Erstes Kapitel.

Revolution und Invasion.

[447] Nach dem Abschluß des Siebenjährigen Krieges verfielen die politischen Gebilde Europas in eine Art Erstarrung. Das ungeheure Ringen der sieben Jahre hatte ohne territoriale Veränderung in Europa und ohne Abwandlung in den Machtverhältnissen geendet. Die Mächte hatten erkannt, daß sie sich gegenseitig nichts anzuhaben vermöchten. Man suchte sich ohne Waffenentscheidung zu verständigen. Die erste polnische Teilung, die Westpreußen, Galizien und große östliche Grenzgebiete von Polen losriß, vollzog sich vermöge diplomatischer Verhandlungen. Was von der Politik gilt, gilt auch von der Strategie und vom Kriegswesen im allgemeinen. Wir haben gesehn, wie Friedrich der Große schon während des Siebenjährigen Krieges sich immer mehr dem Manöverpol näherte. Während der beiden letzten Feldzüge 1761 und 1762 und ebenso im bayerischen Erbfolgekrieg 1778 hat er keine Schlacht mehr geschlagen, 1762 obgleich er die numerische Überlegenheit, 1778 obgleich er etwa gleiche Kräfte mit dem Gegner hatte. Die Theorie ging denselben Weg. Man glaubte, von der Schlacht-Entscheidung ganz absehen zu können und bildete die reine Manöver-Methodik aus, wie sie ja auch schon früher hier und da angeraten war.

Fäsch, Regeln und Grundzüge der Kriegskunst, I, 213 (1771) zitiert aus Turpin de Criffé: »Ein General muß sich niemals zu einer Schlacht zwingen lassen, und solche nicht ohne Not liefern. Wenn er sich aber dazu entschließt, so muß er die Absicht haben, das Menschenblut vielmehr zu schonen, als solches zu vergießen.«

Der sächsische Hauptmann Tielcke469 lehrt (1776), daß nicht[447] allein die Sitten durch die Wissenschaften verfeinert werden, sondern »daß, jemehr die Taktik ihre wahre Höhe und Vollkommenheit erreichen wird und die Offiziers in selbiger Einsicht und Stärke erlangen, je seltener werden die Schlachten, ja die Kriege selbst werden«.

General Lloyd, ein Engländer, der im französischen, preußischen, österreichischen und russischen Heer gedient, und das erste zusammenfassende und räsonnierende Werk über den Siebenjährigen Krieg verfaßt hatte, schreibt (1780): »Kluge Generale werden immer eher diese (Kenntnis des Landes, der Wissenschaft der Stellungen, des Lagerwesens, der Märsche) zur Grundlage ihrer Maßregeln machen, als die Sachen auf den ungewissen Ausgang einer Schlacht ankommen lassen. Wer sich auf diese Dinge versteht, kann Kriegsunternehmungen mit geometrischer Strenge einleiten und beständig Krieg führen, ohne jemals in die Notwendigkeit zu kommen, schlagen zu müssen«470). Lloyd war keineswegs etwa ein nicht weiter beachtlicher, unbedeutender Mann. Er legt z.B. sehr gut dar (I, 320), daß der einzig vernünftige Zweck alles Manövrierens sei, an einem Punkt mehr Leute ins Feuer zu bringen als der Feind.

Auch der geistreiche französische Militär-Schriftsteller Graf Guibert, der vielgelesene Werke über Taktik schrieb, von König Friedrich sehr freundlich aufgenommen wurde und 1773 den preußischen Manövern beiwohnen durfte, soll 1789 geschrieben haben (ich habe die Stelle jedoch nicht auffinden können), die großen Kriege seien zu Ende und man werde keine Schlachten mehr erleben.

