Nachmittagssitzung.

[315] DR. VON LÜDINGHAUSEN: Noch einmal hat dann im Herbst 1938 der Angeklagte von Neurath von sich aus Gelegenheit genommen, in den Gang der Dinge einzugreifen und eine dem deutschen Volk unmittelbar drohende Kriegsgefahr abzuwenden. Ich brauche die Einzelheiten über das Zustandekommen der Münchener Konferenz Ende September 1938 nach den übereinstimmenden Aussagen Görings und anderer Zeugen nicht näher zu schildern. Tatsache ist, daß ihr Zustandekommen und ihr Erfolg, das heißt die Verständigung mit England und Frankreich über die Sudetenfrage nicht zum wenigsten der Initiative und der Mitwirkung des Angeklagten zu verdanken ist. Daß er aber die Möglichkeit hierzu hatte, verdankte er gerade einem Umstande, der, in völliger Verkennung der Dinge, ihm von der Anklage ebenfalls zum Vorwurf gemacht wird, dem Umstande nämlich, daß er bei seinem Abschied als Außenminister zum Präsidenten des zu gleicher Zeit von Hitler neu geschaffenen Geheimen Kabinettsrats ernannt worden war. Ohne diese Stellung wäre es ihm im September 1938 gar nicht möglich gewesen, bis zu Hitler vorzudringen und ihn zur Zustimmung zu der Münchener Konferenz zu bewegen. Denn entgegen der Behauptung der Anklage war er, wenn er auch den Titel Reichsminister behielt, vom Tage seines Ausscheidens als Außenminister nicht mehr Mitglied der Reichsregierung, was allein schon aus der Tatsache erhellt, daß sein Gehalt von diesem Tage ab um ein Drittel herabgesetzt worden war. Von diesem Tage ab hörte also auch jedwede etwaige Mitverantwortlichkeit des Angeklagten für die Politik des Reiches auf. Denn entgegen der Behauptung der Anklage war er als Präsident des Geheimen Kabinettsrats nicht Mitglied der Reichsregierung, hatte er keinen Zutritt, geschweige denn Sitz und Stimme in den Kabinettssitzungen. Bereits aus dem Wortlaut des Erlasses Hitlers über die Schaffung dieses Geheimen Kabinettsrats geht dies einwandfrei hervor, denn es heißt dort ausdrücklich, daß dieser Geheime Kabinettsrat lediglich zur Beratung des Führers persönlich, also nur Hitlers, und auch nur in Angelegenheiten der Außenpolitik bestellt ist. Und gerade auch aus dem von der Anklage für ihre gegenteilige Behauptung zitierten Buch von Huber »Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches«, 1744-PS, geht hervor, daß der Geheime Kabinettsrat und sein Präsident mit der Reichsregierung nichts zu tun hat, kein Bestandteil oder Organ der Reichsregierung, sondern lediglich eines von den mehreren Büros des Führers persönlich ist. In Wirklichkeit ist der Geheime Kabinettsrat niemals in Funktion getreten und sollte auch von Anfang an nie in Funktion treten, wie durch die Aussagen von Göring, Lammers und anderer Zeugen bewiesen [315] ist. Er sollte in Wirklichkeit nur eine besondere Ehrung des Angeklagten sein und den Eindruck verwischen, als ob zwischen Hitler und dem Angeklagten Differenzen entstanden seien. Daß er selbst diese Stellung auch nicht anders aufgefaßt hat, geht daraus hervor, daß der Angeklagte vom 4. Februar 1938 ab als Privatmann auf seinem Gut in Württemberg seinen persönlichen Neigungen lebte und nur höchst selten nach Berlin kam, auch dort aber keinerlei amtliche Tätigkeit ausübte, auch nicht ausüben konnte, da er geflissentlich von allen Informationen über die politischen Vorgänge durch das Außenministerium ferngehalten wurde. Und wenn die Anklage glaubt, aus den von ihr unter Nummer 3945-PS vorgelegten Dokumenten folgern zu sollen, daß er vom Reich beziehungsweise der Reichskanzlei Geldbeträge zur Beschaffung von diplomatischen Informationen erhalten habe, so wird dies, abgesehen von der eidlichen Aussage des Angeklagten selbst, schon durch das unter diesen Dokumenten befindliche Schreiben des Vorstehers des pro forma geführten Büros des Geheimen Kabinettsrats, des Amtsrats Köppen, vom 31. Mai 1939 widerlegt, aus dem einwandfrei hervorgeht, daß diese in großen Abständen an dieses Büro geleisteten nicht sehr hohen Zahlungen zur Deckung der Unkosten der Unterhaltung dieses Büros und nicht für irgendwelche geheimen Zwecke der Informationen bestimmt waren.

Und so wenig der Angeklagte bis auf dieses eine Mal im September 1938 von seiner Stellung als Präsident dieses Geheimen Kabinettsrats Gebrauch gemacht hat, so wenig ist er als Mitglied des Reichsverteidigungsrates tätig geworden, zu welchem er durch das Reichsverteidigungsgesetz bestellt worden war. Auch hier geht die Anklage fehl, wenn sie dem Angeklagten aus dieser Mitgliedschaft einen Vorwurf machen und aus ihr ihm kriegerische Absichten oder deren Unterstützung unterschieben will. Ich glaube, mir angesichts der mehrfachen Erörterungen über diesen Reichsverteidigungsrat im Laufe der Beweisverhandlungen ein näheres Eingehen auf diesen Versuch der Anklage versagen und mich mit dem Hinweis begnügen zu können, daß in diesen Reichsverteidigungsgesetzen keinerlei aggressive Tendenzen enthalten sind, diese vielmehr, wie auch Ihr Inhalt besagt, lediglich die erforderlichen Bestimmungen für den Fall, daß das Reich angegriffen oder sonst in einen Krieg verwickelt werden sollte, enthalten, wie dies in jedem Staat üblich ist, der mit der Möglichkeit eines Krieges rechnen muß. Wie man aber daraus kriegerische Absichten oder Pläne des Angeklagten folgern will, ist schlechterdings unverständlich. Der Angeklagte hat im übrigen auch keiner einzigen Sitzung dieses Rates beigewohnt, auch nie irgendwelche Mitteilungen über Beschlüsse dieses Rates zugesandt erhalten. Das als angeblicher Gegenbeweis von der Anklage vorgelegte Dokument 2194-PS war gar nicht an den Angeklagten, sondern an eine der [316] Protektoratsregierung angegliederte Abteilung des Reichsverkehrsministeriums, nämlich die Verkehrsabteilung, gerichtet und für diese bestimmt. Ihr Absender war auch nicht der Verteidigungsrat, sondern das Sächsische Ministerium für Wirtschaft und Arbeit.

Mit allen diesen und ähnlichen Bemühungen wird es der Anklage niemals gelingen, dem Angeklagten nachzuweisen, daß er sich zu irgendeiner Zeit durch seine Politik direkt oder indirekt eines Verbrechens der Planung oder Vorbereitung eines Angriffskrieges oder auch nur der Billigung oder Unterstützung solcher schuldig gemacht hat. Das Gegenteil ist der Fall. Seine ganze Tätigkeit war ein einziges Bemühen, allein durch friedliche Mittel auf friedlichem Wege die schon von allen früheren demokratischen Regierungen seit 1919 erstrebten Ziele, die Beseitigung der Deutschland diskriminierenden, das Deutsche Reich zu einem Staat zweiter Klasse stempelnden Bestimmungen des Versailler Vertrags zu erreichen und eine allgemeine Befriedung Europas herbeizuführen. Keine einzige seiner diplomatischen Handlungen diente einem anderen Ziele oder enthielt eine andere Absicht, die ein Verbrechen im Sinne des Statuts darstellte.

Mit vollem Recht wurde daher sein Ausscheiden als Reichsaußenminister von der ganzen Welt, vom Ausland sowohl – ich verweise auf die Aussagen des Zeugen Dieckhoff – wie im Inland, und in diesem speziell von den konservativen Kreisen, mit Sorge und Bestürzung aufgenommen, womit allein schon die Behauptung der Anklage, er habe in diesen Kreisen als Fünfte Kolonne gewirkt, widerlegt wird. An all dem vermögen auch die Hinweise der Anklage auf die Ansprache Hitlers an seine Generale im November 1939 und noch weniger auf die Reden des Angeklagten selbst vom 29. August und 31. Oktober 1937 etwas zu ändern. Die Ansprache Hitlers ist gehalten in der Zeit der ersten militärischen Erfolge und war berechnet auf deren Inanspruchnahme als Erfolge seiner, Hitlers, Staatsführung und ist nur aus diesem Gesichtspunkt zu werten. Die Reden des Angeklagten aber besagen gerade das Gegenteil von dem, was die Anklage in sie hineininterpretieren möchte. Denn beide Reden, sie sind enthalten in meinem Dokumentenbuch 4, Nummer 126 und 128, betonen ganz ausdrücklich den erfolgreichen Friedenswillen der von dem Angeklagten geleiteten deutschen Außenpolitik und heben mit besonderer Betonung hervor, daß die erreichten Erfolge ausschließlich mit friedlichen Mitteln und nicht mit Gewaltmitteln erreicht sind. Besonders die Rede vom 31. Oktober 1931, die letzte öffentliche Rede des Angeklagten als Außenminister, stellt geradezu ein Resumé seiner Politik des Friedens dar. Und daß dieses Resumé richtig war und ist, hat auch die Anklagevertretung selbst hier in diesem Saal zugeben müssen, indem sie durch einen der Herren[317] Anklagevertreter die von meinem Klienten zum Anlaß seines Rücktritts genommene Ansprache Hitlers vom 5. November 1937 ausdrücklich als den Wendepunkt in der deutschen Außenpolitik bezeichnete und damit unzweideutig anerkannte, daß die deutsche Außenpolitik bis zu diesem Tage keine aggressive, keine Politik der Gewalt war, keine kriegerischen Pläne oder Absichten verfolgte, sondern entsprechend dem politischen und menschlichen Glaubensbekenntnis des Angeklagten, wie es von allen hier vernommenen Zeugen und in allen meinen Dokumentenbüchern befindlichen Fragebogen und Affidavits einhellig bestätigt wird, eine durch und durch friedliche war und gar keine andere sein konnte.

Auf drei Grundpfeilern ruhte dieses Glaubensbekenntnis: Menschenliebe, Vaterlandsliebe und Friedensliebe, alle drei geboren und getragen von tiefstem Verantwortungsbewußtsein vor sich selbst, vor seinem Gott und vor seinem Volk.

Und aus diesem Verantwortungsbewußtsein fühlte er sich auch, als Hitler ihn wenige Tage nach der Besetzung der Tschechoslowakei aus seinem wohlverdienten Otium cum dignitate auf seinem Gut nach Wien rief und ihm eröffnete, daß er ihn zum Reichsprotektor von Böhmen und Mähren ausgewählt habe, verpflichtet, diese Berufung anzunehmen. Er hat sich zunächst dagegen gesträubt und lange schwer mit sich gerungen, war er doch seit jeher der schärfste Gegner einer Einmischung, geschweige denn einer mehr oder weniger gewaltsamen Angliederung anderer Völker an das Deutsche Reich und hatte aus diesem Grund auch die Angliederung der Tschechoslowakei und den mit dessen Präsidenten Hácha abgeschlossenen sogenannten Schutzvertrag verurteilt, und zwar ohne damals auch nur im geringsten zu ahnen, wie es in Wirklichkeit zu diesem gekommen war. Die wahren Einzelheiten des Vorganges hat er überhaupt erst hier in Nürnberg erfahren. Und so sehr es ihm widerstrebte, noch einmal und noch dazu in seinem Alter überhaupt wieder ein öffentliches Amt zu übernehmen und überdies wieder in den Dienst Hitlers und seines von ihm nichts weniger als gebilligten Regimes zu treten, kam er doch aus seinem Verantwortungsbewußtsein gegenüber seinem Volke und seiner humanitären Grundeinstellung zu der Überzeugung, daß er sich diesem Rufe nicht versagen dürfe. Als Hitler ihm erklärte, daß er gerade ihn als die allein dazu geeignete Persönlichkeit ausgewählt habe, die die von ihm beabsichtigte Aussöhnung des tschechischen Volkes mit dem neuen Zustand und mit dem deutschen Volk erfolgreich herbeiführen könne, konnte er sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß ihm damit eine Aufgabe gestellt würde; der er sich sowohl im Interesse des deutschen Volkes wie auch der Humanität und der Völkerverständigung nicht entziehen dürfe. Und war es in der Tat nicht eine Aufgabe, des Schweißes der Edlen wert, durch [318] eine humane und gerechte Regierung und Behandlung ein Volk, das jede Beschränkung und Beeinträchtigung seiner Freiheit und Selbständigkeit als das schlimmste ihm angetane Unrecht ansehen und mit blutigstem Haß und Erbitterung gegen das als unerträglichen Unterdrücker empfundene Volk erfüllen mußte, mit eben diesem Volk und den von diesem herbeigeführten Zuständen zu versöhnen? Lag dieses Ziel aber nicht auch gerade auf der gleichen Linie wie die seine ganze Außenpolitik klar und eindeutig durchziehende Tendenz der Sicherung und Erhaltung des Friedens? Und er durfte und mußte sich mit Recht sagen, daß, wenn er sich dieser Aufgabe versagte, mit größter Wahrscheinlichkeit aus dem Kreise um Hitler ein anderer Mann zum Reichsprotektor bestellt werden würde, der nicht geeignet und nicht gewillt war, durch eine humane und gerechte Behandlung das tschechische Volk zu versöhnen, vielmehr weit eher geneigt war, es mit Gewalt und Terror niederzuhalten, wie es denn ja auch zweieinhalb Jahre später tatsächlich geschehen ist. Nur aus diesen Gedankengängen und Überlegungen heraus entschloß er sich, unter Ausschaltung aller persönlichen Interessen und Beiseiteschieben selbst der Gefahr, daß ihm dies von manchen Seiten als eine Billigung und Unterstützung Hitlers und seines Regimes ausgelegt und zum Vorwurf gemacht werden könne, das ihm angetragene Amt anzunehmen, nachdem ihm Hitler ausdrücklich und fest zugesichert hatte, daß er seine, des Angeklagten beabsichtigte Politik der Befriedung und Aussöhnung des tschechischen Volkes durch eine humane und gerechte, den Interessen des tschechischen Volkes in weitestgehendem Maße gerecht werdende Behandlung jederzeit zu unterstützen gewillt sei.

Der Schwere dieser damit von ihm übernommenen Aufgabe war er sich bewußt. Ich stehe nicht an zuzugeben, daß es sich hier um einen Entschluß gehandelt hat, bei dem man bei einer anders gearteten, in ihrem Denken und Handeln anders eingestellten Persönlichkeit wie der des Angeklagten von Neurath von dem seitens des Herrn englischen Anklagevertreters hier vertretenen Standpunkt aus – es sei unmoralisch, in einer wegen ihrer Amoralität abzulehnenden Regierung zu bleiben – in Verlegenheit kommen könnte, ihn zu rechtfertigen, daß aber bei der Ihnen, wie ich hoffe, genügend deutlich geschilderten Persönlichkeit Herrn von Neuraths und seinem tiefen Verantwortungsbewußtsein dieser Entschluß der einzig gegebene und folgerichtige war. Es liegt eine geradezu antike Tragik darin, daß das Scheitern an dieser nur aus höchsten ethischen Motiven übernommenen Aufgabe den Angeklagten von Neurath hier auf diese Anklagebank führen sollte.

