzelnen Truppenteile und läßt sich mit Mitstreiten verbinden. Erst das Prinzip zurückgehaltener Truppenteile, deren Eingreifen nach Ort und Zeit der Feldherr selbst bestimmt, schließt dessen regelmäßiges Mitkämpfen aus.


1. Kurz vor seinem Ende soll Alexander nach Arrian VII, 23 eine völlige Neuorganisation seines Heeres vorgenommen haben. Er schuf eine neue Phalanx, 16 Mann tief, in der die drei ersten und das letzte Glied aus Macedonien in ihrer heimischen Bewaffnung, die zwölf mittleren aus Persern mit Bogen und Wurfspießen bestanden. Es ist ein erstaunlicher Beweis von der Macht des Buchstabens, daß moderne Gelehrte eine solche Absurdität immer wieder nachschreiben und geistreiche Hypothesen darüber haben aufstellen können, was Alexander bei dieser Formation wohl habe im Sinne haben können und wie die Ausführung vorzustellen sei. Als Entschuldigung mag man anführen, daß ja auch Xenophon in seiner Cyropädie, wie wir oben gesehen haben, ein solches Schema von kombinierten Nah- und Fernwaffen ausführt. Welchen Schriftstellern auch Arrian seine Notiz entnommen haben mag, es ist klar, daß es sich hier wieder um eine jener doktrinären Konstruktionen handelt, denen wir so häufig in der Kriegsgeschichte,[234] selbst bei Praktikern, begegnen, obgleich sie, in die Wirklichkeit versetzt, sich sofort in ihrer Nichtigkeit erkennen lassen und nie auch nur der Versuch einer Verwirklichung in einer historischen Schlacht erscheint.

Auch in Arrians-Älians Taktik III, 4, 3 (KÖCHLY und RÜSTOW, Griechische Kriegsschriftsteller, II. Teil, 1. Abt., S. 270) wird behauptet, daß die Leichtbewaffneten über eine Phalanx von 16 Mann Tiefe mit Wurfspeeren, Schleudern und Bogen hinwegschießen könnten.[235]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 1, S. 231-236.
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