Da der Krieg mit Manövrieren geführt werden sollte, so suchte man nach Grundsätzen, Regeln und Rezepten für diese Kunst. Man machte geographische Studien, um festzustellen, wo Stellungen zu finden seien, die für den Feind schwer angreifbar und zugleich für die Zufuhr der Bedürfnisse des eigenen Heeres gut zugänglich seien. Besonders vorteilhafte Stellungen dieser Art oder Festungen nannte man Schlüssel des Landes. Man stellte fest, daß Ströme oder Gebirge innerhalb der Länder »Abschnitte« bildeten, an denen ein operierendes Heer sich erst sammeln müsse, ehe es sie[448] überschreite. Man übertrug Formen und Regeln der Taktik und des Festungskrieges auf die Strategie. Die Länder wurden betrachtet wie Courtinen und Bastionen einer Festung und etwa der Satz, daß eine Truppe sich hüten muß, im Gefecht im Rücken angegriffen zu werden, auch auf die Strategie angewandt, wo unter Umständen das gerade Gegenteil gilt, nämlich dann, wenn die Möglichkeit vorliegt, den Feind auf der einen Seite zu schlagen, ehe er von der anderen Seite heran ist und eingreifen kann, während taktisch ein Angriff im Rücken sich stets unmittelbar geltend macht und so weit wirkt, wie die Kanonen und das Gewehr schießen. Da es im Kampf vorteilhaft ist, höher postiert zu sein als der Gegner471, deduziert man daraus das strategische Prinzip, daß das Innehaben der Wasserscheiden von ausschlaggebender Bedeutung sei. Man nannte das Gebiet, aus dem ein operierendes Heer seine Bedürfnisse bezieht, seine Basis und suchte festzustellen, wie sich die Operation zu der Basis zu verhalten habe. Die einfache Wahrheit, daß, je näher das Heer seiner Basis ist, es sich desto leichter versorgt habe, wurde in gelehrte mathematische Formeln gekleidet. Die Linie, die von der Basis über das eigene Heer zum feindlichen führt, wurde Operationslinie genannt; wenn man die Spitze des operierenden Heeres mit den Endpunkten seiner als Linie gedachten Basis verbindet, so gibt das ein Dreieck; willkürlich, aber sehr bedeutsam klingend war es dann, wenn gelehrt wurde, die Entfernung des Heeres von seiner Basis dürfe nicht weiter sein, als daß der Winkel an der Spitze höchstens einen Winkel von 60° (keinen spitzeren) bilde.

Die »Geschichte der Kriegskunst« von Joh. Gottfried Hoyer (1797), die im Übrigen als historisches Werk sehr wertvoll ist, kennzeichnet die Auffassung der Zeit dadurch, daß sie, in einem Sammelwerk über die »Geschichte der Künste und Wissenschaften« als Unterabteilung der »Mathematik« ausgegeben wurde. Die Kriegskunst wurde aufgefaßt als die praktische Anwendung gewisser von der Theorie festgestellter mathematischer Gesetze.[449]

Der letzte Ausläufer dieser Richtung ist Dietrich Heinrich von Bülow, ein Bruder des späteren Generals Bülow von Dennewitz. Er zog die letzte Konsequenz aus dem Wesen der Manöver-Strategie, indem er feststellte, daß das Objekt der Operationen nicht das feindliche Heer, sondern dessen Magazine seien. »Denn die Magazine sind das Herz, durch dessen Verletzung man den zusammengesetzten Menschen, die Armee, zerstört«. Durch strategische Manöver in den Flanken und im Rücken des Feindes könne man jeden Sieg, den dieser mit den Waffen erfechte, unkräftig machen. Da man bei dem Fußvolk bloß schieße und die Schußlinien alles entscheiden, kommen die moralischen und physischen Eigenschaften nicht mehr in Betracht. »Denn ein Kind kann einen Riesen erschießen«.

So absurd die letzten Sätze sind, so ist doch immer zu beachten, daß der Grundbegriff, die reine Manöver-Strategie, das tatsächliche Ergebnis der voraufgehenden Kriegsepoche gewesen war, und daß diese systematisierenden Schriftsteller doch auch einige Begriffe geschaffen haben, wie »Operationslinie« und »Basis«, die sich als sehr praktisch erwiesen haben und von den Kriegstheoretikern beibehalten worden sind472.

