1. Aushebung.

[207] Als die Nachricht von dem Untergang der Varianischen Legionen nach Rom kam und Augustus neue Truppen formieren ließ, erhählt Dio 56, 25, seien die Kräfte des römischen Volkes nahezu erschöpft gewesen; Freiwillige hätten sich nicht gefunden; Augustus habe deshalb losen lassen und von den über 35 jährigen den zehnten, von den Jüngeren den fünften Mann mit Konfiskation des Vermögens und Ehrlosigkeit bestraft und endlich sogar einige hingerichtet. Die Stelle ist oft zitiert, aber es ist eigentlich nicht viel mit ihr anzufangen. Nicht ganz 18000 Mann waren auszuheben; das ist auf eine Bevölkerung von 5 Millionen immerhin so viel, daß sie bloß mit der Werbetrommel nicht so schnell zusammenzubringen sind, volkswirtschaftlich aber doch nur eine sehr geringe Leistung, besonders, da doch auch Freigelassene und Peregrinen nicht ganz verschmäht wurden. Ein einziger Jahrgang der jungen römischen Bürger wird etwa 40000 Köpfe stark gewesen sein. Da scheint es doch ganz unglaublich, daß man Bürger über 35 Jahre, denen ein Vermögen konfisziert werden konnte, die also angesessene Leute waren, eingezogen haben sollte, wenigstens so weit es sich wirklich um die Bildung der Ersatzlegionen handelte, nicht etwa um die Bildung eines passageren Landsturmes, um einen Einfall der Germanen in Italien zu begegnen. Am leichtesten würde man aus der ganzen Erzählung die Losung annehmen, da sonst die absolute Willkür der Beamten regierte. Aber der Wortlaut der Erzählung sagt das nicht, und auch das Losen ist bei einer so geringen Anforderung unter so viel Kriegsfähigen kein recht durchführbarer Modus. In der Praxis wird die Aushebung wohl auf ein Paktieren der Werbeoffiziere mit den Gemeindevorständen herausgekommen sein, die, wie es im 17. und 18. Jahrhundert bei uns üblich war, die jungen Leute bezeichneten, die ihnen »entbehrlich« schienen. Diese, nach subjektivem Ermessen für tauglich und entbehrlich erklärten Mannschaften fühlten aber öfter gar keine kriegerischen Neigungen in sich und suchten, wie Sueton, Tiberius cap. 8, erzählt, lieber Unterschlupf in den Sklavenhäusern der großen Grundherren, die Tiberius dieserhalb einmal inspizieren ließ.

Sueton, Augustus, cap. 24, erzählt, »equitem Romanum, quod duobus filiis adulescentibus causa detrectandi sacramenti pollices[207] amputasset, ipsum bonaque subjecit hastae.« Die Erzählung ist so, wie sie dasteht, unverständlich, da ein römischer Ritter, ein wohlhabender Mann, wenn er überhaupt in die Lage kommen konnte, seine Söhne vom Militärdienst zu befreien, jedenfalls andere Mittel hatte, als ihnen die Daumen abzuschneiden. Eine Erklärung wäre vielleicht, daß die Söhne gegen den Willen des Vaters (als Centurionen, mit Erlaubnis des Kaisers) hatten in die Armee treten wollen, und daß der Vater in der Leidenschaftlichkeit eines heftigen Familienkonflikts zu der Verstümmelung schritt, um seinen Willen zu behaupten. Wie dem auch sei, jedenfalls darf eine solche Geschichte nicht als Beispiel für das römische Konskriptionswesen verwendet werden.

In seinem Bericht an den Senat bei Tacitus Ann. IV, 4 sagt Tiberius, »dilectibus supplendos exercitus: nam voluntarium militem deesse, ac si suppeditet, non eadem virtute ac modestia agere, quia plerumque inopes ac vagi sponte militiam sumant.«

Daß es erlaubt war, einen Ersatzmann zu stellen, ist durch Plinius (ep. X, 39) bezeugt. Ob schon zur Zeit des Augustus, mag zweifelhaft sein, und als die Varianischen Legionen ersetzt werden sollten, mögen auch Ersatzmänner schwer zu haben gewesen sein.

Daß die Aushebung oft zu Erpressungen benutzt wurde, ergibt sich aus Tac. Ann. XIV, 18. Hist. IV, 14. Agricola cap. 7.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 207-208.
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