Erstes Kapitel.

Die Kriegsverfassung in den romanisch-germanischen Staaten.

[413] Als Heere haben sich die germanischen Stämme in die römischen Provinzen eingelagert, nicht als Bauern, die Land suchten. Als Inhaber der Gewalt haben sie neue Staatsordnungen geschaffen und neue Staatswesen begründet, in denen sie selbst die bewaffnete Macht darstellten. Ihr Kriegertum beruhte auf der aus der Barbarei mitgebrachten kriegerischen Naturkraft, dem Zusammenhalt der Geschlechter und der wilden persönlichen Tapferkeit des einzelnen.

In richtiger Erkenntnis und Abschätzung der kriegerischen Werte bemühte man sich zeitweilig hier und da, den kostbaren Schatz des Kriegertums zu erhalten, indem man das Germanentum und Römertum, statt es schnell miteinander zu verschmelzen, künstlich voneinander fernhielt, das Germanentum isolierte, es vor dem Gift des Römertums und seiner Zivilisation zu bewahren suchte. Als sich die Römer zum ersten Male der Gefahr, die ihnen von diesen Barbaren drohte, bewußt wurden, als Goten und Franken zu Lande oder zu Wasser das Reich durchzogen und die Legionen nicht mehr die Kraft hatten, sie zurückzutreiben und die inneren Landschaften zu schützen, als man sah, daß die einzige Hilfe, die es noch gegen die Barbaren gab, bei den Barbaren selbst gesucht werden müsse, in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts, da suchte man die Barbaren, deren Dienste man in Anspruch genommen, möglichst nahe heranzuziehen. Kaiser Gallienus heiratete selber eine Germanin, Pipara; Kaiser Aurelian veranlaßte seine Offiziere, Germaninnen zu heiraten. Constantin der Große begann, was ihm nachher sein Neffe und Nachfolger Julian zum Vorwurf machte, Germanen mit den hohen Würden[413] der Republik, selbst mit dem Konsulat zu bekleiden. Unter Julians Nachfolger Valentinian aber finden wir die entgegengesetzte Bestrebung: die Ehe zwischen Römern und Germanen wird geradezu verboten (im Jahre 365).243

Als der Westgote Athaulf das Reich begründete, heiratete er selber die römische Kaisertochter Placidia. Sein Nachfolger aber verbot seinem Volk die Ehe mit den Römern, und dieses Verbot hat fast anderthalb Jahrhunderte bestanden.244 Die praktische Durchführbarkeit solcher Trennung innerhalb desselben Staatskörpers wurde allenthalben erleichtert dadurch, daß Römer und Germanen, auch nachdem diese getauft waren, verschiedene Kirchengemeinschaften bildeten: die sämtlichen germanischen Völkerschaften, mit Ausnahme der Franken, wurden Arianer. Namentlich der Ostgote Theoderich scheint zielbewußt sein Streben darauf gerichtet zu haben, sein Volk als den Kriegerstand innerhalb des Römertums zu erhalten; die Goten lebten fort auf fremdem Boden nach eigenem Recht; kein Gote durfte ein bürgerliches Amt bekleiden, kein Römer durfte Soldat sein.245 Als Theoderichs Tochter Amalasuntha ihren Sohn Athanarich etwas lernen lassen wollte, machten ihr die Goten deshalb Vorstellungen: sie erziehe den jungen König nicht richtig, Lesen und Schreiben sei etwas anderes als Tapferkeit; wer gelernt habe, sich vor dem Stock des Schulmeisters zu fürchten, werde kein Krieger; Theoderich habe niemals Gotenknaben in die[414] Schule gehen lassen und habe selber ein großes Reich erworben, ohne etwas vom Lesen und Schreiben zu verstehen.246

Der Satz, daß der Germane der Soldat, der Berufskrieger sei, wurde mit der größten Strenge festgehalten. Nur der Gote war in Theoderichs Reich waffenpflichtig, dieser aber auch unbedingt. Es ist uns ein Aktenstück darüber erhalten, wie ein verdienter Veteran, der die Waffen nicht mehr zu führen vermag, eine besondere Bitte um Befreiung vom Heerbann einreichen muß, und erst nach langer und genauer Untersuchung seiner Entschuldigungsgründe durch königlichen Befehl dem Gesuch stattgegeben wird. Das jährliche Geschenk, das der König seinen Kriegern aus den Streuererträgen regelmäßig zukommen läßt, wird diesen nicht mehr Waffenfähigen entzogen.247