Das seelenlos gewordene Kriegswesen, dessen Exponenten jene Schriftsteller sind, erzeugte auch jene Generale, wie Saldern, der Erwägungen darüber anstellte, ob die Infanterie in der Minute besser 75 oder 76 Schritt mache, oder Tauentzien, der mitten im Revolutionskrieg, 1793, verordnete: »Der Zopf muß hinten an den Schoß gehn und der Degen hoch über der Hüfte; zwei Hammelpfoten (Locken) mit einem Tuppé in der Frisur.«

Nach Hoyer473 hat das preußische Heer im Revolutionskriege insofern noch einen Fortschritt gemacht, als es von der dreigliedrigen Aufstellung der Infanterie zu der noch dünneren zweigliedrigen überging, aber eine wirkliche Schlacht haben die Preußen in den drei Jahren dieses Krieges – wenn schon mehrfach gefochten worden ist – nicht geschlagen. Wie wenig man von dem Heranwogen der neuen Zeit ahnte, erhellt nicht zum wenigsten[450] daraus, daß mehrere von den angezogenen Werken erschienen, als sie eigentlich schon da war: Hoyers Geschichte der Kriegskunst 1797, Bülows »Geist des neueren Kriegssystems« 1799.

Erst drei Jahre war es her, seit der große Preußenkönig verschieden war, als in Frankreich die große innere Bewegung ausbrach, die allmählich ganz Europa in ihren Strudel ziehen sollte. Den Ausschlag für den Sieg der Revolution gab der Abfall der Armee, ihr Übertritt von der königlichen auf die republikanische Seite, und dieser Sieg der Revolution hat wiederum nicht nur den Charakter der Armee, sondern auch die Taktik und schließlich die Strategie von Grund aus verändert und eine neue Epoche in der Geschichte der Kriegskunst heraufgeführt.

Die wiederholten Niederlagen der französischen Armee im Spanischen Erbfolgekriege haben ihr Gefüge doch noch nicht wesentlich erschüttert und Frankreich hat unter Ludwig XV. noch den größen äußeren Erfolg der Einverleibung Lothringens davongetragen. Dann machte es noch zweimal einen gewaltigen Anlauf, gleichzeitig zur kontinentalen Hegemonie emporzusteigen und in Amerika und Indien den Engländern die Kolonialherrschaft streitig zu machen. Das erstemal im Bunde mit Preußen, das zweitemal im Siebenjährigen Kriege im Bunde mit Österreich. Beide Male erfolglos. Die Armee war zahlreich und gut ausgerüstet; den Führern fehlte es auch nicht an persönlicher Tapferkeit und Geschick. Aber den ganz großen Entschlüssen, wie sie die Strategie verlangt, waren die Hofgenerale, die im Siebenjährigen Kriege die französische Armee kommandierten, nicht gewachsen. Ich glaube, man darf sagen, daß das Studium der Feldzüge des Siebenjährigen Krieges auf dem westlichen Kriegsschauplatze eine sehr gute Vorschule ist für das Studium der Genesis der französischen Revolution474. Nicht in dem Sinne, als ob ungeheuerliche Mißbräuche oder Pflichtwidrigkeiten in der herrschenden Schicht und bei den leitenden Persönlichkeiten zu Tage träten. Der Hof und die Generale, so exklusiv adlig sie dachten, waren doch vorurteilslos genug, die wichtige Stelle des Generalintendanten der Armee einem bürgerlichen Beamten anzuvertrauen, Du Verney, dem Sohne eines[451] Schankwirts, der, wenn auch über ihn geklagt wird, doch offenbar viel geleistet hat. Aber es sind allenthalben nur kleine Geister an der Spitze, und die Heerführung wird gehemmt durch persönliche Intrigen.