Schon hier aber möchte ich zu dem von der Anklagebehörde unternommenen Versuch, die Behauptung des Angeklagten, er halbe sein Amt als Reichsprotektor allein in der Absicht und zu dem Zweck übernommen, durch eine die Interessen und das Volkstum [319] des tschechischen Volkes weitestgehend wahrende Behandlung und Politik zu befriedigen und auszusöhnen und damit auch diesem und seinem nationalen Wohlergehen zu dienen, durch die von ihr unter Nummer 3859-PS in Photokopie vorgelegten Dokumente – das Schreiben des Angeklagten an den Chef der Reichskanzlei Lammers vom 31. August 1940 und dessen angebliche Anlagen – als unglaubwürdig hinzustellen, folgendes erklären:

Ich glaube, durch die zweite, von dem Hohen Gericht mir entgegenkommenderweise ermöglichte nochmalige Vernehmung des Angeklagten den Beweis geführt zu haben, daß diesen Dokumenten, vor allem den beiden dem Schreiben an Lammers beigefügten Berichten, die in der Tat in der Frage der Germanisierung des tschechischen Volkes den oben dargelegten Absichten und Tendenzen des Angeklagten nicht entsprechen, keinerlei Beweiskraft innewohnt. Nicht nur entsprechen aber die Photokopien nach der bestimmten Erklärung des Angeklagten in keiner Weise dem Inhalt und der Form, das heißt der Länge der ihm zur Unterschrift vorgelegten beziehungsweise gutgeheißenen, dem Schreiben an Lammers beizufügenden Originalen, sie erwecken auch mehrmals berechtigte Zweifel daran, daß die photokopierten Schriftstücke wirklich identisch sind mit den dem Schreiben an Lammers beigefügten Anlagen, durch folgende Tatsachen:

Entgegen der bei allen Behörden üblichen Gepflogenheit tragen beide Photokopien nicht das Aktenzeichen des Briefes an Lammers, nicht einmal einen Vermerk, daß sie Anlagen eines dritten Schreibens, geschweige denn des Schreibens an Lammers sind. Und die Photokopie der ersten Berichte trägt auch nicht die Unterschrift des Angeklagten, die dieser nach seiner bestimmten Erklärung unter den in Reinschrift vorgelegten, von ihm selbst beziehungsweise von seinem Büro nach seinen Weisungen gefertigten, dem Brief an Lammers beigefügten Bericht bei der Unterzeichnung des Briefes an Lammers gesetzt hat. Sie zeigt vielmehr auffallenderweise nur einen von einem im Büro des Staatssekretärs Frank beschäftigten SS-Obersturmbannführer zu unterschreibenden, in Wirklichkeit aber auch nicht unterschriebenen Richtigkeitsvermerk der Abschrift. Diese Tatsachen lassen die Behauptung des Angeklagten als durchaus richtig erscheinen, daß, wenn die photokopierten Berichte tatsächlich dem Schreiben an Lammers beigefügt worden sein sollten, sie in dem mit der Absendung des Schreibens beauftragten Büro des Staatssekretärs Frank von diesem oder in dessen Auftrage gegen den Originalbericht des Angeklagten und gegen den von ihm im Entwurf gebilligten Bericht Franks vertauscht worden sind. Und es verdient weiter die Aussage des Angeklagten, die er für die Erklärung und den Zweck dieses Schreibens an Lammers und seiner Anlagen gegeben hat, vollen Glauben, daß er, ebenso wie er es [320] durch den in dem unter US-65, L-150 vorgelegten Bericht des Generals Friderici vom 15. Oktober 1940 enthaltenen Plan versuchen wollte, Hitler an Hand der übersandten beiden Berichte durch seinen mündlichen Vortrag dazu bewegen wollte, von einer Aufteilung des Protektoratsgebietes und einer Germanisierung des tschechischen Volkes in welcher Form immer, die er aus allen Gründen, nicht zuletzt im Interesse des ihm anvertrauten tschechischen Volkes und seiner nationalen Eigenheit und Geschlossenheit, entschieden ablehnte, abzusehen und derartige Pläne überhaupt zu verbieten. Diese seine Behauptungen werden bestätigt durch die Aussagen des Zeugen von Holleben in dem von ihm beantworteten Fragebogen, Dokumentenbuch 5, Nummer 156, des Zeugen Dr. von Burgsdorff, sowie durch das in dem Affidavit der Baronin Ritter – Dokumentenbuch 1, Nummer 3 – wörtlich zitierte eigene Schreiben des Angeklagten an diese. Und tatsächlich hat er sich ja auch mit seinem Standpunkt durchgesetzt, wie der von der Anklagebehörde vorgelegte Bericht Ziemke über die Unterredung mit Hitler beweist. Solange er in Prag war, sind keinerlei Schritte zu einer Germanisierung des tschechischen Volkes erfolgt, selbst die Erörterung dieser ganzen Frage hat der Angeklagte verboten, wie das von der Anklagebehörde vorgelegte Dokument 3862-PS beweist. Gerade durch diese Verhinderung jeglicher Aufteilung des Protektoratsgebietes und jeglicher mehr oder weniger gewaltsamen planmäßigen Germanisierung des tschechischen Volkes wird wohl am einleuchtendsten bewiesen, wie ernst es dem Angeklagten war mit seiner Absicht und seinem Bestreben, das tschechische Volk und sein Volkstum in seiner nationalen Geschlossenheit und Eigenart zu schützen und zu erhalten, getreu den Grundsätzen und Absichten, wie er sie in seinem in der »Frankfurter Zeitung« vom 30. März 1939 wiedergegebenen Artikel – Dokumentenbuch 5, Nummer 143 – über die Neuordnung der europäischen Mitte als die Richtschnur für die Erfüllung seiner Aufgabe öffentlich niedergelegt hatte. Er selbst bezeichnete in diesem Artikel diese seine Aufgabe als eine schöne, aber auch als eine schwere. Wie schwer diese in Wirklichkeit war, wie fast unerfüllbar, sollte sich leider nur allzubald zeigen.

Der Grund hierfür lag in erster Linie darin, daß von Anfang an dem Reichsprotektor nicht nur nicht die volle Macht im Protektorat übertragen worden war, ihm, ganz abgesehen von seiner Unterstellung unter Hitler, nicht die allein maßgebende und alles beherrschende Stellung gegeben wurde, sondern auch seine Kompetenzen und Machtbefugnisse nicht scharf genug umrissen waren. Zwar war in dem das Protektorat begründenden Erlaß Hitlers vom 16. März 1939 und der diesen ergänzenden Verordnung vom 22. März 1939 – Dokumentenbuch 5, Nummer 144 und 145 – bestimmt, daß der Reichsprotektor dem Führer und Reichskanzler unterstellt sei, dessen und der Reichsregierung alleiniger Repräsentant sei und [321] vom Führer und Reichskanzler seine Weisungen zu erhalten habe. Aber gleichzeitig waren nicht nur gewisse Verwaltungszweige, so die Wehrmacht, das Verkehrswesen, sowie das Post- und Fernmeldewesen von vornherein seiner Kompetenz entzogen, es waren vielmehr auch der Reichsregierung beziehungsweise dem Reich das Recht gegeben, an sich der Zuständigkeit des Reichsprotektors unterliegende Verwaltungszweige in eigene, vom letzteren unabhängige, sogenannte reichseigene Verwaltung zu nehmen und erforderlichenfalls reichseigene Behörden einzurichten, die der Zuständigkeit des Reichsprotektors nicht unterlagen. Dem Reich war auch das Recht beigelegt, die zur Sicherheit und Ordnung im Protektorat erforderlichen Maßnahmen über den Kopf des Reichsprotektors hinweg zu treffen. – Ferner wurde, und das ist das Allerbedeutsamste, auch jeder der vielen obersten Reichsbehörden, also nicht nur den Reichsministerien, sondern zum Beispiel auch der Reichsbank, dem Vierjahresplan, dem Ministerrat für die Reichsverteidigung und anderen das Recht beigelegt, völlig unabhängig vom Reichsprotektor selbständig Rechtsverordnungen und Organisationsmaßnahmen zu erlassen und damit in an sich der Zuständigkeit des Reichsprotektors unterstehende Verwaltungszweige einzugreifen, ohne daß dem Reichsprotektor das Recht oder die Möglichkeit gegeben wurde, gegen solche, wenn sie seinen eigenen Anordnungen und Maßnahmen, seiner eigenen Politik zuwiderliefen, zu protestieren und sie zu verhindern. Im Gegenteil war er verpflichtet, sie auf Verlangen nicht nur im Protektorat zu publizieren, sondern auch ihre Durchführung zu überwachen. Die Stellung des Reichsprotektors war also, um es an einem Beispiel klarzumachen, keineswegs dieselbe wie zum Beispiel die des britischen Vizekönigs in Indien, sondern entsprach, wenn auch in äußerlich etwas gehobener Form, viel eher derjenigen eines Reichsstatthalters oder Oberpräsidenten einer Provinz. Sie entsprach daher auch nicht dem, was man bisher staatsrechtlich unter einem Protektorat verstand, konnte dies auch nicht, weil dieses sogenannte Protektorat Böhmen und Mähren gemäß Artikel 1 des vorerwähnten Erlasses vom 16. März 1939, worauf ich an dieser Stelle mit ganz besonderem Nachdruck hinweisen muß, zum Gebiete des Deutschen Reiches gehörte, also ein Teil des Deutschen Reiches war und nur innerhalb des Reiches als Teil desselben eine gewisse Selbstverantwortung, eine beschränkte Autonomie besaß, wodurch die Einführung der im gesamten übrigen Reichsgebiet geltenden Gesetze und Vorschriften von vorneherein gegeben war.

Es liegt auf der Hand, daß aus dieser so unklaren und unbestimmten Umgrenzung der Befugnisse und Kompetenzen des Reichsprotektors sich sehr bald die größten Schwierigkeiten nicht nur für eine einheitliche, nach einheitlichen Gesichtspunkten und Richtlinien geleitete Politik, sondern auch für den Angeklagten [322] selbst als Reichsprotektor bei der Durchführung der von ihm gewollten und eingeschlagenen Regierungsführung ergeben mußten, Schwierigkeiten und Widerstände, die sich im Laufe der Zeit immer verschärften. Auf der anderen Seite folgt hieraus aber noch, daß die Verantwortlichkeit des Angeklagten nur unter diesem Gesichtspunkt, nur unter Berücksichtigung dieser verschiedenen Zuständigkeiten aller möglichen anderen Behörden beurteilt werden kann.

Nie und nimmer kann er für Verordnungen, Maßnahmen und Handlungen verantwortlich gemacht werden, die er nicht selbst erlassen oder angeordnet hat, die vielmehr von anderen, seiner Machtsphäre, seinem Einfluß entzogenen Behörden oder sonstigen Stellen ohne sein Zutun, ohne sein Wissen, ja gegen seinen Willen angeordnet worden sind und die zu verhindern er weder das Recht noch die Macht hatte, für die er bestenfalls Durchgangsstelle war.

Dies gilt in erster Linie für die ihm von der Tschechischen Anklage – USSR-60(1) – zugeschobene Mitverantwortung für alle Handlungen Hitlers und der Reichsregierung vor und nach der Errichtung des Protektorats. Die Grundlage und Voraussetzung bildende Behauptung der Anklage hierfür, Herr von Neurath sei nach seinem Abschied als Reichsaußenminister Mitglied der Reichsregierung geblieben, ist objektiv unrichtig. Ich habe bereits an anderer Stelle einwandfrei nachgewiesen, daß er weder als inaktiver Minister noch als Präsident des Geheimen Kabinettsrats Mitglied der Reichsregierung gewesen ist, und ebensowenig war er als Reichsprotektor Mitglied der Reichsregierung. Auch dieses steht fest, ist auch nie von der Anklagebehörde vor diesem Gericht behauptet worden. Damit entfällt jede Mitverantwortung des Angeklagten für irgendwelche, der Errichtung des Protektorats voraufgegangene oder sie vorbereitende Handlungen oder Maßnahmen. Daß auch die ihm hier wieder als solche vorbereitende Handlung zum Vorwurf gemachte Erklärung gegenüber dem Tschechoslowakischen Gesandten am 12. März 1938 nicht unrichtig, nicht betrügerisch, also auch keine den Einmarsch in die Tschechoslowakei vorbereitende Handlung war, habe ich ebenfalls bereits an anderer Stelle nachgewiesen.

Wenn die Tschechische Anklage weiter aus Artikel 5 des vorerwähnten Erlasses vom 16. März 1939 die Folgerung zieht, daß er als Reichsprotektor für alles, was im Protektorat während seiner Amtszeit, das heißt vom 17. März 1939 bis 27. September 1941 geschehen ist, unterschiedslos verantwortlich ist, so ist auch dieser Schluß angesichts der vorstehend dargelegten tatsächlichen Zuständigkeitsverhältnisse im Protektorat objektiv unrichtig und falsch. Nach keinem Recht der Welt kann einem Menschen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit aufgebürdet werden für Ereignisse und Handlungen dritter Personen, an denen er nicht beteiligt [323] war, nicht mitgewirkt hat oder sie sogar gegen seinen Willen geschehen sind.

So kann er nicht für die Festlegung des Wechselkurses zwischen Reichsmark und Tschechenkrone verantwortlich gemacht werden, denn diese Festlegung war bereits erfolgt, als er sein Amt antrat, weder hat er dabei mitgewirkt noch hatte er die Macht oder das Recht, den Kurs abzuändern, wobei es ruhig dahingestellt bleiben kann, ab, wie die Anklage beweislos behauptet, dieser Kurs ein für das tschechische Volk nachteiliger war oder nicht. Daß im übrigen, selbst wenn letzteres der Fall war, hierin kein Verbrechen im Sinne des Statuts liegt, und nur als solches wäre es strafbar, braucht wohl nicht erst betont zu werden.

Ebensowenig kann er verantwortlich gemacht werden für die Schaffung der Zollunion und ihrer Durchführung. Diese war bereits im Artikel 9 des Erlasses vom 16. März 1939 bestimmt worden, in dem es wörtlich heißt:

»Das Protektorat gehört zum Zollgebiet des Deutschen Reiches und untersteht seiner Zollhoheit.«

Die Bestimmung war eine natürliche Folge der bereits betonten Tatsache, daß das Protektorat ein Teil des deutschen Reichsgebietes war. Es muß aber hier besonders darauf hingewiesen werden, daß der Angeklagte, da er diese Einbeziehung des Protektorats in das Zollgebiet, die Zollhoheit des Reiches für nachteilig und schädlich für die tschechische Wirtschaft hielt, ihre Durchführung und Verwirklichung trotz allen Drängens des deutschen Reichsfinanzministers anderthalb Jahre lang bis zum Oktober 1940 hinauszuschieben verstanden hat, ein klarer Beweis dafür, daß ihm die Interessen des ihm anvertrauten tschechischen Volkes über die Interessen des Deutschen Reiches gingen. Mit den wirtschaftlichen Maßnahmen der angeblichen Überführung tschechischer Banken und Industrieunternehmen, der angeblichen Besetzung ihrer Schlüsselstellungen mit Deutschen, hatte er überhaupt nichts zu tun. Diese Maßnahmen erfolgten durch andere Behörden, insbesondere die Reichsbank und den Beauftragten für den Vierjahresplan hinter seinem Rücken und ohne seine Mitwirkung. Sie waren im übrigen die natürliche Folge des Umstandes, daß bereits früher sehr erhebliche deutsche Kapitalien in diesen Banken und Unternehmungen investiert waren, die sich nach der Besetzung dadurch vergrößerten, daß die von dem übrigen Ausland gegebenen Kredite von diesen zurückgezogen und von reichsdeutschen Firmen übernommen wurden.