Die Westgoten248 haben, wie wir schon oben gesehen haben, wohl in der Zeit, als sie nach ihrem Siege bei Adrianopel in Thracien eingelagert waren (also 378 bis 395), ihre militärische Gliederung nach römischem Muster verfeinert. Eine Anzahl Hundertschaften wurden zusammengefaßt zu einer Tausendschaft unter einem Millenarius oder Thiuphad (Volksführer) und nach unten geteilt in Zehntschaften unter einem Dekan. Als man sich auf beiden Seiten der Pyrenäen ansiedelte, wurden alle dort manche Tausendschaften geteilt und Fünfhundertschaften geschaffen. Die zahlenmäßige, militärische Gliederung aber wurde jetzt durchkreuzt und allmählich verdrängt durch die geographisch-politische, die Einteilung in Provinzen, an deren Spitze Duces und Grafschaften, an deren Spitze comites stehen.

Das Volk, das jetzt nicht mehr beisammen sitzt, sondern über das weite Land zerstreut ist, ist nicht mehr so leicht zum Heeresdienst zusammenzubringen. Den Säumigen werden strenge Strafen angedroht. Um das Heeresaufgebot verpflegen zu können, werden Getreide-Magazine angelegt; wer das ihm Zustehende nicht erhält, darf sich beschweren und die schuldigen Beamten haben ihm vierfachen Ersatz zu leisten.[415]

Zugleich erwächst neben dem allgemeinen Volksaufgebot ein anderes Kriegertum, das wir kennen lernen aus der Gesetzgebung König Eurichs (466-484), eines Sohnes jenes Königs Theoderich, der in der Schlacht auf den Catalaunischen Feldern gefallen ist.

Wir haben gesehen, wie das Söldnerwesen im römischen Reich zum Kondottierentum geführt hatte: die Generale sind die Führer von Banden, die in ihrem persönlichen Dienst stehen. Diese Art, wie man sie auch genannt hat, Privatsoldaten hießen buccellarii, ein Wort, das von buccella, der Zwieback, der Bissen, abgeleitet sein soll, also eigentlich »Brotlaute« – offenbar ursprünglich ein Spitzname, der, wie so oft, diesen Beigeschmack verloren hat und in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist. Dieses Wort und den Begriff finden wir nun in dem Gesetz Eurichs. Man hat die buccellarii mit den deutschen Gefolgschaften zusammengebracht und auch in ihnen einen Ausdruck der Durchdringung des römischen mit germanischem Wesen gesehen. Griechische Schriftsteller gebrauchen zuweilen den Ausdruck »παῖδες«, was ein scharfblickender Beobachter als Übersetzung des germanischen Wortes »Degen« erkannt hat. Denn dieses Wort hat mit der Waffe »Degen« nichts zu tun, sondern hängt zusammen entweder mit dem Stamm in »gedeihen« oder nach neuerer Auffassung mit dem Stamm in dem griechischen »τέκνον«, heißt also in jedem Fall die »Herangewachsenen«, »Burschen«. Eine gewisse Verwandtschaft dieser Erscheinung mit dem alten Gefolgschaftswesen ist unzweifelhaft da, aber doch nur eine abgeleitete. Der germanische Gefolgsmann im alten eigentlichen Sinne steht seinem Herrn persönlich viel näher, ist sein Tischgenosse, wächst mit seinem Herrn und wird, wo dieser zum Königtum aufsteigt, ein vornehmer Mann. Die Verbreiterung des kriegerischen Gefolges, die sich nach unten ansetzt, geht über in den gemeinen Kriegsknecht, der Söldnerdienste nimmt, bei dem der eigentliche Gefolgsbegriff, die persönliche, freundschaftliche Beziehung zum Herrn erlischt.