Die wiederholten Mißerfolge und Niederlagen, die die französischen Feldherren davontrugen, zerfetzten das moralische Gefüge der Armee, die Disziplin. Die französische Armee war ja nie in dem Sinne und in der Art diszipliniert gewesen wie die preußische. Von der Strenge und Exaktheit des preußischen Exerzierens, von der unendlichen Mühe, die man hier Tag für Tag auf diese Kunst verwandte, wußte man in Frankreich nichts. Die französische Disziplin hatte immer nur grade erreicht, die äußere Ordnung aufrecht zu erhalten und die Truppen ins Gefecht zu führen. Als man nun mit wenig Ruhm, aber viel Selbstironie, blieb von militärischer Autorität überhaupt nicht viel übrig. Der Kriegsminister St. Germain machte einen großen Anlauf, die Zucht in der Armee wiederherzustellen, indem er nach preußischem Muster das Fuchteln mit der blanken Klinge, statt der Arreststrafe einführte. Aber sowohl das Offizierskorps wie die Mannschaft widersetzte sich. Aus so üblen Elementen sich das Heer auch zum größten Teil rekrutierte, das Prügeln wollten die Soldaten sich doch nicht gefallen lassen, und die Offiziere entzogen sich der Anwendung eines Verfahrens, das ihnen nicht zusagte. Denn der Geist der Humanität, der von der französischen Literatur der Epoche ausging, hatte auch den französischen Adel ergriffen, und die Disziplin war nicht nur gegenüber den Mannschaften, sondern auch im Offizierkorps selber lax geworden. Die Strenge, zu der man wieder zu gelangen wünschte, hätte von oben nach unten durchgehen müssen, hätte, wie es in Preußen war, das Offizierkorps ebenso scharf anfallen müssen, wie den gemeinen Mann. Das war mit kriegsministeriellen Verordnungen und dem Hinweis auf das Beispiel der glorreichen preußischen Armee nicht zu erreichen.

Saint Germain schrieb 1758 an den General-Intendanten Du Vernay: »Die Subordination ist das Band, das die Menschen verbindet und das die Harmonie der Gesellschaft ausmacht; wo es[452] keine Subordination mehr gibt, gerät alles in Verwirrung und das Chaos und der Umsturz folgen bald.« Aber so gewiß Disziplin Macht gibt, so gehört auch Macht dazu, sie zu schaffen. Diese Macht hatte das bourbonische Königtum nicht mehr, und indem St. Germains Versuch der Einführung einer strengeren Zucht mißglückte, wurde der Schaden nur um so größer und der Geist der Widersetzlichkeit verstärkt und angefeuert. Der Absolutismus Ludwigs XIV. hatte zwar den alten, trotzigen Widerspruchsgeist des feudalen Adels gebändigt, ihn aber doch nicht ganz ausgerottet. Indem die königliche Autorität zurückging und angefochten wurde, lebte auch diese Opposition wieder auf, ging als solche mit der Demokratie Hand in Hand und zog auch das Offizierkorps in die oppositionelle Bewegung hinein. So geschah es, daß das Königtum im Jahre 1789 keine Armee zur Verfügung hatte, um die Volksbewegung niederzuhalten, und die öffentliche Gewalt ging über an die Nationalversammlung, die dem Staate eine neue Verfassung gab.