Nichts zu tun hatte er endlich mit der Gerichtsbarkeit. Diese Unterstand ausschließlich dem Reichsjustizministerium. Nur von diesem wurden die deutschen Gerichte einschließlich der Standgerichte und der Staatsanwaltschaft eingerichtet, von diesem die Richter und Staatsanwälte ernannt. Herr von Neurath selbst hatte [324] hiermit und erst recht mit der Rechtsprechung der Gerichte nicht das geringste zu tun, wie dies aus den betreffenden sie errichtenden Verordnungen und Erlassen, insbesondere der Verordnung über die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit vom 14. April 1939 – Dokumentenbuch 5, Nummer 147 – einwandfrei hervorgeht.

Auch hier aber muß nochmals darauf hingewiesen werden, daß weder die wirtschaftlichen Maßnahmen noch die Errichtung deutscher Gerichte in dem zum Gebiete des Deutschen Reiches gehörenden Protektorat auch nur im entferntesten unter die in diesem Statut unter Strafe gestellten Verbrechen fällt. Und ebensowenig fallen unter diese Verbrechen die dem Angeklagten von der tschechischen Anklageschrift zum Vorwurf gemachten angeblichen Eingriffe in das tschechische Schulwesen, die Einsetzung deutscher Schulinspektoren, Maßnahmen, die gleichfalls nicht von ihm ergriffen worden waren, sondern von dem deutschen Reichsministerium für Erziehung und Unterricht ausgingen. Und die Schließung einer größeren Anzahl von tschechischen Mittelschulen ist überhaupt nicht von dem Angeklagten, auch nicht im Auftrage des deutschen Reichsministeriums erfolgt, sondern von der Tschechischen Regierung selbst angeordnet worden, allerdings auf Anregung des Angeklagten. Die erwies sich deshalb als zweckmäßig und gerade im Interesse der tschechischen Jugend und damit der tschechischen Intelligenz und des Volkes liegend, um der Gefahr der Bildung und des Heranwachsens eines größeren Bildungsproletariats vorzubeugen. Diese Gefahr war dadurch akut geworden, daß nach der Eingliederung des sudetendeutschen Gebietes in das Deutsche Reich im Herbst 1938 eine sehr große Anzahl von tschechischen Beamten und Angehörigen der freien Berufe in das Protektoratsgebiet hereingeströmt waren, wodurch bei der Verkleinerung des Protektoratsgebietes durch die Abtrennung des Sudetenlandes und der Slowakei und der an sich schon bestehenden Überfüllung aller höheren Berufe die Beschäftigungs-und Verdienstmöglichkeiten der heranwachsenden Schüler der Mittelschulen noch mehr vermindert wurden. Hinzu kam die auf persönlichen Befehl Hitlers erfolgte Schließung der Hochschulen Mitte November 1939. Die Tschechische Regierung konnte sich der Richtigkeit dieser Überlegungen des Angeklagten nicht verschließen und verfügte selbst die Schließung einer ganzen Reihe von Schulen. Von dem Angeklagten wurde auf die Tschechische Regierung keinerlei Druck ausgeübt. Das hat die Beweisaufnahme erwiesen.

Die Auflösung tschechischer Turn- und Sportvereine und ähnlicher Organisationen aber erfolgte ohne Wissen und Mitwirkung des Angeklagten durch die ihm nicht unterstellte Polizei, ebenso wie die Beschlagnahme und Verwendung ihrer Vermögen. Es steht im übrigen nicht einmal fest, ob die Auflösung überhaupt noch während der Amtszeit des Angeklagten oder nicht erst nach seinem Fortgange erfolgt ist. Die Auflösung des Sokol aber war geradezu eine[325] Staatsnotwendigkeit im deutschen Interesse und im übrigen auch eine im Interesse der Befriedung und Aussöhnung des tschechischen Volkes liegende Maßnahme, denn der Sokol bildete unstreitig die Zentrale aller deutschfeindlichen Bestrebungen und der Aufhetzung des tschechischen Volkes zu aktivem Widerstand gegen alles, was deutsch war.

Geht schon aus den vorstehenden Darlegungen hervor, wie vielfältig die Eingriffe anderer Behörden und Dienststellen in die Verwaltung des Protektorats und dadurch die Schwierigkeiten und Widerstände gegen eine einheitliche Politik des Angeklagten waren, so wurden diese auch nicht behoben, sondern sogar noch verschärft durch die Verordnung vom 1. September 1939 über den Aufbau der Verwaltung und die deutsche Sicherheitspolizei – Dokumentenbuch 5, Nummer 149. Diese Verordnung ist ohne vorherige Fühlungnahme mit dem Angeklagten vom Ministerrat für die Reichsverteidigung erlassen worden. Auch sie ist besonders in ihrem Teil I völlig unklar und irreführend. Sie unterstellt zwar sämtliche deutschen Verwaltungsbehörden und deren Beamten im Protektorat dem Reichsprotektor, aber diese Unterstellung war nur eine behördenmäßige, das heißt rein äußerliche, nicht aber auch eine sachliche hinsichtlich der von ihnen zu bearbeitenden Verwaltungsgebiete. In dieser Hinsicht blieb es nach wie vor bei dem bisherigen Zustand, wie er sich schon aus dem Recht der obersten Reichsbehörden gemäß Artikel 11 des Erlasses vom 16. März 1939 und der Verordnung vom 22. März 1939 ergeben hatte. Der Unterschied war nur der, daß nunmehr auch alle von anderen Stellen eingerichteten oder in Zukunft einzurichtenden Behörden und Dienststellen formell der Behörde des Reichsprotektorats angegliedert wurden und unter der behördenmäßigen Bezeichnung »Der Reichsprotektor von Böhmen und Mähren« als Abteilungen desselben in Erscheinung traten. Das hatte aber nicht etwa zur Folge, daß diese dergestalt angegliederten Abteilungen auch in sachlicher Beziehung dem Reichsprotektor persönlich, also dem Angeklagten unterstellt wurden, von diesem ihre sachlichen Weisungen und Befehle zu erhalten hatten und in seinem Sinne nach seinen Richtlinien arbeiten mußten. Vielmehr erhielten sie nach wie vor ihre Weisungen von ihren ursprünglichen Reichsbehörden und hatten nur diese zu beachten und zu befolgen. So unterstand zum Beispiel die dergestalt bei dem Reichsprotektor gebildete sogenannte Transport abteilung, die das bereits im Erlaß vom 16. März 1939 von der Zuständigkeit des Reichsprotektors ausgenommene Verkehrswesen zu bearbeiten hatte, nach wie vor dem Reichsverkehrsministerium und nicht dem Reichsprotektor, hatte nicht von diesem, sondern von dem Ministerium in Berlin ihre Weisungen zu erhalten. Und so war es auch auf anderen Gebieten, auch auf dem Gebiet der reinen inneren Verwaltung.

[326] Durch diese Verordnung vom 1. September 1939 des Ministerrates für die Reichsverteidigung, nicht, wie die Tschechische Anklage fälschlich behauptet, durch eine Verordnung des Angeklagten wurde eine Neueinteilung des Protektoratsgebietes in Oberlandratsbezirke mit einem Oberlandrat an der Spitze vorgenommen, der nach Paragraph 6 der Verordnung die zwar dem Reichsprotektor behördenmäßig nachgeordnete Behördenstelle für sämtliche Verwaltungszweige der inneren Verwaltung ist und als solcher mit weitgehenden Vollmachten die Aufsicht auch über die tschechischen Behörden des Protektorats ausübt, und zwar nicht im Auftrage des Reichsprotektors, sondern des betreffenden Reichsministeriums in Berlin. Auch hieraus mußten sich schwerwiegende Differenzen und Gegensätze zwischen der von diesen Oberlandräten nach den ihnen von dem Reichsinnenministerium in Berlin erteilten Weisungen vorgenommenen Maßnahmen und der von dem Angeklagten verfolgten Politik ergeben. Wie weit aber durch diese die tschechischen Verwaltungsbehörden in Mitleidenschaft gezogen und beeinflußt wurden, kann dahingestellt bleiben, denn auch diese Verordnung und die aus ihr resultierende Einschaltung reichsdeutscher Beamter in die Tätigkeit der tschechischen Verwaltungsbehörden ist kein Verbrechen, wie es in dem Statut dieses Gerichts unter Strafe gestellt ist. Auch diese Verordnung ist nur eine Folge der Zugehörigkeit des Protektorats zum Deutschen Reich.

Klarheit wurde dagegen durch diese Verordnung geschaffen in der Frage der Stellung der Polizei, und zwar sowohl der politischen wie der Sicherheitspolizei innerhalb des Protektoratsgebietes. Diese Frage war bis zu dieser Verordnung völlig ungeklärt und hatte vom ersten Tage der Tätigkeit Herrn von Neuraths an zu Differenzen und Unzuträglichkeiten zwischen ihm und seinem Staatssekretär Frank geführt.

Als Hitler dem Angeklagten nach seiner Aussage das Amt des Reichsprotektors übertrug, hatte er ihm große Machtvollkommenheiten zugesichert, insbesondere den Schutz und die volle Unterstützung der vom Angeklagten beabsichtigten Politik der Versöhnung und des Ausgleiches gegen radikale Bestrebungen der Partei und sonstiger chauvinistischer Kreise. Der Angeklagte hat daraus entnommen, daß er als Vertreter des Führers im Protektorat bestimmenden Einfluß auch auf die Tätigkeit der Polizei haben müßte und haben werde. Daß ihm dadurch, daß die Polizei ihm nicht ausdrücklich und von Anfang an unterstellt wurde, ein großer Teil der von ihm angenommenen Wirkungsmöglichkeit von vornherein illusorisch gemacht wurde, hat der Angeklagte nach seiner eigenen Aussage damals nicht übersehen können. Aus dem Umstande aber, daß der zum Höheren SS- und Polizeiführer im Protektorat ernannte Frank gleichzeitig zu seinem Staatssekretär [327] gemacht und ihm als solcher unterstellt wurde, konnte der Angeklagte sehr wohl das Bestreben Hitlers entnehmen, die Befehlsgewalt über die Polizei zwar nicht bei ihm, dem Angeklagten selbst, aber wenigstens bei seiner Behörde, nämlich seinem Staatssekretär zu zentralisieren. In der Praxis entwickelte sich dieses Verhältnis dann aber völlig anders, da der Staatssekretär Frank gar nicht daran dachte, seinen Behördenchef, den Angeklagten, irgendwie in die Tätigkeit der Polizei einzuschalten, sondern nur die Zuständigkeit und Befehlsgewalt Himmlers, seines Vorgesetzten als SS- und Polizeiführer beziehungsweise dessen Reichssicherheitshauptamtes anerkannte.

Dieser tatsächliche Zustand ist durch die Verordnung vom 1. September 1939 gesetzlich festgelegt worden. Denn diese bringt eindeutig zum Ausdruck, daß die deutsche Sicherheitspolizei und damit auch die Gestapo dem Reichsprotektor nicht unterstellt war. Das ergibt sich schon rein äußerlich aus der Tatsache, daß sie die beiden Sachgebiete Verwaltung und Polizei völlig voneinander trennt, indem sie in ihrem Teil I den Aufbau der deutschen Verwaltung im Protektorat, die dem Reichsprotektor untersteht, und in Teil II völlig getrennt davon die deutsche Sicherheitspolizei behandelt. Diese untersteht nicht dem Reichsprotektor, sondern wird in die eigene Verwaltung des Reiches übernommen, wie es schon in Artikel 5, Absatz 5 des Erlasses vom 16. März 1939 vorbehalten war, das heißt, sie erhält ihre Befehle vom Chef der Polizei in Berlin, das heißt Himmler direkt, zum Teil auch durch Einschaltung des Höheren SS- und Polizeiführers in Prag. Für das Verhältnis der Polizei zum Reichsprotektor ist maßgebend der zweite Satz des Paragraphen 11. Er lautet:

»Die Organe der deutschen Sicherheitspolizei haben die Ergebnisse ihrer Nachforschungen zu sammeln und auszuwerten, um danach den Reichsprotektor und die ihm nachgeordneten Dienststellen über wichtige Ereignisse zu unterrichten und ihn auf dem Laufenden zu halten und Anregungen zu geben.«

Dies bedeutet, daß der Reichsprotektor rechtlich wie tatsächlich nicht die Möglichkeit hatte, die Aktionen der Polizei in irgendeiner Form zu beeinflussen. Er konnte nicht ihren von Berlin ergangenen Befehlen vor ihrer Ausführung widersprechen. Ganz abgesehen davon, daß er sie gar nicht zu sehen bekam, hatte er aber auch dazu gar kein Recht. Er hatte nur einen Anspruch, nachträglich über bereits getroffene Maßnahmen von der Polizei unterrichtet zu werden, und auch dies geschah, wie durch die Beweisaufnahme erwiesen ist, nur in den seltensten Fällen. Das Recht oder die Möglichkeit, selbst der Polizei Befehle zu erteilen, hatte er überhaupt nicht.

[328] Unweigerlich mußten sich bei der ganz anders gearteten Einstellung Franks wie der des Herrn von Neurath zum tschechischen Volk infolge dieser Trennung der Gewalten von Anfang an Gegensätze und schärfste Differenzen zwischen beiden ergeben. Denn Frank war als Sudetendeutscher und einer der Führer der Sudetendeutschen von Haß und Rachsucht gegen alles, was tschechisch war, erfüllt. Von einer Verständigung, einer Versöhnung und Aussöhnung zwischen dem deutschen und tschechischen Volk wollte er nichts wissen und hat vom ersten Tage seiner Tätigkeit an dieser seiner antitschechischen Gesinnung freien Lauf gelassen.