Immerhin darf man gewiß sagen, daß, wo wir nun buccellarii im Dienste germanischer Großen finden, ein Abglanz der so hoch gehaltenen Idee der persönlichen Treuverpflichtung des Gefolgsmannes gegen seinen Herrn auf ihnen geruht und sich erhalten[416] hat. Das Gesetz des Eurich schreibt vor, daß der Buccellarius, als ein freier Mann, das Recht habe, sich einen andern Herrn zu wählen, in diesem Falle aber zurückgeben müsse, was er von seinem bisherigen Herrn empfangen. Von Theudes, der lange als Statthalter das Westgotenreich verwaltete und sich später (531) selbst zum König machte, wird berichtet,249 daß er nicht weniger als 2000 Mann in seinem Gefolge gehabt habe. Diese 2000 Mann waren selbstverständlich meist Goten; die Gesamtzahl der Germanen im westgotischen Reich werden wir gewiß nicht über 20000 Krieger veranschlagen dürfen. Wenn also ein einzelner davon an 2000 in seinem Dienst hatte, so erkennt man, welche Bedeutung diese Form des Kriegsdienstes erlangt hatte.

In dem späteren Gesetzbuch der Goten ist das Wort »buccellarius« nicht mehr gebraucht, sondern der Begriff mit »in patrocinio constitutus« umschrieben.250 Der Mangel eines eigentlich technischen Ausdrucks für eine so fest umschriebene Erscheinung deutet darauf hin, was auch die Ereignisse bestätigen, daß eine wesentliche Entwicklung in dieser Richtung bei den Westgoten nicht stattgefunden hat.

Die scharfe Trennung zwischen Germanen und Romanen ergibt bei allen arianischen Stämmen eine einfach und sicher funktionierende Kriegsverfassung; bei Ost- und Westgoten, Vandalen und Burgundern werden wir uns die Verhältnisse ziemlich gleichartig vorzustellen haben. Von Anbeginn an anders sind die Verhältnisse bei den Franken. Hier hat eine Landteilung niemals stattgefunden, und der Versuch, die kriegerische Kraft vermöge einer dauernden Trennung zwischen den beiden Volkselementen zu erhalten, ist nicht gemacht worden: die Franken wurden nicht Arianer, sondern traten sofort in die katholische Kirche ein. Die Frage wird also sein, ob etwa die Frankenkönige, indem sie ihre germanischen und romanischen Untertanen von Anfang an als eine Einheit zusammenfaßten, auch die Kriegsverfassung und die Wehrpflicht auf eine breitere Grundlage gestellt haben.

In unseren Quellen finden sich Stellen, die zeigen, daß der[417] fränkische König berechtigt war, von allen seinen Untertanen den Kriegsdienst zu fordern. Man hat das so ausgelegt, daß, im Unterschied von den anderen Staaten, im Frankenreiche tatsächlich ein allgemeiner Kriegsdienst aller Freien und Halbfreien stattgefunden habe: ein Beweis, wie sehr die bloße Buchgelehrsamkeit auch wirklich große Gelehrte in die Irre führen kann. Der einzelne Bürger und Bauer, der monatelang in weiter Entfernung auf eigene Kosten zu Felde liegen soll; Heere von vielen Hunderttausenden, selbst wenn nur Teile des Reiches und von jedem Quadratkilometer nur ein Mann aufgeboten sein sollte; diese Massen endlich seit vielen Jahrhunderten des Krieges entwöhnt und in jeder Beziehung kriegsuntauglich: man fühlt sich erinnert an die Millionenheere des Xerxes und Darius Codomannus, die sich so viele Philologen auch noch immer nicht aus dem Herzen reißen können. Einigermaßen gemildert wird die Vorstellung von dem Massenaufgebot der allgemeinen Wehrpflicht, wenn man nur die Grundbesitzer für verpflichtet hält. Schließt man dabei die Kolonen aus, so würden für die romanischen Gebiete sogar sehr wenige übrig bleiben; schließt man sie aber ein, was gar nicht anders möglich ist wegen der Lastverteilung zwischen den romanischen und germanischen Landschaften, so wird man folgende Rechnung aufmachen dürfen. Nehmen wir an, es seien für einen Feldzug über die Pyrenäen die Landschaften südlich der Seine aufgeboten worden, mit der Maßgabe, daß je zwei Höfe einen Krieger stellen sollen. Das Gebiet umfaßt etwa 7000 Quadratmeilen; auf jede Quadratmeile rechnen wir im Durchschnitt, da große Wälder und Gebirge abgehen, nur 3-6 Dörfer mit zusammen 90 Höfen. Jede Quadratmeile stellt 30 Krieger, also betrüge das Aufgebot 210000 Mann, und rechnen wir auf jeden Quadratkilometer einen Mann, so gibt es gar 400000. Soviel bei einem Teilaufgebot. Da aber in »ganz besonderen Fällen« auch das ganze Land zu einem Kriegszug aufgeboten sein soll251, und die Liten und andere abhängige Leute als Leichtbewaffnete auch dabei gewesen sein sollen252, so würden wir mit unserer Berechnung unter einer Million gewiß nicht bleiben dürfen.[418]