Nach dieser Verfassung sollte die Armee eine Soldarmee bleiben wie bisher. Die Einführung der Wehrpflicht wurde als despotisch fast einstimmig abgelehnt. Da nun die Verfassung aufgebaut wurde nach dem Grundsatz der Teilung der Gewalten, so wäre die Verfügung über die Armee wie bisher bei dem Königtum, als der Gewalt der Exekutive geblieben. So wollte es die Doktrin, aber, wie so oft, paßte die Doktrin nicht auf das Leben. Man sagte sich, daß der König als das Haupt der Armee für die neue Freiheit sehr gefährlich bleiben würde und schränkte deshalb seine Exekutive auf die verschiedenste Weise ein. Er sollte nur einen Teil des Offizierkorps ernennen; die andere Stelle sollte nach einem komplizierten System von Anciennität und Wahl besetzt werden. In einem Umkreis von 8 Meilen um den Sitz der Nationalversammlung durfte der König keine Truppen halten außer seiner Garde, die nicht stärker als 1800 Mann sein durfte. Die fremden Regimenter sollten abgeschafft werden. Neben der stehenden Armee, sollte eine zweite bewaffnete Macht, eine Bürgerwehr, National-Garde genannt, geschaffen werden, über die nicht der König, sondern die vom Volk gewählten Bürgermeister die Verfügung hatten. Diese Nationalgarde stellte eine ungeheure Masse dar, denn sämtliche Urwähler sollten ihr angehören.[453]

Trotzdem würde bei einer Reaction in der öffentlichen Meinung der König die Zügel wohl wieder in die Hand bekommen haben, wenn sich die innere Bewegung nicht jetzt mit einem auswärtigen Kriege kompliziert hätte.

Bei allen politischen und nationalen Spaltungen ist Europa doch zu sehr eine Einheit, als daß eine Bewegung, wie die französischen Revolution, nicht auch jenseits der Grenzen starke Wirkungen hätte auslösen müssen. Es ist freilich nicht richtig, daß die Könige sich verbunden hätten, um die junge Freiheit in Frankreich zu ersticken, aber immerhin suchten sie durch Drohungen einen Druck auszuüben, protegierten die Emigranten, die sich in großen Massen an den Grenzen sammelten und versagten eine freundschaftliche Verständigung über die in Elsaß noch vorhandenen Feudalrechte deutscher Fürsten. Alles das nahmen die französischen Demokraten als Veranlassung, um ihrerseits dem Kaiser Franz den Krieg zu erklären, von dem sie hofften, daß er sie nicht nur moralisch stärken, sondern Frankreich auch das alte Objekt des nationalen Ehrgeizes, die Annexion von Belgien bringen würde. Österreich aber erhielt Hilfe von Preußen, das die Friderizianische Politik fallen ließ und jetzt im Verein mit Österreich und im Gegensatz zu dem sozialen Umsturz in Frankreich, glaubte, neue Bahnen beschreiten zu können, die zu Macht und Eroberung führen würden.

Die französische Armee war durch die Folgen der Revolution derart aufgelöst, daß sie so gut wie aktionsunfähig war. Das Offizierkorps, das im Beginn der Bewegung noch selber frondiert hatte, hatte durch den Fortgang der Revolution den Boden unter den Füßen verloren. Die Mehrzahl, die sich mit den neuen Ideen und Zuständen nicht befreunden konnten, verließ die Armee und auch das Land.