Zunächst, das heißt bis zum Ausbruch des Krieges, war allerdings die Tätigkeit der Polizei noch gering, so daß diese Gegensätzlichkeit noch nicht so sehr stark in Erscheinung trat und Herr von Neurath infolgedessen annehmen durfte, daß sich diese Gegensätze allmählich abschleifen und Frank sich seinen Wünschen und Bestrebungen anpassen und gefügig zeigen werde, und er, der Angeklagte, die Notwendigkeit einer gesetzlich fundierten Einflußnahme auf die Polizei durch ihn noch nicht erkannte. Als er dann aus der allmählich zunehmenden Aktivität der Polizei und ihren Ausschreitungen ersehen mußte, daß seine Erwartungen sich nicht erfüllten, ist er nach der übereinstimmenden Aussage des Zeugen Dr. Völckers und von Holleben immer und immer wieder bei Hitler schriftlich und mündlich dahin vorstellig geworden, diesen verhängnisvollen Zustand zu ändern und ihm und nur ihm die Polizei zu unterstellen. Doch alle Versprechungen und Zusicherungen Hitlers erwiesen sich als trügerisch; die Unterstellung der Polizei unter Herrn von Neurath erfolgte nicht. Aber er wollte den Kampf nicht so schnell aufgeben, wollte nicht an der von ihm übernommenen Aufgabe verzweifeln, nun gerade wollte er versuchen, sich und seine Politik doch noch durchzusetzen und wenn ihm dies nicht gelang, so doch wenigstens nachträglich die Folgen und Härten der polizeilichen Maßnahmen sowohl im großen wie im einzelnen abzuschwächen und zu mildern. Daß er sich zu diesem Zweck alle Fälle polizeilicher Maßnahmen und Taten, wie Verhaftungen und sonstige Ausschreitungen, soweit er von ihnen, zumeist von tschechischer Seite Kenntnis erhielt, persönlich genauestens Vortrag halten ließ und sich, wo er nur konnte, für die Freilassung der Verhafteten oder sonstige Milderungen einsetzte, geht aus den Aussagen aller von mir gestellten Zeugen hervor, vor allem der des Dr. Völckers, der als Leiter des Büros des Angeklagten dauernd mit Eingaben dieser Art zu tun hatte. Es ergibt sich im übrigen auch aus den von der Anklage selbst beigebrachten Dokumenten wie der Aufzeichnung des Angeklagten über seine Besprechung mit Staatspräsident Hácha vom, 26. März 1940 – Anlage 5 zu Zusatz Nummer 1, USSR-60 – und selbst aus der der Spezialanklage beigefügten Aussage Bienerts, der selbst von der Polizei verhaftet war und auf[329] Intervention des Angeklagten hin binnen kürzester Frist wieder freigelassen wurde.

In der Frage der Verantwortlichkeit des Angeklagten für die Maßnahmen der Polizei stimmen sämtliche Aussagen überein mit der einen Ausnahme der während der Beweisaufnahme vorgelegten Aussage Franks vom 7. März 1946. Diese aber steht in direktem Widerspruch zu seiner eigenen früheren Aussage. Bei seiner Vernehmung am 30. Mai 1945 – Dokumentenbuch 5, Nummer 153 – hat Frank wörtlich ausgesagt:

»Die Polizei war indessen der Behörde des Reichsprotektors nicht unterstellt... Beide, Gestapo und Sicherheitspolizei, erhielten ihre Weisungen und Befehle direkt vom Reichssicherheitshauptamt in Berlin.«

Für die Art, wie die Polizei unmittelbar von Berlin und ohne Einschaltung des Reichsprotektors ihre Weisungen erhielt, ist auch typisch die Aussage Franks vom 5. Mai 1945 über die Studentenunruhen-Dokumentenbuch 5, Nummer 152. Frank spricht darin von dem Bericht, den er über die ersten Demonstrationen nach Berlin sandte: Er hätte um Weisungen gebeten und diese umgehend aus dem Führerhauptquartier erhalten, sie wären von Berlin direkt an die Sicherheitspolizei in Prag gesandt worden, und er, Frank, habe sie selbst von dieser erhalten. Von der Person oder auch nur von der Behörde des Reichsprotektors ist bei dem ganzen Vorgang überhaupt nicht die Rede, es ist eine interne Angelegenheit der Polizei unter Einschaltung des Höheren SS- und Polizeiführers Frank.

Ich möchte wegen der Wichtigkeit dieses Punktes ausdrücklich noch Bezug nehmen auf die Aussagen der Zeugen von Burgsdorff und Völckers, die beide auf Grund ihrer Dienststellung während der ganzen Amtszeit des Angeklagten mit dieser Frage genau vertraut waren. Burgsdorff hat ausgesagt, die Polizei habe Frank unterstanden, der seine Befehle direkt von Himmler bekam. Völckers sagt, der Angeklagte hätte keinen Einfluß auf die Tätigkeit Franks und damit der Polizei gehabt. In der Praxis wäre von Anfang an die Polizei und damit auch der Staatssekretär Frank mit ihren Maßnahmen völlig unabhängig von dem Angeklagten gewesen, was später durch die Verordnung vom 1. September 1939 auch gesetzlich bestätigt worden wäre. Über das Verhältnis des Angeklagten zu Frank sagen sämtliche Zeugen auch in den schriftlichen Aussagen, es sei denkbar schlecht gewesen.

Bei dieser Sachlage ist es ganz ausgeschlossen, daß der Chef des SD und der Sicherheitspolizei als politischer Referent des Angeklagten tätig gewesen sein soll. Eine Verfügung über die Ernennung dieses Mannes vom Mai 1939, auf die in dem Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei – USSR-487 – Bezug genommen [330] wird, ist dem Angeklagten überhaupt nicht erinnerlich. Jedenfalls ist er nach seiner bestimmten Aussage niemals in Funktion getreten. Das Dokument USSR-487 erscheint demgegenüber nicht beweiskräftig. Die mir von der Anklage übergebene Kopie trägt das Datum vom 21. Juli 1943. Schon daraus ergibt sich von selbst, daß die Ernennung des SD-Führers, wenn sie überhaupt erfolgt ist, während der ganzen Amtszeit des Angeklagten nicht durchgeführt worden ist. Unabhängig von der Datierung aber ergibt sich aus dem Betreff des Schreibens, daß es sich bei dieser Ernennung gar nicht um einen politischen Referenten beim Reichsprotektor persönlich, sondern bei dem Staatssekretär für das Sicherheitswesen, also bei Frank, handelte. Die Anrede »Der Herr Reichsprotektor« ist nur so zu verstehen, daß damit nicht die Person, sondern die Behörde gemeint ist. Es war im deutschen Behördenleben üblich, vom »Herrn« Reichsminister und so weiter zu sprechen, auch wenn man ihn nicht persönlich meinte, sondern irgendeine Abteilung seiner Behörde. Daß der SD-Führer als politischer Referent des Staatssekretärs, der gleichzeitig der Staatssekretär der Behörde des Angeklagten und selbständiger Staatssekretär für das Sicherheitswesen war, eingesetzt wurde, ist durchaus glaubwürdig und wahrscheinlich.

Wie mein Klient selbst aber über die Art und Weise der Beruhigung der Stimmung der Bevölkerung und der Verhinderung beziehungsweise Vorbeugung von Gewalttaten und Widersetzlichkeiten dieser dachte, ergibt sich gerade aus der ihm von der Anklage zum Vorwurf gemachten sogenannten »Warnung« vom Ende August 1939. Mit dieser bezweckte der Angeklagte nach seiner eidlichen Aussage gerade die Abschreckung der Bevölkerung von der Begehung von Gewalttaten und eine Verhinderung insbesondere von Sabotageakten, mit denen in dieser Zeit politischer Hochspannung vor dem Kriege gerechnet werden mußte und damit eine Vermeidung von scharfen polizeilichen oder gerichtlichen Maßnahmen, die die Bevölkerung nur noch mehr erbittern mußten. Es ist ohne Zweifel humaner, eine solche Warnung zu erlassen, um damit die Begehung von Verbrechen überhaupt zu verhindern, als sie ohne vorherige Warnung geschehen zu lassen und sie dann hart zu bestrafen. Daß Sabotageakte, wenn es nicht gelang, sie zu verhüten, in solchen Zeiten hart bestraft werden mußten, würde sicher auch in jedem anderen Lande anerkannt worden sein und ist eine Selbstverständlichkeit. Die Warnung hat, wie der Angeklagte ausgesagt hat, ihren Zweck erfüllt. Besondere Strafen sind in ihr überhaupt nicht angedroht oder festgesetzt worden; sie enthält gar keine besondere Strafdrohung, sondern bezog sich, wie der Wortlaut ergibt, nur auf bereits vorhandene Strafbestimmungen.

Der Satz »Die Verantwortung für alle Sabotageakte treffen nicht nur den Täter, sondern die ganze tschechische Bevölkerung« bezieht [331] sich selbstverständlich, wie auch der Angeklagte bestätigt hat, nur auf die moralische Verantwortung und nicht auf die strafrechtliche. Er bedeutet, daß im Falle der Begehung von wiederholten schweren Sabotageakten in den betreffenden Gebieten allgemeine Maßnahmen eingeführt werden würden, wie zum Beispiel Beschränkung der Polizeistunde, Ausgehverbote oder allgemeine Verkehrs-oder Stromsperren, unter denen dann die gesamte Bevölkerung zu leiden haben würde. Eine strafrechtliche Verantwortung hätte wesentlich konkreter gefaßt wer den müssen. Im Anfang der Proklamation ist ausdrücklich bestimmt, daß jeder, der die angeführten Handlungen begeht, sich damit als Feind des Reiches zeigt und entsprechend bestraft werden muß. Gerade dieser Satz zeigt, daß die strafrechtliche Behandlung eines solchen Sabotageaktes eben durchaus individuell erfolgen sollte. Es wäre zu dieser Zeit niemand in Prag, nicht einmal der Chef der Polizei, auf den Gedanken gekommen, hier Gesamtstrafen zu statuieren oder gar, wie die Anklage ohne jede Begründung behauptet, damit das Geiselsystem einzuführen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch auf die Aussage des Zeugen von Holleben verweisen – Dokumentenbuch 5, Nummer 158 – in der er sagt:

»Neurath hat es daher stets abgelehnt, einen Menschen für die Handlungen eines anderen verantwortlich zu machen.«

Nach allem vorher Gesagten ergibt sich weiter, daß auch für die Verhaftungen zur Zeit der Besetzung des tschechischen Gebietes und für die bei Ausbruch des Krieges erfolgten Verhaftungen von, wie die Anklage behauptet, 8000 prominenten Tschechen als Geiseln und deren Verbringung in Konzentrationslager beziehungsweise Hinrichtung, der Angeklagte von Neurath nicht verantwortlich gemacht werden kann. Diese Verhaftungen sind nach der Aussage des Angeklagten, mit der auch die Aussagen von Frank übereinstimmen, auf direkten Befehl von Berlin ohne Wissen und ohne Verständigung nicht nur des Angeklagten, sondern auch von Frank selbst erfolgt. Die von der Anklage vorgelegte gegenteilige Aussage Bienerts ist objektiv unrichtig und beruht auf völlig unlogischen und unrichtigen Schlußfolgerungen. Seine Schlußfolgerung, daß diese ganze Aktion unter Leitung des Angeklagten gestanden habe, weil dessen Befehl zur Entlassung Bienerts bereits vier Stunden nach seiner Verhaftung ergangen sei, entbehrt jeder Schlüssigkeit und ist objektiv falsch.

Unumstößlich fest steht schließlich auf Grund der Beweisaufnahme, daß der Angeklagte auch nicht für den Befehl zur Erschießung von neun Studenten und Verhaftung von zirka 1200 Studenten in der Nacht vom 16. zum 17. November 1939 verantwortlich ist, daß diese tatsächlich nur als Terrorakte zu [332] bezeichnenden Maßnahmen ohne sein Wissen und in seiner Abwesenheit von Prag von Hitler persönlich angeordnet und auf dessen direkten Befehl von Frank erfolgt sind und daß auch die sie veröffentlichende Bekanntmachung vom 17. November 1939 von ihm weder erlassen noch unterschrieben, sein Name unter derselben vielmehr mißbraucht worden ist. Wie durch die Aussagen des Angeklagten selbst, durch diejenige des Zeugen Dr. Völckers, der den Angeklagten auf seiner Reise nach Berlin vom 16. November 1939, dem Tage nach den Studentenunruhen begleitet hat und mit ihm zusammen erst am 17. November nachmittags aus Berlin nach Prag zurückgekehrt ist, ferner durch die schriftliche Aussage des Herrn von Holleben und schließlich durch die Affidavits der Sekretärin des Angeklagten, Fräulein Friedrich, Dokumentenbuch 5, Nummer 159 und der Baronin Ritter einhellig bestätigt wird, war der Angeklagte in der Nacht vom 16. zum 17. November, als die Erschießungen und Verhaftungen erfolgten, überhaupt nicht in Prag, sondern in Berlin, und auch die Bekanntmachung dieser Vorgänge war bereits an den Häusermauern von Prag angeklebt, als der Angeklagte wieder in Prag eintraf. Den Angeklagten trifft nicht die geringste Verantwortung für diese Scheußlichkeiten. Der Befehl zu ihnen war vielmehr, ebenso wie der gleichzeitige Befehl zur Schließung der Hochschulen, direkt von Hitler in Berlin an Frank gegeben worden, und zwar, wie der Zeuge Völckers ausdrücklich bestätigt, in Abwesenheit und ohne Wissen des Angeklagten. Welcher Wert demgegenüber der von der Anklage vorgelegten Aussage des Dr. Havelka beigelegt werden kann, ergibt sich von selbst.

Die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen Havelka wie auch aller anderen von der Anklage vorgelegten tschechischen Zeugenaussagen muß überhaupt mit allergrößter Vorsicht geprüft werden. Sie unterliegen von vornherein zwei schwerwiegenden Bedenken. Einmal handelt es sich bei allen diesen Zeugen um Mitglieder der ehemaligen autonomen Tschechischen Regierung, also um sogenannte Kollaborationisten, die heute deswegen in Haft sind und ihrer Aburteilung entgegensehen. Es ist menschlich nur allzu verständlich, wenn sie heute nicht nur die damaligen Verhältnisse unter einem anderen Licht sehen, anders beurteilen, als sie in Wirklichkeit waren, und sie unwillkürlich in ihrer Erinnerung die furchtbaren Dinge, die nach dem Weggange Herrn von Neuraths aus Prag geschehen sind, mit den Ereignissen unter diesem vermischen und sich dadurch eine Trübung ihrer Erinnerung ergibt. Auch darf nicht übersehen werden, daß sie sich in einem ganz natürlichen Bestreben durch eine Belastung Herrn von Neuraths selbst zu entlasten hoffen. Des weiteren kommt hinzu – und das ist fast noch wichtiger –, daß sie gar keine Kenntnis von den inneren tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen und Zuständigkeiten innerhalb [333] der Behörde des Reichsprotektors hatten und haben konnten und daher gar nicht zu beurteilen vermögen, wie weit in Wirklichkeit der Angeklagte selbst derjenige war, der die einzelnen Anordnungen und Befehle erlassen oder veranlaßt hat. Ein Beispiel zeigt dies ganz klar: In der Aussage des Zeugen Kalfus wird behauptet, daß der Angeklagte für den Zollanschluß des Protektorats an das Deutsche Reich verantwortlich sei. Dazu verweise ich nur dar auf, daß bereits in dem Erlaß Hitlers vom 16. März 1939 ausdrücklich bestimmt ist, daß das Protektorat zum Zollgebiet des Reiches gehört. Wenn weiter der Zeuge Bienert behauptet, daß Herr von Neurath derjenige gewesen sei, der die politische Verwaltung Böhmens und Mährens, und zwar sowohl die staatliche wie die Gemeindeverwaltung, den Deutschen unterstellte, so ist auch das objektiv unrichtig, denn wie ich bereits nachgewiesen habe, erfolgte diese Unterstellung durch die Verordnung vom 1. September 1939, die nicht von dem Angeklagten, sondern von dem Ministerrat für die Reichsverteidigung erlassen worden ist. Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie wenig glaubwürdig die ganzen Aussagen sind und wie wenig die Zeugen über die tatsächlichen Organisations- und Befehlsverhältnisse innerhalb der Behörde des Reichsprotektors orientiert waren. So ist zum Beispiel die immer wiederkehrende Behauptung der Zeugen, daß die Verhaftungen und vielfachen sonstigen Zwangsmaßnahmen der Gestapo gegen die tschechische Bevölkerung auf Befehl oder Anweisung des Angeklagten persönlich erfolgt seien, entweder eine bewußte Unwahrheit oder ein Beweis für ihre Unkenntnis selbst der veröffentlichten und im tschechischen Verordnungsblatt bekanntgemachten amtlichen Verordnungen. Denn, wie ich bereits nachgewiesen habe, unterstand die Gestapo überhaupt nicht der Befehlsgewalt des Angeklagten. Die Schlußfolgerungen hieraus für die Glaubwürdigkeit aller Zeugen ergeben sich von selbst. Daß demgegenüber die eidlichen Aussagen des Angeklagten und der von mir beigebrachten Zeugen in Verbindung mit den dazu vorgelegten Verordnungen eine ganz andere Glaubwürdigkeit verdienen, liegt auf der Hand.