Man sieht, wir müssen nach einer ganz anderen Grundlage suchen. Der Kriegsdienst als allgemeine Untertanenpflicht hat im Frankenreiche keine andere Bedeutung als bei den Römern: auch hier ist er ja nie ganz verschollen. Noch Kaiser Valentinian III. hat einmal seine Untertanen in eindringlichen Edikten gegen die Vandalen aufgeboten, und römische Bürger haben dem Belisar bei der Verteidigung Roms geholfen. Wie hier die Römer, so haben auch die germanischen Könige wohl einmal die sonst unkriegerischen Einwohner einer Landschaft aufgeboten, z.B. wird berichtet, wie der burgundische König Gundobad in einem Kriege mit den Westgoten, wohl 507, ein Kastell in Limousin durch die Römer, d.h. durch aufgebotenen Landsturm aus der nahen burgundischen Grenzlandschaft, brechen ließ.253

Dasselbe tat einmal Totilas, indem er für eine Aufgabe, wo er es nicht für nötig hielt, Goten zu verwenden, Bauern der Gegend aufbot und ihnen nur einige wenige Goten beigab.254 Das eigentliche Heer bildete nichtsdestoweniger der Kriegerstand von Qualitätskriegern, und das kann auch bei den Franken nicht anders gewesen sein.

Das fränkische Reich ist zusammengesetzt aus germanischen und romanischen Gebietsteilen. Fassen wir zunächst die romanischen ins Auge; hier drängt sich sofort die Überlegung auf, was für Konsequenzen daraus zu ziehen sind, daß die Franken nicht, wie die südlicheren Stämme, eine Landteilung mit den Römern vorgenommen haben.

Die Ansiedelung der Burgunder, Goten und Vandalen ist von uns dahin erklärt worden, daß den Gemeinfreien zwar in kleinen Gruppen Bauernhöfe angewiesen wurden, daß jedoch das eigentlich Entscheidende die Einreihung der germanischen Führer und Vornehmen in den römischen Großgrundbesitzerstand war. Vermöge dieser ihrer neuen Eigenschaft waren die germanischen Edelinge und Grafen jetzt in der Lage, ihren Stammes- und Heeresgenossen den unentbehrlichen wirtschaftlichen Rückhalt zu gewähren, entweder noch in Nachwirkung des alten Geschlechtsverbandes oder[419] indem sie die Genossen direkt in ihren Dienst nahmen. Auch ohne Landteilung kann es bei Franken ganz ähnlich gewesen sein. Chlodwig hatte es nicht nötig, zu einer Landteilung zu schreiten, da die Masse seines Volkes gar nicht wanderte, sondern sitzen blieb; er mußte nur jedem Grafen eine gewisse Anzahl Krieger mitgeben, die dieser, da es sich nur um ziemlich wenige handelte, ohne Schwierigkeit auf den bisherigen kaiserlichen oder sonstigen öffentlichen oder konfiszierten Gütern, Schlössern und Höfen unterbringen konnte.