Man machte einen Einfall in Belgien, das kaum verteidigt war, aber schon beim Anblick eines Feindes stoben die Franzosen auseinander, hielten sich für verraten und ermordeten ihre Offiziere. Ehe die eigentliche österreichische Armee und die Preußen herankamen, verging mehr als ein Vierteljahr ohne Kriegshandlungen. Die französische Armee war mittlerweile etwas verstärkt durch Aufgebote von Freiwilligen aus der Nationalgarde, aber die meisten dieser Bataillone erwiesen sich als unbrauchbar. Dennoch[454] behaupteten sich die Franzosen. Das preußische Heer unter dem Herzog von Braunschweig war mit seinen Hilfskorps 82000 Mann stark; die Österreicher, die eben einen Türkenkrieg hinter sich hatten, waren in Belgien immer noch sehr schwach, etwa 40000 Mann. Man unternahm dennoch die Invasion in der Erwartung, daß die große Masse der französischen Bevölkerung royalistisch gesinnt sei und die deutschen Truppen als Befreier begrüßen werde. Das erwies sich als eine vollständige Täuschung. Als die Preußen Longwy und Verdun genommen hatten, nahm der Kommandierende der Franzosen, Dumouriez, hinter den Argonnen eine Defensiv-Stellung und blieb in ihr stehn, auch als die Preußen sie vollständig umgangen hatten. Er hatte 60000, die Preußen am ersten Tage 30000, am zweiten 46000 Mann zur Stelle. Der Rest des Heeres war zur Sicherung gegen die noch unbezwungenen, rückwärts liegenden französischen Festungen (Sedan, Diedenhofen, Metz) verbraucht. Es handelte sich darum, ob die Preußen unter solchen Umständen eine Schlacht mit verkehrter Front wagen sollten. Wurden sie geschlagen, so waren sie der Vernichtung ausgesetzt. Selbst wenn sie gesiegt hätten, hätten sie aber bei der Feindseligkeit der Bevölkerung schwerlich bis nach Paris vordringen können. Die französischen Truppen hatten allerdings keine Angriffsfähigkeit, waren aber an der Zahl überlegen und gut mit Artillerie versehn. In richtiger Einsicht und mit einer der höchsten Anerkennung würdigen Entschlossenheit hatte Dumouriez sich auf die Defensive beschränkt und behauptete seine Stellung. Nach einer Kanonade, die beiden Seiten kaum 200 Mann kosteten (20. September 1792), beschlossen die Preußen, von einem Angriff abzusehen und schließlich den Rückzug anzutreten.

Hätte Friedrich den Angriff bei Valmy unternommen? Blickt man auf die ungeheure Verwegenheit seiner Angriffe bei Kollin, bei Leuthen, bei Zorndorf, Kunersdorf, Torgau, so möchte man die Frage bejahen. Überlegt man aber, wie sehr Friedrich immer vor zu tiefem Eindringen in feindliches Land, der »Pointe« gewarnt hat, wie ihm schon ein Vorgehn in Böhmen bis Budweis eine solche »Pointe« war, daß er nie an eine ernstliche Bedrohung von Wien gedacht hat, so möchte man doch zweifeln und bescheidet sich, die Entscheidung in das Subjektive seines Feldherrentums[455] zu verlegen, für das nachträglich nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit zu begründen ist.

Man kann auch die Frage umgekehrt stellen: War es die Verbildung der Theorie, die Vorstellung des Kriegsführens ohne Blutvergießen, die die Entscheidung oder besser gesagt die Nichtentscheidung verursacht hat? Diese Vorstellungen mögen psychologisch mitgespielt haben, als entscheidend aber dürfen sie nicht angesehen werden. Das Entscheidende war die Erkenntnis, daß man auf einen erheblich stärkeren Widerstand gestoßen war, als man erwartet hatte; daß die Hilfe aus dem französischen Volk, auf die man gerechnet hatte, ausblieb und daß man deshalb für ein so ungeheures Unternehmen, als welches auch Friedrich den Marsch auf Paris angesehen haben würde, zu schwach war.

Die Invasion war gescheitert. Sie ist abgewehrt worden nicht mit den Mitteln der Revolution, nicht mit einem bewaffneten Volksaufgebot, sondern wesentlich mit den Resten des alten königlichen Kriegsstaats, namentlich mit den sachlichen Mitteln, den Festungen und der Artillerie. War dieser alte Kriegsstaat auch durch die Revolution sehr in Unordnung gebracht und reduziert und dieser Verlust nicht entfernt ersetzt durch eine kleine Anzahl von Freiwilligen und Föderierten-Bataillonen, so war die preußisch-österreichische Offensive doch auch sehr viel schwächer als einst etwa die vereinigte Macht Eugens und Marlboroughs, und so war das strategische Ergebnis des Feldzuges von 1792 das natürliche Fazit der beiderseitigen Kräfte, das zu besonderen kritischen Vorbehalten oder persönlichen Anklagen keine Veranlassung gibt.[456]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 4, S. 447-457.
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