So ist denn auch die Behauptung der tschechischen Anklageschrift und der ihr zugrunde liegenden Zeugenaussagen, daß Herr von Neurath Mitte November 1939 die Schließung der Hochschulen angeordnet habe, als objektiv unrichtig widerlegt: Die Schließung der Hochschulen erfolgte vielmehr auf ausdrücklichen Befehl Hitlers. Gegen sie hat der Angeklagte, wie die Beweisaufnahme einwandfrei ergeben hat, bei Hitler sofort protestiert und erreicht, daß dieser ihm zusagte, die Hochschulen nach Ablauf von einem Jahr statt erst nach drei Jahren wieder zu eröffnen. Daß Hitler dann sein Versprechen nicht gehalten hat, kann dem Angeklagten nicht zur Last gelegt werden. Die Tatsache seiner Bemühungen um [334] die Zurücknahme der Schließung der Hochschulen beweist aber, wieviel ihm an der Erhaltung des Bildungsniveaus und der Intelligenzschichten des tschechischen Volkes gelegen war.

Und wie in diesem Fall hat sich der Angeklagte, wo er nur konnte, für das tschechische Volk in seiner Gesamtheit und im einzelnen eingesetzt. Dies gilt in besonderem Maße auf dem Gebiet der unheilvollen Tätigkeit der Polizei und der Gestapo, soweit er von dieser Kenntnis erhielt. So hat er auch nach seiner eigenen Aussage, die durch diejenige des Zeugen Dr. Völckers bestätigt ist, sich sofort nach der Verhaftung der Studenten Mitte November 1939 mit aller Energie und unausgesetzt für ihre Wiederfreilassung eingesetzt, und es ist ihm, wie wir nicht nur aus seinem Munde, sondern auch von Dr. Völckers gehört haben, bis zu seinem Fortgang aus Prag am 27. September 1941 gelungen, fast alle Studenten wieder freizubekommen. Und in gleicher Weise hat er sich auch unausgesetzt für die Freilassung der bei Kriegsausbruch verhafteten zirka 8000 prominenten Tschechen eingesetzt. Auch diese Verhaftungen waren ja, wie durch seine eidliche Aussage erwiesen ist, nicht, wie von den tschechischen Zeugen Bienert, Krejci und Havelka wahrheitswidrig behauptet wird, von ihm, nicht einmal von Frank oder einem anderen Höheren SS-oder Polizeiführer im Protektorat, sondern auf direkten Befehl von Berlin erfolgt. Dem Angeklagten ist es übrigens auch zu danken, daß der im Jahre 1941 auf Betreiben von Frank und Himmler ergangene Befehl Hitlers zur Absetzung und Verhaftung des damaligen tschechischen Ministerpräsidenten General Elias auf seine persönliche Intervention von Hitler zurückgezogen wurde. Erst nach seinem Fortgang ist Elias von Heydrich verhaftet und später vom Volksgericht zum Tode verurteilt worden.

Positiv unrichtig ist die Behauptung des tschechischen Zeugen Bienert, daß der Angeklagte die Verschickung von tschechischen Arbeitern in das Reich bewerkstelligt, das heißt tschechische Arbeiter zwangsweise nach Deutschland deportiert habe. Wahr ist vielmehr, daß während der ganzen Amtstätigkeit des Angeklagten nicht ein einziger tschechischer Arbeiter zwangsweise nach Deutschland verschickt worden ist. Bis zum 27. September 1941 hatten im übrigen noch in keinem der von Deutschland besetzten Gebiete zwangsweise Deportationen von Arbeitern stattgefunden. Dies geschah erst später. Wohl aber sind viele tschechische Arbeiter freiwillig und gern ins Reich gegangen und haben dort Arbeit genommen, denn dort verdienten sie gerade infolge des festgesetzten Wechselkurses der Reichsmark und infolge höherer Löhne erheblich mehr als in Prag und konnten recht erhebliche Teile ihres Verdienstes an ihre Angehörigen im Protektorat senden.

[335] Wenn die tschechische Anklageschrift weiter den Angeklagten für die Verbringung von verhafteten Personen in Konzentrationslager durch die Gestapo und für in diesen an ihnen begangene Mißhandlungen verantwortlich machen will, so muß dazu mit aller Schärfe festgestellt werden einmal, daß bis zum 27. September 1941, dem Ende der amtlichen Tätigkeit des Angeklagten im Protektorat, nicht ein einziges Konzentrationslager im Protektorat existierte. Sie sind alle erst unter seinem Nachfolger nach seinem Fortgang errichtet worden. Auch die Verordnung über die Schutzhaft und Vorbeugungshaft, die ihm die tschechische Anklageschrift anscheinend ebenfalls zur Last legen will, ist, wie die dem tschechischen Bericht – USSR-60 – beigefügte Abschrift ergibt, erst nach seinem Abgang, nämlich am 9. März 1942 ergangen.

Was schließlich die Beschuldigungen der Anklage bezüglich der angeblichen Maßnahmen des Angeklagten gegen die Juden anbetrifft, so entspricht auch hier die Darstellung der Anklage nicht den Tatsachen und erweist sich bei näherer Prüfung der von der Anklagebehörde selbst dazu vorgelegten Dokumente als unrichtig. Von den sämtlichen in dem britischen Dokumentenbuch Nummer 12 B enthaltenen 21 Verordnungen sind im ganzen nur vier von dem Angeklagten selbst unterschrieben, sechs vom Reichsministerium direkt erlassen und zehn von dem Staatssekretär Frank beziehungsweise dem diesen direkt unterstellten Dr. von Burgsdorff herausgegeben worden, eine ist von dem tschechischen Staatspräsidenten Hácha erlassen. Die erste von Herrn von Neurath selbst unterschriebene Verordnung vom 21. Juni 1939, welche nichts anderes enthielt als die Einführung der im ganzen Deutschen Reich geltenden Vorschriften über die Behandlung des jüdischen Vermögens in dem seit dem 16. März 1939 ebenfalls zum Deutschen Reich gehörenden Protektorat, war dem Angeklagten bereits gleich bei Antritt seines Amtes von Berlin aus vorgeschrieben worden. Die Tatsache, daß sie aber erst am 21. Juni 1939, also drei Monate später, von dem Angeklagten herausgegeben wurde, beweist die Richtigkeit seiner Erklärung, daß er den Juden Zeit geben wollte, sich auf die Einführung der reichsdeutschen Judengesetzgebung vorzubereiten. Ihre Hinausschiebung bis zu diesem Tage erfolgte im ausgesprochenen Interesse der Juden. Die zweite von dem Angeklagten selbst erlassene Verordnung vom 16. September 1940 schrieb lediglich eine Deklarationspflicht über im Besitz von Juden befindliche Sicherheiten, das heißt Pfändern vor und entsprach den im Deutschen Reich ebenfalls vorgeschriebenen mannigfachen Verordnungen für alle deutschen Staatsangehörigen gleicher oder ähnlicher Art. Die dritte von ihm selbst erlassene und unterschriebene Verordnung vom 5. März 1940 bezweckte, ebenso wie die vierte vom 14. September 1940, wie ihr Inhalt ganz eindeutig ergibt, den Juden die durch die Entwicklung der Dinge im Deutschen Reich unvermeidlich [336] gewordene Auswanderung zu ermöglichen und zu erleichtern. Beide Verordnungen waren also gerade im Interesse der Juden erlassen worden und beweisen, daß der Angeklagte nicht judenfeindlich eingestellt war. Daß er die Maßnahmen gegen die Juden, vor allem gewaltsame Maßnahmen gegen sie, nicht billigte, sondern bekämpfte, geht aus allen hierzu von mir vorgelegten Dokumenten, unter anderm dem Zeitungsbericht über den Judenboykott im Frühjahr 1933 – Dokumentenbuch 1, Nummer 9 – und den beigebrachten Zeugenaussagen hervor. Derartige Maßnahmen würden seiner ganzen christlichen und humanen Einstellung und Lebensauffassung zuwider gewesen sein, wie sie sich insbesondere aus der Aussage des Zeugen Dr. Köpke ergibt. Feststeht, daß bis zu seinem Weggang aus Prag keine einzige Synagoge geschlossen worden ist und auch keine Einschränkungen in religiöser Hinsicht gegen die Juden erfolgt sind. Daß der Angeklagte nicht verantwortlich gemacht werden kann für die sechs vom Reichsinnenministerium erlassenen Verordnungen, bedarf keines besonderen Beweises. Aber auch für die von Frank und Herrn von Burgsdorff unterschriebenen Verordnungen trägt er angesichts der geschilderten selbständigen Stellung des Staatssekretärs Frank und der Zuständigkeit der Polizei für die Behandlung aller Judenfragen keine Verantwortung. Besonderer Betonung aber bedarf gegenüber den Behauptungen der Anklageschrift die Tatsache, daß nach seiner eigenen eidlichen Aussage während seiner ganzen Amtsführung keine Judenverfolgungen vorgekommen sind.

Seine vorerwähnte humane christliche Lebens- und Weltanschauung läßt aber auch die in dem tschechischen Bericht vom 4. September 1945 – 998-PS – aufgestellten Behauptungen über eine angeblich antikirchliche Haltung des Angeklagten von vorneherein wenig wahrscheinlich erscheinen. Dieser Bericht ist allerdings in der tschechischen Anklageschrift vom 14. November 1945 – USSR-60 – nicht zum Gegenstand der Anklage gemacht, aber ich möchte trotzdem kurz darauf eingehen.

Nach der Beweisaufnahme steht fest, daß das Verhältnis zwischen Herrn von Neurath und dem Erzbischof von Prag ein recht gutes, ja freundschaftliches war, und letzterer sich ausdrücklich bei ihm für seine Unterstützung der Kirchen bedankt hat, was bestimmt nicht der Fall gewesen wäre, wenn er kirchenfeindlich eingestellt gewesen oder die Kirchen und deren Organisationen und Geistliche von ihm unterdrückt oder sonstwie verfolgt worden wären. Daß es dabei auch zu Differenzen in dienstlichen Angelegenheiten gekommen sein mag, wie es offenbar nach dem von der Anklage hierzu vorgelegten Schreiben des Erzbischofs der Fall gewesen ist, ist gewiß nichts Ungewöhnliches – Staat und Kirche haben immer und zu allen Zeiten und in allen Ländern Differenzen miteinander gehabt – kann aber unter keinen Umständen als ein Beweis für [337] eine kirchenfeindliche Politik des Angeklagten angesehen werden. Daß Geistliche verhaftet worden sind, mag richtig sein; aber dann sind erstens einmal die Verhaftungen nicht vom Angeklagten, sondern von der ihm nicht unterstehenden Polizei angeordnet worden, und zweitens, soweit der Angeklagte von ihnen Kenntnis bekommen hat, nicht wegen ihrer kirchlichen Betätigung, sondern wegen ihrer politischen Umtriebe. Es ist aus dem angezogenen tschechischen Bericht auch nicht ersichtlich, daß die in ihm behaupteten Aktionen gegen die Kirche, deren Organisationen und Geistliche überhaupt während der Amtszeit des Angeklagten erfolgt sind. Von ihm sind, das steht nach der Beweisaufnahme fest, keinerlei kirchen- oder religionsfeindliche Maßnahmen veranlaßt worden; Wallfahrten zu den tschechischen religiösen Heiligtümern zum Beispiel sind von ihm ausdrücklich gestattet worden.

An dieser Stelle möchte ich noch besonders erwähnen, daß der Angeklagte sich auch keinerlei Verletzungen des tschechischen Nationalgefühls schuldig gemacht hat. Entgegen der Behauptung der Anklage sind von ihm keine Masaryk-Häuser zerstört oder geschlossen worden, wie die Anklage ihm vorwerfen will. Soweit Schließungen von Masaryk-Häusern vorgekommen sind, sind hierfür verantwortlich aus schließlich die ihm nicht unterstehende Polizei und die SS. Wie er zu der Frage des tschechischen Nationalgefühls stand, geht wohl am besten aus der Tatsache hervor, daß er die üblichen Kranzniederlegungen an den Masaryk-Denkmälern ausdrücklich gestattet hat.

Ebensowenig sind von dem Angeklagten trotz aller diesbezüglichen Versuche radikaler Elemente irgendwelche kulturfeindlichen Schritte unternommen worden. Das tschechische Theaterleben blieb völlig unangetastet und frei, auch das tschechische Schrifttum und die tschechische Literatur wurde bis auf das selbstverständliche Verbot deutschfeindlicher oder hetzender Werke in keiner Weise unterdrückt oder beeinträchtigt. Auch die Presse, die im übrigen nicht von ihm, sondern vom Reichspropagandaministerium kontrolliert und zensiert wurde, ist keinen anderen Beschränkungen unterworfen worden als die reichsdeutsche Presse, wie es überhaupt das Bestreben des Angeklagten war, das tschechische Kulturleben in seiner Eigenart und Selbständigkeit zu erhalten und zu fördern. Ich glaube, mich hierüber nicht des näheren verbreitern zu müssen, sondern möchte mich mit dem Hinweis auf seine eigenen diesbezüglichen Aussagen und der darüber vernommenen deutschen Zeugen begnügen. Aus diesen Aussagen ist aber auch deutlich ersichtlich, mit welchen Schwierigkeiten und Widerständen seitens gewisser radikaler Kreise und Behörden, nicht zum wenigsten seitens seines eigenen Staatssekretärs Frank er bei diesen seinen Bemühungen in seiner ganzen Politik gegenüber dem tschechischen Volk zu kämpfen hatte.

[338] Wenn man ein Resumé seiner amtlichen Tätigkeit ziehen will, so war sein ganzes Leben in Prag ein einziger Kampf, ein Kampf gegen die von Himmler inspirierten und geleiteten Kräfte, ein Kampf, der um so schwieriger war, als ihm eben tatsächlich nicht die volle Macht im Protektorat zustand, ihm gerade die auf innenpolitischem Gebiet wichtigsten und einflußreichsten Stellen und Behörden, die gesamte Polizei und die Gestapo, nicht unterstanden. Trotzdem hat er diesen Kampf nicht aufgegeben, ist er nicht müde geworden, immer wieder bei Hitler zu protestieren und Abhilfe zu fordern, in vielen Fällen mit Erfolg, in anderen Fällen ohne Erfolg. Bis zum letzten hat er gekämpft, hat er sich auch durch Mißerfolge nicht abschrecken lassen, ist er der von ihm verfolgten, auf Versöhnung und Ausgleich, auf Befriedung und Erhaltung des tschechischen Volkes und seiner nationalen Eigenheit gerichteten Politik treu geblieben. Und als, er auch hier wieder im Herbst 1941 erkennen mußte, daß sein weiterer Kampf aussichtslos war, daß der Einfluß Himmlers auf Hitler größer war als der seine, daß Hitler nunmehr zu einer Politik der Gewalt und des Terrors überzugehen und zu diesem Zwecke den als Bluthund bekannten Heydrich nach Prag zu entsenden sich entschlossen hatte, da hat er ebenso wie im Winter 1937/1938 als Außenminister sofort die Konsequenzen gezogen und sein Amt niedergelegt, Prag verlassen und, sich endgültig ins Privatleben zurückgezogen.