Der wesentliche Unterschied zwischen den fränkischen und den anderen Ansiedlungen liegt also darin, daß dort zunächst noch kein so starker germanischer Großgrundbesitzerstand geschaffen, die Ansiedlung noch erheblich dünner war und der alte Geschlechtsverband noch schneller seine Bedeutung verlor. Die Kriegerschaft, die in jeder Grafschaft als eine Art Genossenschaft unter dem Kommando des Grafen lebte, bestand zumeist aus Franken, die als Krieger von Beruf nicht aufhörten, die kriegerischen Eigenschaften physischer und moralischer Natur zu pflegen. Es war aber nicht ausgeschlossen, daß auch Romanen in diese Kriegsgenossenschaft eintraten.255 So völlig war der kriegerische Sinn in diesen keltischen Völkern nicht ausgestorben, um nicht immer wieder einzelne geborene Krieger- und Heldennaturen hervorzubringen.256 Im ganzen war keine der romanisierten Landschaften mehr imstande gewesen, dem Ansturm einer germanischen Völkerschaft von wenigen Tausend Männern zu widerstehen, aber an[420] tapferen Männern überhaupt brauchte es darum nicht zu fehlen. Die germanischen Könige setzten nicht bloß Volksgenossen als Grafen über die Gaue ihres Reiches, sondern auch vornehme Romanen, die in ihren Dienst getreten waren.257

Die germanischen Krieger nahmen keinen Anstand, unter ihren Befehl zu treten: das waren sie ja von je gewohnt gewesen, unter römischem Kommando zu fechten. Ebensowenig war es ausgeschlossen, daß der Graf, sei er Germane oder Romane, Romanen unter seine Krieger aufnahm, wenn ihr Verhalten den Genossen nur die Gewähr gab, daß sie an Tapferkeit und Geschicklichkeit, das Roß zu tummeln und die Waffen zu gebrauchen, nicht zurückstanden.258 Nicht abgeschlossen in Lagern oder Kasernen, nicht in der steten Zucht einer militärischen Disziplin, sondern mitten im bürgerlichen Leben stehend, wurde aus den angesiedelten Germanen ein germanisch-romanischer Kriegerstand. Auch Unfreie traten in steigender Zahl in diesen Stand ein.259 Ein Knecht, von dessen persönlicher Tapferkeit und Brauchbarkeit der Graf sich überzeugt hatte, war für ihn insofern noch wertvoller als ein Freier, weil dieser Unfreie ganz von seinem Willen abhängig war und sich ihm niemals entziehen konnte. Einmal unter die Krieger aufgenommen, ging dann, wenn er sonst der Mann dazu war, der Standesgeist ganz auf ihn über.260

Ein direktes und völlig einwandfreies Zeugnis, daß freie Kriegsleute in größerer Zahl in einer persönlichen Abhängigkeit gestanden hätten, wie die Buccellarier bei den Westgoten, haben wir bei den Franken nicht. Dennoch läßt sich, wie wir unten sehen werden, der Beweis führen, daß es tatsächlich der Fall war, jedoch war das Königtum hier zunächst noch so stark, daß sich[421] dieses Privatverhältnis politisch und staatsrechtlich nicht geltend machte.

Die Kriegsverfassung des Merowingerreichs beruht darauf, daß der König durch seine Beamten die Männer des Kriegerstandes nach Bedürfnis, bei Strafe seines Bannes, zum Kriege aufbietet.

Wenn unsere Quellen das Wort »leudes«, Leute, gebrauchen, so haben sie diesen Kriegerstand im Auge261; als gleichbedeutend damit erscheint der Ausdruck »fideles«, die Getreuen.

Auch der Hof des Königs, auch die Beamten sind unter diese Worte einbegriffen, und a potiori meint man damit auch wohl zuweilen das ganze Volk. Besonders in den rein germanischen Gebieten des fränkischen Reiches ist naturgemäß die ständische Abscheidung der Krieger von der übrigen Volksmasse erst in leisen Anfängen bemerkbar.

