6. Die Mommsensche und die Knokesche Hypothese.

[85] Auf die Einzelheiten der vielumstrittenen Hypothesen, die das Teutoburger Schlachtfeld bei Barenau nördlich, oder bei Iburg südlich von Osnabrück suchen, ist es für uns nicht nötig, einzugehen, da nach unserer Auffassung[85] das Schlachtfeld von vornherein nur auf dem Wege von der Porta nach Aliso gesucht werden darf. Wäre die Schlacht in der Nähe von Osnabrück gewesen, so würde das heißen, daß die große Heerstraße der Römer nicht im Lippe-Tal aufwärts, sondern von Haltern in der Richtung Münster-Osnabrück, nördlich oder südlich des Wihen-Gebirges nach Minden oder Rehme gegangen wäre. Einen Weg wird es gewiß auch hier gegeben haben; namentlich ist auch Knoke darin zuzustimmen, daß zwischen den beiden Gebirgssträngen, dem Wiehen-Gebirge und dem Osning, am Fuße der Hügel entlang eine germanische Straße führte. Man könnte sich auch vorstellen, daß die großen Vorräte, die für das Varianische Sommerlager nötig und sehr schwer auf diesem Landweg her anzuschaffen gewesen wären, zu Schiffe durch die Nordsee nach Minden gebracht worden sind. Immer aber kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Römer eine Heerstraße die Lippe entlang und über den Osning (Dören-Paß) an die Porta hatten, und wiederum, daß sie an dieser Heerstraße, an der oberen Lippe, einen befestigten Magazinplatz hatten, und daß deshalb dies ihre eigentliche Hauptstraße war. Man stelle sich vor, welche Erleichterung es für die hin- und hermarschierenden Truppen war, unterwegs solchen Magazinplatz zu finden. Ohne sehr große Vorbereitungen und Kosten konnte man sich in Germanien niemals von der am Wasserweg entlang führenden Straße emanzipieren. Hätte also Varus selbst irgend einen Grund gehabt, von der Porta direkt in die Osnabrücker Gegend zu ziehen, so hätte er doch sicherlich nicht seinen Troß auf diesem Wege mitgenommen, sondern hätte ihm, da er die nächstbenachbarten Germanen ja für treue Bundesgenossen hielt, unzweifelhaft direkt auf die Lippe-Straße geschickt.

Zu dem allen kommt, daß auch die positiven Aussagen bei Tacitus, daß Germanicus, nachdem er, die Ems zu Schiff heraufkommend, alles Land zwischen Ems und Lippe verwüstet, an die Grenze der Bructerer, in die Nähe des Teutoburger Waldes gekommen sei, und ferner, daß er nach dem Entsatz des Kastells an der Lippe auf die Herstellung des zerstörten Leichenhügels verzichtet habe, sich nur sehr schwer, eigentlich gar nicht, mit der Osnabrücker Hypothese vereinigen lassen. Vgl. hierüber unten noch die Spezial-Untersuchungen über die Lage von Aliso.

Wie sehr durch die Erkenntnis des Volksdichtigkeitsmoments die Grundlage der Untersuchung dieser Probleme nach allen Seiten verändert worden ist, mag man ermessen, wenn man in Mommsens Untersuchung über »die Örtlichkeit der Varusschlacht« liest (S. 10), die germanischen Führer hätten »für eine den römischen Truppen um das Doppelte und Dreifache überlegene Zahl von Mannschaften an jedem beliebigen, auch abgelegenen Punkt ein Stelldichein anordnen können.«

Die Mommsensche Hypothese wird verteidigt von ED. BARTELS, »Die Varusschlacht und ihre Örtlichkeit« (1904), wo besonderer Akzent darauf gelegt wird, daß der Marsch des Varus-Heeres nördlich am Wiehen-Gebirge entlang, nicht durch das Waldgebirge selbst gegangen sein müsse.[86] Die Umgegend von Barenau stimme deshalb so gut mit der Überlieferung überein, weil hier die großen Sümpfe vorhanden seien, die an der Dörenschlacht fehlten. Dagegen ist zu sagen, daß die Sümpfe nur bei Florus und Vellejus die große Rolle spielen, bei denen nicht ausgeschlossen ist, daß sie der bloßen Rhetorik angehören, die Sümpfe als Staffage in Germanien gewohnheitsmäßig verwandte, bei Dio aber, dessen Bericht doch unsere Hauptquelle ist, nicht vorkommen. Überdies fehlen sie ja auch an der Dörenschlucht keineswegs.

Verlegt Bartels mit guter Begründung die Marschstraße aus dem Waldgebirge an den nördlichen Fuß des Wiehen-Gebirges, also in die Ebene, weil er einsieht, daß das Heer mit dem Troß unmöglich den Weg durch den Urwald nehmen konnte, so verliert er doch damit etwas anderes Unentbehrliches, nämlich das Terrain, das den Germanen die Gelegenheit zu fortwährenden Überfällen auf den Zug und schließlich zu völligem Abschneiden des Weges bot.

Als wesentlicher Grund, weshalb der Zug nicht in der Richtung auf die Lippe sich bewegt haben könne, erscheint Bartels, daß die Meldung von dem Aufstand ohne den Namen des rebellischen Stammes überliefert sei; die Völker an der Lippe und Ruhr wären den Römern aber so bekannt gewesen, daß die Namen genannt worden wären. Dagegen ist zu sagen, daß die Römer lange genug in diesen Gegenden herrschten, um die Namen aller Völker zwischen Rhein und Weser gleich gut zu kennen.

Ebenso verfehlt ist das Argument, daß der Weg nach der oberen Lippe gefahrlos gewesen wäre. Sei es, daß man im Werre-Tal marschierte, sei es, daß man, wie ich annehme, den Flußbogen abschnitt und direkt südlich marschierte, das Terrain war jedenfalls gefährlicher als das am Nordfluß des Wiehen-Gebirtes, und vor allem die Dörenschlucht selbst wie von der Natur für den Plan und die Kampfesweise der Germanen geschaffen.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 85-87.
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