VORSITZENDER: Vielleicht machen wir jetzt eine Pause.


[Pause von 10 Minuten.]


VORSITZENDER: Das Gericht wird in offener Sitzung Samstag vormittags bis 13.00 Uhr tagen.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Welch einen Eindruck aber diese Niederlegung seines Postens im tschechischen Volk, selbst in den deutschfeindlichsten Kreisen gemacht hat und als was sie empfunden worden ist, das geht mit kaum zu überbietender Deutlichkeit aus der Tatsache hervor, daß der wirklich nicht von Deutschfreundlichkeit oder Liebe zu meinem Klienten diktierte tschechische Bericht – USSR-60 – diesen Fortgang meines Klienten als einen, wie es im deutschen Text heißt, »gehörigen Schlag«, im englischen Text als »a heavy blow« bezeichnet und damit im Grunde genommen seine eigenen Anklagen gegen Herrn von Neurath desavouiert. Und in der Tat glaube ich, bewiesen zu haben, daß der Angeklagte sich während und durch seine Amtsführung persönlich nicht eines einzigen der im Statut dieses Hohen Gerichts unter Strafe gestellten Verbrechen gegen die Humanität – und nur ein solches könnte ja hier in Frage kommen – schuldig gemacht hat.

Und es erhebt sich nun auch hier die eigentliche Kernfrage dieses Prozesses, ob der Angeklagte sich durch die Annahme des [339] Amtes als Reichsprotektor und sein Verbleiben in diesem, trotz des wenige Monate nach seinem Amtsantritt von Hitler entfesselten Krieges, trotz der Ereignisse im November 1939 und manch anderer Dinge, einer nach dem Statut strafbaren Unterstützung oder Beihilfe Hitlers und seiner Helfershelfer bei der Begehung ihrer Verbrechen schuldig gemacht hat. Die Anklage bejaht diese Frage.

Kann aber eine objektiv unvoreingenommene Beurteilung der Dinge diese Frage wirklich bejahen?

Eines dürfte nach allem, was wir hier von dem Angeklagten selbst und den von mir darüber gefragten Zeugen und beigebrachten Affidavits vernommen haben, unangreifbar feststehen:

Ebensowenig wie Herr von Neurath seinerzeit als Außenminister in die Regierung Hitlers eingetreten und in ihr verblieben ist aus äußeren, materiellen Gründen, ebensowenig hat er auch aus solchen Gründen das Amt als Reichsprotektor übernommen. Der Beweis dafür liegt allein schon in der Tatsache, daß er die von Hitler ihm zu seinem 70. Geburtstag im Jahre 1943 zugedachte Dotation abgelehnt und, als dies nicht durchführbar war, diese Dotation, wie ich Ihnen durch die Schreiben seiner Bank – Dokumentenbuch 5, Nummer 160 und 161 – nachgewiesen habe, auf seine Bank gelegt und nicht einen Pfennig davon angerührt hat. Und wie wenig ihn auch die pomphaft aufgemachte Stellung des Reichsprotektors gereizt oder ihm gar behagt hat, geht eindeutig aus seinem Schreiben an den Zeugen Dr. Köpke vom 14. Oktober 1939 – Dokumentenbuch 5, Nummer 150 – hervor, in dem er sie geradezu als sein Gefängnis bezeichnet. In beiden Fällen war, wie die Aussagen nicht nur des Angeklagten selbst, sondern auch alle von mir gestellten Zeugen und vorgelegten Dokumente bewiesen haben, das Motiv und der Grund für die Annahme seiner Stellungen und seines Ausharrens in ihnen nicht etwa der, daß er die Ideologie und das ganze Nazi-Regime mit seinen Methoden billigte und unterstützen wollte, sondern im Gegenteil seine, einem tiefen Verantwortungsbewußtsein als Mensch und als Staatsmann seinem Volk gegenüber entsprungenen höchsten ethischen und sittlichen Überzeugungen, die ihn dazu veranlaßten. Da er nicht in der Lage war, nicht die Macht dazu hatte, Hitler und die Nazi-Herrschaft zu beseitigen, hielt er sich für verpflichtet, wenigstens zu einem kleinen Teil im Rahmen und in den Grenzen seiner Kraft auf dem seiner Führung unterstellten Gebiet diese auch von ihm verabscheuten Tendenzen der Nazis zu bekämpfen und ihre Verwirklichung zu verhindern, soweit seine Kräfte dazu reichten. Kann man, so frage ich, Herrn von Neurath wirklich hieraus einen Vorwurf machen, kann man ihn deshalb verurteilen, weil diese von ihm aus sittlichem Pflichtgefühl und Verantwortungsbewußtsein übernommene Aufgabe seine Kräfte überstieg und er an ihr scheiterte?

[340] Machen Sie sich, meine Herren Richter, einmal frei von allen juristischen und politischen Voreingenommenheiten, von aller retrospektiven Betrachtung der Dinge mit ihren auf jeden Fall sehr unsicheren Schlüssen und denken Sie sich in die Seele dieses Mannes, in die Gedankenwelt, die Lebensanschauung dieses Mannes hinein. Aufgewachsen in einem christlichen, von humanen und grundanständigen Ideen, aber auch von Verantwortungsbewußtsein gegenüber seinem deutschen Volk erfüllten Elternhaus, war er groß geworden und 60 Jahre alt geworden in einer Beamtenlaufbahn unter den verschiedensten Regierungen, erst unter der kaiserlichen, dann unter den wechselnden Regierungen der Republik. Ohne nach ihren politischen Richtungen zu fragen, ohne zu fragen, ob sie konservativ, demokratisch oder sozialdemokratisch waren, hatte er ihnen gedient, hatte er die ihm in seinem Arbeitsgebiet übertragenen Aufgaben erfüllt. Ihm als Diplomat, als Beamten des Auswärtigen Dienstes des Reiches lag das Gebiet der Innenpolitik völlig fern. Er betrachtete es als seine alleinige Pflicht, seinem Volke als solchem zu dienen, ohne Rücksicht auf dessen jeweilige Regierungen und deren innerpolitische Einstellung. Und so übernahm er sehr gegen seine persönlichen Wünsche auf den Ruf Hindenburgs in der Stunde der Not das Außenministerium und trat damit in die Regierung des Reiches ein und blieb in dieser auch nach der Berufung Hitlers nicht als der Vertreter einer bestimmten politischen Partei, sondern als der ausgesprochene Vertrauensmann Hindenburgs auf dem Gebiet der Außenpolitik. Er war der Garant der Friedenspolitik des Reiches, der Rocher de bronze auf diesem Gebiet.

Seiner ganzen Erziehung, seinem Verantwortungsbewußtsein gegenüber seinem Volk nach konnte er gar nicht anders handeln, als auf diesem Posten auszuharren, als er in den Wirbel und die Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung hineingerissen wurde und nun sehen mußte, wie diese Bewegung Wege einschlug und sich Mittel bediente, die auch er nur verurteilen konnte. Aber genau so, wie es andere anständige und vaterländisch gesinnte Deutsche aus Verantwortungsbewußtsein und Pflichtgefühl gegenüber dem eigenen Volk zu dem Entschluß getrieben hat, Hitler und die Nazi-Herrschaft mit Gewalt zu beseitigen, genau so hat den Angeklagten sein Verantwortungs- und Pflichtbewußtsein nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor seinem Volk gezwungen, seinen persönlichen Abscheu vor der Unmoral dieses Regimes zurückzustellen und gegen diese Unmoral aktiv durch sein Verbleiben im Amt und dessen Weiterführung nach seinen Grundsätzen anzukämpfen und so wenigstens auf dem seiner Führung unterstellten Gebiet diese Unmoral fernzuhalten und sein deutsches Volk vor dieser Unmoral des Regimes und ihren Folgen, vor einem Kriege zu bewahren, solange ihm dies möglich war.

[341] Und als dann eineinhalb Jahre später nach seinem Abschied abermals der Ruf an ihn erging, wieder eine Stellung, diesmal als Reichsprotektor von Böhmen und Mähren zu übernehmen und ihm Hitler erklärte, daß er gerade ihn für diese Stellung ausgewählt habe, weil er ihn für die allein geeignete Persönlichkeit hielte, die von ihm beabsichtigte Politik einer wirklichen Aussöhnung des tschechischen Volkes mit dem neuen Zustand und dem deutschen Volk durchzuführen, da zwang ihn eben dasselbe Verantwortungs- und Pflichtbewußtsein, diesem Ruf Folge zu leisten – mußte er doch aus der Tatsache, daß Hitler ihn trotz Kenntnis seiner Ablehnung des nazistischen Regimes, seiner Politik und seiner Mittel mit dieser Aufgabe betrauen wollte, entnehmen, daß es Hitler wirklich ehrlich um eine Aussöhnung und Befriedung des tschechischen Volkes zu tun war. Hier stand eine Aufgabe vor ihm, deren Erfüllung nicht nur seinem eigenen Volk, sondern auch dem fremden Volk von höchstem Nutzen sein mußte, eine Aufgabe, die dem Ideal der Versöhnung zweier Völker nicht nur, sondern auch dem Ideal der Humanität, christlicher Menschenliebe diente, die aber auch das tschechische Volk vor den verderblichen Mitteln des Nazi-Regimes schützen sollte.

Und nun frage ich: Ist es nicht zum mindesten ebenso moralisch und sittlich, sich und seine Person für ein solches Ziel einzusetzen, selbst durch eine scheinbare, äußerlich als solche erscheinende Mitarbeit, aktiv dem als verderblich und unmoralisch erkannten und abgelehnten Regime auf einem, wenn auch beschränkten Gebiet, entgegenzuarbeiten, die Anwendung der Mittel dieses Systems zu verhindern und dadurch unschuldige Menschen vor Not und Tod zu retten, als sich aus persönlichem Abscheu grollend zurückzuziehen und untätig zuzusehen, wie dieses Regime hemmungslos gegen die Menschheit wütet? Nicht jeder ist eine Gewaltnatur, ein Revolutionär, der zur Gewalt gegen das verabscheute System und dessen Träger greift. Und vergessen Sie nicht, meine Herren Richter, daß es damals unter dem autoritären Regime Hitlers nur diese beiden Möglichkeiten gab, wirklich aktiv und positiv dem Nazi-Regime und seinen Schrecken entgegenzuarbeiten. Unter diesem Regime gab es nicht wie in demokratischen freien Staaten mit frei und unabhängig gewählten Parlamenten tausend andere Möglichkeiten, eine verhaßte und fluchwürdige Regierung zu bekämpfen. Im Hitler-Deutschland bedeutete jede Art aktiver oder gar öffentlicher Bekämpfung nur ein völlig nutzloses Opfer.

Und ich bitte Sie deshalb, meine Herren Richter, machen Sie sich bei der Beurteilung der Dinge und der Beantwortung der von mir gestellten Frage frei von den Ihnen zur Selbstverständlichkeit gewordenen demokratischen Zuständen und Verhältnissen, die völlig unvergleichbar sind mit den damaligen deutschen Zuständen [342] unter Hitler – eine Tatsache, deren Nichtberücksichtigung bis in die neueste Zeit schon so manches Unheil angerichtet hat.

Und hat der Angeklagte von Neurath nicht gerade dadurch, daß er das Amt des Reichsprotektors übernahm und in ihm verblieb, trotzdem er erkennen mußte, daß er die mit diesem übernommene Aufgabe ohne sein Verschulden nicht erfüllen konnte, daß ihm nicht die zu ihrer Durchführung erforderlichen Mittel zur Verfügung standen, daß er aber trotz alledem sei nen Kampf gegen den Terror des Nazi-Regimes fortsetzte, Tausenden von Menschen Freiheit und Leben gerettet, deren Freiheit und Leben ohne ihn unrettbar verloren gewesen wäre? Ist das nicht tausendmal mehr wert, nicht weit moralischer und ethischer, als wenn er sich nun gleich voll Abscheu und moralischer Entrüstung zurückgezogen hätte?

Ich stehe nicht an, auch diese Frage ebenso wie meine erste Frage zu bejahen und meiner Überzeugung Ausdruck zu geben, daß mich niemand deswegen verdammen kann. Oder soll sich hier in dem Schicksal des Angeklagten geradezu eine Tragödie des Sophokles vor uns abrollen, in der der Mensch ohne seine Schuld schuldig wird, weil er seinem Gewissen, seinem Verantwortungsbewußtsein gehorchte?

Meine Herren Richter! Ich glaube, mit meinen vorstehenden Ausführungen gezeigt und den Beweis erbracht zu haben, daß nicht eine einzige der meinem Klienten von der Anklage vorgeworfenen Handlungen verbrecherisch im Sinne des Statuts ist und daß nicht eine dieser Handlungen seitens des Angeklagten willensmäßig auf die Begehung eines Verbrechens im Sinne des Statuts dieses Hohen Gerichts abzielte, daß also weder objektiv noch subjektiv eine strafbare Handlung vorliegt. Aber darüber hinaus glaube ich auch gezeigt zu haben, daß alle Handlungen meines Klienten in ihrer Gesamtheit gerade das Gegenteil von dem bezweckten, was die Anklage ihnen unterstellt, nämlich nicht die Begehung, sondern die Verhinderung gerade solcher Handlungen, die das Statut als strafwürdige Verbrechen bezeichnet, sei es als Verbrechen der Planung, Vorbereitung oder Führung von Angriffskriegen, sei es als Kriegsverbrechen, sei es als Verbrechen gegen die Humanität.

Es bleibt mir aber noch eines zu tun übrig: aus alledem die Schlußfolgerungen zu ziehen, wie unmöglich, ja wie widersinnig die Anwendung der Grundsätze der Conspiracy auf meinen Klienten sind, denn die Conspiracy hat die unerläßliche Voraussetzung, daß jeder Beteiligte nicht nur das verbrecherische Ziel will, sondern auch mit seinem Eintritt in die Conspiracy, seiner Beteiligung an ihr, von vornherein die die Erreichung dieses verbrecherischen Zieles vorbereitenden oder mit ihm in irgendwelchem Zusammenhang stehenden Handlungen der übrigen Mitglieder billigt und billigen will. Wenn man aber, wie es die Anklage bewußt tut, diese [343] Billigung des verbrecherischen Zieles und aller zu dessen Erreichung vorbereitenden Handlungen jedes einzelnen der übrigen Mitglieder auch im staatlichen Leben, im Völkerrecht allein durch die Tatsache der Übernahme oder des Verbleibens in einem Amt schlechthin trotz Kenntnis des verbrecherischen Zieles als bewiesen ansieht und aus dieser Tatsache allein eine strafrechtliche Mitverantwortung jedes einzelnen herleitet, so ergibt sich hieraus unerbittlich mit zwingender Logik die Folge, daß die Anwendung des Grundsatzes der Mitverantwortlichkeit aus der Annahme eines Amtes oder dem Verbleiben in demselben schlechthin – ohne jede Rücksicht auf dessen noch so sittliche und ethische Gründe, Ursachen und Zwecke – zur Bestrafung nicht nur desjenigen zwingt, der diese verbrecherischen Absichten, Pläne und Taten der anderen ablehnt, sondern sogar aktiv bekämpft und nur zu diesem Zweck sein Amt übernommen hat oder in seiner Stellung verblieben ist, wie es bei dem Angeklagten von Neurath der Fall gewesen ist. Daß ein solches Ergebnis das Gegenteil nicht nur jedes natürlichen, sondern auch jedes juristischen Rechtsgefühls und Rechtsdenkens ist, daß es das Gegenteil von dem ist, was dieses Hohe Gericht erstreben soll und erstrebt, daß es das Gegenteil jeden sittlichen und ethischen Postulates ist, das, meine Herren Richter, habe ich bei Ihnen zu beweisen nicht nötig. Bei einem Gericht, das hier nicht nur die Gerechtigkeit, das rechtliche moralische Gewissen aller Kulturvölker der Erde verkörpert, sondern auch den kommenden Geschlechtern den Weg weisen soll zum Frieden unter den Völkern.