Wir haben gefunden, daß im Frankenreiche der Merowinger, ganz wie in dem Gotenreiche Theoderichs, ein Stand von Berufskriegern existierte, der verpflichtet war, dem Aufgebot des Königs zu folgen. Aber es ist doch ein großer Unterschied: in Italien sind diese Berufskrieger die Goten, die völlig für sich, ohne Konnubium mit den Römern, leben; einen Zweifel, wer Krieger und wer nicht Krieger sei, gab es hier nicht. Im Frankenreiche paßt das weder auf den romanischen, noch auf den germanischen Teil: in jenem gibt es auch Römer, die zum Kriegerstande gehören; in diesem kann das Aufgebot sich nur an einen kleinen Teil der ganzen Männerwelt richten. Der Kriegerstand, der im Ostgotenreiche durch die Natur gegeben ist, ist deshalb im Frankenreiche[422] nur denkbar in Verbindung mit der Amtsgewalt der vom König über die Landschaften gesetzten Grafen. In dem romanischen Teil nimmt er auch Romanen als Krieger an, wenn sie ihm dazu tauglich erscheinen; im germanischen beschränkt er das Aufgebot auf so viele, als er verpflegen kann oder nötig zu haben glaubt.

Daß es der modernen Forschung so schwer geworden ist, den Charakter der merowingischen Kriegsverfassung zu erkennen, daß man bald Gefolgschaften, bald eine wirklich durchgeführte allgemeine Wehrpflicht, bald die Kriegspflicht aller Hufenbesitzer, bald bloß von Krongutsbesitzern vor sich zu haben glaubte, liegt in der sozial, staatsrechtlich und administrativ unsicheren Umgrenzung des fränkischen Kriegerstandes. Einer unserer vorzüglichsten Forscher, Paul Roth, hat einmal darauf hingewiesen, daß sich in unserer Hauptquelle, dem breiten Erzähler der Merowingerzeit, Gregor von Tours, der Ausdruck Leudes nur dreimal finde. Wäre es der technische Ausdruck für einen Kriegerstand gewesen, so müßte, schließt er, sich das bei einem solchen Erzähler ganz anders bemerklich machen. Diese Bemerkung ist psychologisch so fein wie richtig. Ein technischer Ausdruck in strengem Sinne ist aber, wie wir sehen, das Wort »Leudes« nicht gewesen. Es gab einen Kriegerstand und gab doch keinen ganz scharf abgegrenzten Ausdruck dafür. Das ist kein Widerspruch, da jener Stand selbst nicht scharf abgegrenzt war. Auf der einen Seite geht er über in den Beamtenstand und den Hof, auf der anderen in bewaffnete Dienerschaft, in dem rein germanischen Gebiete endlich in die Gesamtheit der Gemeinfreien.

Die historische Forschung scheint sich zuweilen im Kreise zu drehen. Es gab eine Zeit, da wolle man nicht an die Wanderung ganzer Völker glauben, sondern faßte die Scharen, die die römischen Provinzen in Besitz nahmen, auf als große Gefolgschaften einzelner Kriegsfürsten. Das wurde aus den Quellen als irrtümlich nachgewiesen. Es sind wirklich die ganzen Völker gewesen, die sich in Bewegung gesetzt, die alte Heimat verlassen und eine neue gesucht haben. Indem sich nun aber herausgestellt hat, wie wenig zahlreich diese Völker waren, und daß die Vorstellung von den wandernden Millionen legendarisch[423] war, ist das Bild zwar nicht politisch und staatsrechtlich, aber sachlich wieder der alten Vorstellung ähnlicher geworden.

Auch die Leudes, der Kriegerstand im Frankenreiche, sind als ein Dienstgefolge aufgefaßt worden. Wiederum ist diese Rechtsform als unzutreffend dargetan worden; das Aufgebot zum Krieg war ein Aufgebot des Königs an Untertanen, nicht an Gefolgsmänner, Inhaber von Krongut oder Hufenbesitzer. Aber die Untertanen, an die das Aufgebot tatsächlich gerichtet wurde, waren ein der Zahl nach eng begrenzter Kriegerstand, der einer großen Gefolgschaft ziemlich ähnlich sehen konnte.

Nicht im Kreise, sondern in einer Spirale hat sich also die Forschung bewegt: indem sie sich dem alten Punkt wieder genähert hat, hat die inzwischen geleistete Arbeit sie doch in die Höhe und damit über jenen hinausgeführt.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 413-424.
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