Nur dann kann dieser Aufgabe Erfüllung werden, wenn Sie den Menschen wieder zeigen, daß jede Verallgemeinerung, jede Nivellierung, jede Behandlung, also auch jede Beurteilung und Verurteilung von Menschen und ihren Handlungen nur nach korporativen, nach, ich möchte sagen, herdenmäßigen Normen, nicht nach der Persönlichkeit, dem Willen und den Absichten des einzelnen, von Übel ist. Eine solche Behandlung verneint die Heiligkeit des Einzelindividuums und führt letzten Endes unweigerlich zur Anbetung der Macht. Diese Anbetung der Macht, dieser Glaube an die Macht aber war ja gerade der Urgrund des furchtbaren Geschehens, das hier noch einmal vor uns sich abgerollt hat.

Der zwiefachen Aufgabe aber, dort zu strafen, wo Strafe nach göttlichem und menschlichem Recht am Platze ist und zugleich der Menschheit die Wege zum Frieden unter den Völkern zu weisen, können Sie nur dann gerecht werden und sie erfüllen, wenn Sie durch Ihren Spruch der Menschheit den Glauben an die Macht nehmen und den Völkern der Erde, und nicht zuletzt dem deutschen Volk, statt dieses Glaubens an die Macht den Glauben an die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Einzelmenschen wieder geben, den Gott der Herr einst schuf zu seinem Ebenbild.

[344] Durchdrungen von der Wahrheit dieser Erkenntnis, lege ich nun hiermit vertrauensvoll das Schicksal meines Klienten, des Angeklagten Freiherrn von Neurath, in Ihre Hände!

VORSITZENDER: Dr. Fritz, Verteidiger für den Angeklagten Fritzsche, hat das Wort.


DR. HEINZ FRITZ, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN FRITZSCHE: Herr Präsident, meine Herren Richter!

Im Falle Fritzsche ist das Beweisergebnis ein verhältnismäßig klares. Obwohl ich an so später Stelle plädiere, läßt es sich aber nicht vermeiden, auf Rechtsprobleme näher einzugehen. Diese ergeben sich vor allen Dingen daraus, daß Fritzsche von der Anklagebehörde in besonders auffälliger Weise als Gehilfe gekennzeichnet worden ist.

Zunächst aber muß ich beleuchten, welche Stelle Fritzsche im Propagandaministerium eingenommen, welche Rolle er in der deutschen Propaganda im allgemeinen gespielt hat. Daraus sollen sich ja die Schlußfolgerungen ergeben für seine behauptete Teilnahme an der angeblichen Verschwörung.

Mr. Albrecht hat zu Beginn des Prozesses als Beweisstück den Organisationsaufbau der Regierung des Dritten Reiches nach dem Stande vom März 1945 in Form eines Schemas vorgelegt. Mr. Albrecht gestand selbst zu, daß darin der Name Fritzsche nicht in der Stellung eines der Hauptführenden des Propagandaministeriums erscheine. Er fügte freilich hinzu, daß seine Bedeutung größer gewesen sei, als seine in diesem Schema bezeichnete Position erkennen lasse. Er schloß mit der Feststellung, daß Beweise dafür dem Gerichtshof vorgelegt würden (Sitzung vom 21. November 1945).

Ist dies nun geschehen, und hat die Beweisaufnahme wirklich eine größere Bedeutung Fritzsches erbringen können?

Sir David Maxwell-Fyfe hat in der Sitzung vom 28. Februar 1946 eine »Zusammenfassung der schuldigen Elemente« in den Prozeß eingeführt, die in besonders eindrucksvoller Weise anschaulich macht, inwieweit die einzelnen Angeklagten im Zusammenhang mit den Tatsachen stehen, für die sie nach Ansicht der Anklagebehörde schuldig sein sollen. Aus der dieser Zusammenfassung als Anlage A beigefügten Tabelle ergibt sich die Klassifizierung der einzelnen Angeklagten. Das Gericht wird festgestellt haben, daß der Angeklagte Fritzsche der einzige ist, der in der Tabelle überhaupt nicht erscheint. Das ergibt sich daraus, daß er zu keiner der Organisationen gehört, die hier für verbrecherisch erklärt werden sollen.

Ein Blick auf den Organisationsplan des Propagandaministeriums, welcher im Schriftsatz E von der Anklagebehörde vorgelegt worden ist (Sitzung vom 23. Januar 1946), ergibt besonders augenfällig, daß [345] Fritzsche selbst in seiner letzten Stellung als Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung Rundfunk nur einer von zwölf Beamten gleichen Ranges gewesen ist. Schon eine solche Position schließt von vorneherein die Annahme aus, er hätte die Richtlinien der Politik, die Richtlinien der Nachrichtengebung und die Grundsätze dessen, was Deutschland und der Welt bekannt werden dürfe oder nicht, bestimmen können. Captain Sprecher wies – offenbar um die Bedeutung Fritzsches zu heben – zwar darauf hin, der Leiter der Abteilung »Deutsche Presse« habe eine »einzigartige« Stellung innegehabt, hat aber auch nicht verschwiegen, daß er Vorgänger und Nachfolger in dieser angeblich einzigartigen Position gehabt hat.

Als Fritzsche im November 1942 von Goebbels zum Leiter der Abteilung »Rundfunk« ernannt wurde, erlangte er damit in der Beamtenhierarchie keine höhere Stellung. Seine Tätigkeit war insoweit ein reines Verwaltungsgeschäft. Dieses bezog sich auf technisch-organisatorische Fragen. Mein Mandant nennt in seinem Affidavit vom 7. Januar 1946 die damit verbundene Verwaltungstätigkeit, zählt dort auch seine zahlreichen Vorgänger auf... Ist jemand auf den Gedanken gekommen, auch diese vielen Personen als Hauptkriegsverbrecher anzuklagen oder als oberste Kommandeure eines Propagandainstrumentes zu bezeichnen? Da dies nicht der Fall ist, muß wohl die Folgerung gezogen werden, daß es nicht die amtliche Stellung Fritzsches war, die eine Grundlage für die Anklage gebildet hat.

Auch Justice Jackson hat darauf hingewiesen (Sitzung vom 28. Februar 1946), daß im Rahmen der hier angeklagten Organisationen nicht alle Verwaltungsbeamten und Abteilungsleiter oder Staatsbeamte schlechtweg vertreten seien, nur die Reichsregierung sei genannt. Fritzsche kann deswegen auch nicht unterstellt werden – wie das angeblich bei den Mitgliedern der Organisationen möglich sei –, seine Position allein und die enge Verbindung der einzelnen Mitglieder der Organisationen ergäben, daß ihnen die Pläne der behaupteten Verschwörung schon auf Grund ihrer Zugehörigkeit bekannt und völlig klar gewesen sein müßten.

Auch von der Russischen Anklagevertretung ist während des Kreuzverhörs Fritzsches der Versuch gemacht worden, Fritzsches Stellung zu vergrößern. Sie führte drei Protokolle in die Verhandlung ein, und zwar die Vernehmungen der Zeugen Schörner, Voß und Stahel (Dokumente USSR-472, USSR-471, USSR-473). In diesen Dokumenten können aber Beweisstücke nicht gesehen werden. Diese Niederschriften wurden allerdings nur benutzt, um einzelne Teile daraus dem Angeklagten vorzuhalten. Wegen dieser Einschränkung habe ich auf die Vernehmung dieser drei Personen, die diese Protokolle unterzeichnet haben, im Wege des Kreuzverhörs verzichten können. Zu den Teilen aber, die dem Angeklagten Fritzsche während [346] seiner Vernehmung im Zeugenstand vorgehalten wurden, hat er es an einer Stellungnahme nicht fehlen lassen. Ich habe hierzu noch auf folgendes hinzuweisen: Keine dieser drei Personen hat auch nur behauptet, einen Einblick gehabt zu haben in die innere Organisation des Propagandaministeriums. Keine der drei Niederschriften enthält irgendeine bestimmte Äußerung Fritzsches. Diese Niederschriften enthalten vielmehr reine Urteile, Urteile, die wir von Zeugen nicht wissen wollen, zumal dann nicht, wenn sie keinerlei substanziierte Tatsachen angeben können. Schon deshalb muß ihnen jeder Beweiswert aberkannt werden. Es sind aber darüber hinaus völlig falsche Urteile. Sie können auf keinen Fall den in diesem Verfahren von der Anklagebehörde vorgelegten eigenen Äußerungen Fritzsches – nämlich seinen Rundfunkansprachen – entnommen werden.

Wenn gegen den Angeklagten Fritzsche Beweise im Sinne dieser bloßen Urteile hätten vorgelegt werden können, dann hätte es wohl angesichts des Umstandes, daß die Anklagebehörde sich in den Besitz aller seiner Rundfunkansprachen hätte setzen können, näher gelegen, hier solche Äußerungen von ihm vorzulegen, die dem Gericht ermöglicht hätten, sich selbst ein Urteil zu bilden. Die Vernehmungsniederschriften enthalten die bloß summarische Behauptung, Fritzsche sei der »Stellvertreter« Goebbels' gewesen. Ich habe diese Behauptung dem Zeugen von Schirrmeister vorgehalten, und er hat sie als glatten Unsinn bezeichnet. Das gleiche hat Fritzsche im Zeugenstand sagen müssen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß die übereinstimmende Bekundung beider Zeugen richtig ist Schließlich gibt es ja noch Hunderte von früheren Mitarbeitern dieses Ministeriums, die die Richtigkeit dieser Aussagen aus eigener Kenntnis nachkontrollieren können.

Es kann deswegen von mir festgestellt werden, daß der Versuch, Fritzsches Stellung entgegen den Angaben im Organisationsaufbau des Propagandaministeriums, die Mr. Albrecht vorgelegt hat, zu vergrößern, durchaus mißlungen ist.

Darüber hinaus hat die Beweisaufnahme ergeben, daß Fritzsche auch nicht der Schöpfer des großen Kontrollapparates für die deutsche Presse war, wie es die Anklage weiter behauptet (Sitzung vom 23. Januar 1946). Das war vielmehr Dr. Goebbels und andere seiner Mitarbeiter. Fritzsche kann das schon zeitlich gesehen nicht gewesen sein.

Zunächst war er jahrelang bloßer Angestellter, dann Referent, und erst ab Winter 1938/1939 einer von den zwölf Abteilungsleitern des Ministeriums. Als er Leiter der Abteilung »Deutsche Presse« wurde, lag die Führung der Pressepolitik in der Hand des Reichspressechefs Dr. Dietrich. Leiter der Abteilung »Rundfunk« wurde er – wie bereits gesagt – erst im November 1942 und hat auch dort [347] grundlegend Neues nicht geschaffen. Die Führung der deutschen Presse und des deutschen Rundfunks haben sich weder Goebbels noch Dietrich jemals aus der Hand nehmen lassen. Hinsichtlich der Einzelheiten hierzu darf ich auf die Aussage des Zeugen von Schirrmeister verweisen.

Daß Fritzsche weder der Schöpfer der Presseabteilung noch überhaupt ein Führer der deutschen Propaganda, soweit sie amtlich vom Ministerium ausging, gewesen sein kann, ergeben auch die zahlreichen sonstigen Hinweise sowohl Fritzsches, als er hierüber im Zeugenstand befragt wurde, als auch des Zeugen von Schirrmeister.

Tatsächlich hat Fritzsche während seiner gesamten Tätigkeit niemals eine Befehlsgewalt darüber gehabt und schon seiner Beamtenstellung nach nicht haben können, um als Schöpfer oder Führer der Presse und des Rundfunks im Dritten Reich angesprochen werden zu können. Im Gegenteil, zwischen Dr. Goebbels, Dr. Dietrich und ihm waren noch eine ganze Reihe anderer vorgesetzter Stellen eingebaut. Ich kann in diesem Zusammenhang auch darauf verweisen, was Leutnant Meltzer allgemein über die Bedeutung eines Staatssekretärs im Reichspropagandaministerium und des Reichspressechefs unter Hinweis auf ein Affidavit Amanns vom 19. Dezember 1945 erklärt hat: Er hat darauf hingewiesen, daß die Inhaber dieser Position die umfassende Kontrolle über die Nachrichtenmittel in Deutschland ausgeübt haben (Sitzung vom 11. Januar 1946; Dokument 3501-PS). Eine dieser Stellungen hat Fritzsche niemals innegehabt. Das Propagandaministerium hatte übrigens nicht nur einen, sondern drei Staatssekretäre. Dr. Goebbels hatte sich auch mit einem Ministeramt umgeben. Ich glaube, es ist auch angemessen, auf diesen niedrigen Rang hinzuweisen, weil die Anklagebehörde in anderen Fällen – zum Beispiel bei dem Angeklagten Göring – unter Hinweis auf einen hohen Rang, also allein aus der äußeren Stellung des Angeklagten, auf eine besondere Verantwortlichkeit schließen zu können glaubt. Es kann also keinesfalls davon ausgegangen werden, daß Fritzsche auf die Leitung der Propaganda im allgemeinen, auf die Politik, die durch Presse und Rundfunk betrieben wurde, irgendeinen entscheidenden Einfluß gehabt habe.

Die Aufgaben, die Fritzsche im technischen Nachrichtenwesen erfüllt hat, betreffen ihn nur als Journalisten und Fachmann. Sie haben mit dem Inhalt der Propaganda, die von der Staatsführung betrieben wurde, nichts zu tun. Auch insoweit war er nur Ausführender. Richtig ist, daß er die journalistischen Nachrichtenbüros technisch durchorganisiert hat. Er hat sie damit modernisiert und vervollkommnet. Es ist ferner richtig, daß dieses Nachrichtenwesen später im Kriege eine sehr bedeutungsvolle Rolle gespielt hat.[348] Insoweit ist Fritzsche nur in den Jahren 1933 bis 1938 tätig geworden. Es steht aber fest, daß er in diesen Jahren nicht den geringsten Einfluß auf Inhalt und politische Tendenz der Nachrichten gehabt hat, zumal er in jener Zeit bloßer Angestellter war.

Diese Hinweise auf die amtliche Position Fritzsches innerhalb des Propagandaministeriums erfolgen noch aus einem anderen Grunde. Wenn Fritzsche sich hier zu seinen Taten und Worten bekannt hat und sie voll verantworten will – er hat Gelegenheit gehabt, zu allen ihm vorgelegten Auszügen aus seinen Rundfunkansprachen Anlaß und Inhalt eingehend zu erläutern –, so kann er doch nicht für Riesen einstehen, die von anderen Stellen des staatlichen Propagandaapparates, auch innerhalb seines Ministeriums, vertreten wurden. Erst recht kann er nicht für die unorganisierte Propaganda der Partei einstehen. Fritzsche hat die verschiedenen geregelten und ungeregelten Arten der Propaganda des Dritten Reiches dargestellt und auf deren Auswirkungen hingewiesen. Ich darf das Hohe Gericht daran erinnern, daß der Zeuge von Schirrmeister bekundet hat, selbst Goebbels habe für die Propaganda mit der »Parteidogmatik« und mit dem »Mythus« nichts anfangen können. Das seien für ihn keine Dinge gewesen, mit denen man Massen fangen könne. Der Angeklagte Speer hat bei Erwähnung der geheimen Agitation mit den Wunderwaffen auf andere Quellen unorganisierter Parteipropaganda hinweisen können. Für alles das trägt Fritzsche keine Verantwortung. Seine amtliche Stellung war nicht einflußreich genug, um alle Mißstände und Mißbräuche wirksam bekämpfen zu können. Deswegen blieb auch sein wiederholter Versuch, den »Stürmer« verbieten zu lassen – er hielt die Zeitung für ein ausgezeichnetes antideutsches Propagandamittel – erfolglos. Die Parteipropaganda hat in ihrer praktischen Auswirkung eine viel größere Rolle gespielt als diejenige, die Fritzsche mit seinen demgegenüber sehr beschränkten Funktionen jemals hätte ausüben können. Ich erinnere daran, daß nach der Bekundung Fritzsches als Zeuge selbst Dr. Goebbels vor Bormann Angst hatte. Das hing mit jenem verhängnisvollen Satze zusammen, wonach nicht der Staat der Partei, sondern umgekehrt die Partei dem Staate zu befehlen habe.

Die Beweisaufnahme – insbesondere die Vernehmung des Zeugen von Schirrmeister – hat deswegen zweifelsfrei ergeben, daß die entscheidenden Weisungen für die Propaganda des Dritten Reiches von anderen Stellen kamen. Goebbels, zu dem Fritzsche eine persönlich durchaus distanzierte Stellung hatte, hat sich in seine Pläne von keinem untergeordneten Beamten seines Ministeriums hineinreden lassen. Es hat sich gezeigt, daß er mit der Autorität seiner Stellung, mit der Gewandtheit seiner Argumente, die die Welt kennt, und notfalls mit den Mitteln des Betruges seine Pläne durchsetzte. Die Führung der deutschen Pressepolitik – betrachten [349] wir nur diesen engeren Rahmen-hatten und behielten Dr. Goebbels und Dr. Dietrich. Ähnlich war es, wie der Zeuge von Schirrmeister bekundete, mit dem Rundfunk, als Fritzsche im November 1942 dessen Leitung übernahm. Dr. Goebbels, einer der ältesten und engsten Mitarbeiter Hitlers, und Dr. Dietrich, der ständige Begleiter Hitlers – er war während des Krieges fast ohne Unterbrechung in dessen Hauptquartier anwesend –, ließen sich niemals die Führung von Presse und Rundfunk aus der Hand nehmen, zumal nicht von einem Manne, der wie Fritzsche über keinerlei Beziehungen zu Hitler verfügte, ja, mit diesem nicht eine einzige Besprechung gehabt hat. Letztlich war Hitlers Wille auch hier entscheidend.

Wir haben ferner gehört, welchen Einfluß – ob von Hitler, Goebbels oder Dietrich veranlaßt, kann dahingestellt bleiben – auch andere staatliche Stellen auf Presse und Rundfunk mit Erfolg ausgeübt haben. Ich erwähne hier das Auswärtige Amt, das Oberkommando der Wehrmacht und sonstige Ministerien, deren Leiter den drei genannten Personen viel enger verbunden waren als etwa Fritzsche.

Zur Vermeidung eines Mißverständnisses darf ich darauf hinweisen, daß die Behauptung in der Anklageschrift, Fritzsche habe dem Apparat der Parteipropaganda, zum Beispiel der sogenannten Reichspressestelle der NSDAP oder der Rundfunkabteilung der Partei irgendwie nahegestanden, im Laufe des Verfahrens von der Anklagebehörde ausdrücklich zurückgezogen worden ist.

Ich glaube, damit die Verantwortung des Angeklagten genügend abgegrenzt zu haben. Aus dieser Abgrenzung ergibt sich die Unrichtigkeit der weitverbreiteten Meinung, Fritzsche habe eine sehr bedeutende und einflußreiche Stellung in dem »riesigen Propagandaapparat« des Dritten Reiches gehabt. Diese Abgrenzung trägt nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch den Tatsachen Rechnung, die in der Beweiserhebung völlig klargestellt worden sind.

Damit habe ich schon in gewisser Weise Stellung genommen zu dem Vorwurf, Fritzsche sei ein Mitglied der behaupteten Verschwörung gewesen. Die Anklagebehörde hat mehrfach versucht, die Arbeit Fritzsches in ihren verschiedenen Stadien in die angebliche Verschwörergruppe einzuordnen und hat daraus die so weitgehenden Folgerungen gezogen, Fritzsche sei damit auch verantwortlich für Kriegsverbrechen, für Verbrechen gegen die Humanität und sogar für Verbrechen gegen den Frieden (Sitzung vom 23. Januar 1946). Diese Versuche schienen schon bei der Anklagebegründung sachlich kaum gerechtfertigt. Und es ist wohl keine unangemessene Kritik, wenn ich hier erkläre, daß es der Anklagebehörde eine gewisse Verlegenheit bereitet hat, die untergeordnete[350] Beamtenstellung Fritzsches als so bedeutungsvoll und wichtig darzustellen. Heute, nach Schluß der Beweiserhebung, erscheint mir der Versuch gescheitert, Fritzsche in den Kreis der Planschließenden einzubeziehen.

Fritzsche ist in keiner einzigen der Sitzungen zu finden, in denen Hitler sich mit dem engeren oder weiteren Kreis seiner Mitarbeiter über irgendwelche Pläne oder Aktionen besprach. Er war auch sonst tatsächlich niemals an irgendwelchen Erörterungen, die geeignet gewesen sein mögen, die Welt in das Blutbad der Angriffskriege zu stürzen, beteiligt. Er war weder ein »alter Kämpfer«, noch hat er später das goldene Parteiabzeichen verliehen bekommen. Er gehörte, wie ich besonders zu betonen hatte, keiner einzigen derjenigen Organisationen an, die hier für verbrecherisch erklärt werden sollen. Er erfüllte bis zuletzt eine Beamtenfunktion in einem Ministerium, er empfing Weisungen wie jeder andere Beamte. Er konnte niemals politischer Ratgeber sein.

Die Brücke von ihm zur angeblichen Verschwörung hätte nach Lage der Dinge nur die Person des Dr. Goebbels bilden können. Der Zeuge von Schirrmeister hat eine solche Annahme widerlegt. Nach dessen Bekundung hat Fritzsche noch nicht einmal zu dem engeren Kreis Dr. Goebbels' gehört. Ja, von Schirrmeister konnte sogar aussagen, daß Fritzsche sich oft an ihn wenden mußte, weil er die Ansicht von Dr. Goebbels über irgendeine Frage nicht anders zu erfahren vermochte als über ihn, den persönlichen Pressereferenten von Goebbels. Ein Verkehr über die Staatssekretäre – beispielsweise Dr. Dietrich, Dr. Naumann, um nur einige zu nennen – war ebenfalls mit Schwierigkeiten verbunden. Das ist nicht die Methode, wie Verschwörer miteinander zu verkehren pflegen.

Der Zeuge von Schirrmeister hat es weiterhin als ausgeschlossen bezeichnet, daß Fritzsche mit Goebbels überhaupt in einen planenden Gedankenaustausch hätte treten können. Es wäre nun Sache der Anklagebehörde gewesen, dem Angeklagten Fritzsche nachzuweisen, worin seine Beteiligung an der Verschwörung erblickt werden könnte. Ich behaupte, daß der Nachweis für keinen Punkt der Anklage als geführt angesehen werden kann.

Ich glaube, daß es überhaupt nicht die amtlichen Stellungen Fritzsches sind, die zur Erhebung einer Anklage gegen ihn geführt haben. Vielmehr nehme ich an, daß dies allein zurückzuführen ist auf seine Rundfunkansprachen, die ihn und seinen Namen – aber nur während des Krieges – in Deutschland und vielleicht auch in einem Teil der übrigen Welt bekanntgemacht haben.

Alle ernsthaften Vorwürfe, die gegen ihn erhoben werden, gehen deshalb auch nur auf diese Ansprachen zurück. Die sonstigen Behauptungen über seine Stellung im Staats- oder gar Parteiapparat gründen sich nur auf Vermutungen und Kombinationen [351] ohne sachliche Grundlage, wie dies zum Beispiel aus den rein persönlichen und widerlegten Urteilen von Schörner, Voß und Stahel besonders deutlich hervorgeht. Sein Name ist aber ausschließlich wegen des technischen Mittels, dessen er sich bediente, so bekanntgeworden. Nur die große Bedeutung des Radios für die moderne Nachrichtenübermittlung ließ ihn in einem besonderen Licht erscheinen. Es soll damit nicht bestritten werden, daß er damit einen großen Einfluß auf das deutsche Volk gehabt hat. Ich kann aber wohl aus unseren eigenen Erfahrungen im Deutschland der Nazi-Herrschaft darauf hinweisen, daß jeder Gauredner, mancher Kreisleiter, sich einer viel weitergehenden Sprache bedient hat. Deren Ausführungen erschienen aber in der Kegel nur in der Lokalpresse.

Hinsichtlich dieser Ansprachen war die Verteidigung insofern behindert, als diese ihr nicht sämtlich in vollem Wortlaut zur Verfügung gestellt werden konnten. Die von der Russischen Anklagebehörde im Kreuzverhör zitierten Auszüge konnten leider ebenfalls nicht ergänzt werden durch den vollen Wortlaut der jeweiligen Rede. Damit entfiel die Möglichkeit, den Sinn wieder herzustellen, den die jeweilige Ansprache in der Zeit hatte, in der sie gehalten wurde. Ich komme auf ein Beispiel hierfür noch zurück. Die Methode, nur einzelne Stellen oder Zitate dem Gericht bekanntzumachen, ist hier deshalb besonders unzulänglich, weil damit nicht erkennbar werden kann, daß Fritzsche in seinen Ansprachen stets die aktuellen Ereignisse in den Vordergrund gestellt hat. Allgemeinere Schlußfolgerungen ideologischer Art sind von ihm darin selten und nur beiläufig gezogen worden. Aber schon aus dem, was Fritzsche hinsichtlich seiner Ansprachen, die ihm durch die Anklagevertretung in vollem Texte vorgelegt werden konnten, ausgesagt hat, ergibt sich ein ganz anderes Bild über Anlaß und Beweggründe seiner Rundfunkreden. Diese waren in den Jahren 1932 – also schon vor der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus – bis zum Jahre 1939 zunächst nur eine politische Zeitungsschau. Sie hießen auch so. Sie waren demnach eine Sammlung von Zitaten aus in- und ausländischen Zeitungen.

Fritzsche bestreitet nicht, daß diese Sammlungen orientiert waren nach den Interessen des nationalsozialistischen Staates. Erst im Kriege wurden diese Ansprachen – aber weiterhin bis zuletzt auf der Grundlage von Zitaten auch der ausländischen Presse – zu der Plattform der polemischen Auseinandersetzung, die im Kriege nun einmal von beiden Seiten ausgetrieben wurde. Zweifellos trugen sie viel bei zur politischen Meinungsbildung in Deutschland, zweifellos haben aber auch viele Leute in Deutschland Fritzsches Ansprachen gehört nicht wegen seiner Polemiken, sondern um aus seinen Zitaten wenigstens etwas von den Meinungsäußerungen des [352] Auslandes zu erfahren. Diese Reden waren zunächst jahrelang reine Privatarbeiten neben seiner amtlichen Stellung. Erst im Kriege wurden sie wegen ihrer steigenden publizistischen Bedeutung als offiziös angesehen. Sie bekamen damit – um die Sache deutlicher zu machen – etwa den Charakter von Leitartikeln einer Zeitung, die – wie man zu sagen pflegt – der Regierung nahesteht. Es wäre der Verteidigung ein leichtes gewesen, dem Gericht Bände von Zeitungen aus der gleichen Zeit vorzulegen, deren Leitartikel die gleiche Tendenz trugen, ja, wie hier mit allem Nachdruck behauptet werden kann, eine viel heftigere Sprache geführt haben.

Fritzsche hat auf das entschiedenste – und nach meiner Überzeugung durchaus zu Recht – bestreiten können, daß diese Ansprachen etwa aufgehetzt hätten zu Rassenhaß, zu Mord oder Gewalttat, zu Völkerhaß oder zu Angriffskriegen. Wenn eine solche Wirkung durch diese Ansprachen wirklich hätte verursacht werden können, dann müßte jedem Schriftleiter des Dritten Reiches, der die »Tagesparolen« des Reichspressechefs empfing, genau der gleiche Vorwurf gemacht werden können. Vor diesem Tribunal erscheint der Vorwurf eben nur deswegen gegen Fritzsche erhoben worden zu sein, weil er durch ein technisches Mittel weit hörbar gewesen ist. Es liegt aber – besonders im Kriege, und erst seit 1939 hatten seine Reden überhaupt eine publizistische Bedeutung – in der Natur der Sache, daß der Polemiker selbst Gegenstand der Polemik wird; derjenige natürlich im besonderen Maße, dessen publizistische Wirkung technisch weitergegangen ist als die Wirkung eines Artikels, der in der Lokalzeitung stand. Nur damit wird sein Name für den Außenstehenden bekannter als der Name selbst von Leuten, die viel mächtiger sind als der Publizist.

Wie weitgehend die Vorwürfe der Anklage gegen Fritzsche als Publizist gegangen sind, ergibt sich daraus, daß er nicht nur zu der planschließenden Verschwörergruppe gehört haben soll, sondern daß er auch des Verbrechens gegen den Frieden angeklagt ist. Wenn ein Propagandist sich diesem Vorwurf ausgesetzt sieht, erhebt sich unmittelbar die Frage, ob öffentliche Rundfunkansprachen nicht am allerwenigsten geeignete Mittel sein müßten, verbrecherische Ziele einer geheimen Verschwörung durchzusetzen. Ansprachen, die aller Welt hörbar sind, könnten höchstens geeignet sein, solche Ziele zu tarnen und die Welt zu täuschen. Tatsächlich aber wird Fritzsche gerade der gegenteilige Vorwurf gemacht. Er soll ja andere aufgehetzt haben.

Hiermit dürfte das Wesen und die Eigenart dieser Ansprachen genügend charakterisiert sein. Ihre Bedeutung mußte gegenüber den so weitgehenden Schlüssen der Anklage auf das richtige Maß gebracht werden.

[353] Bevor ich näher auf den Vorwurf eingehe, Fritzsche habe durch Rundfunkansprachen oder sonstige Mittel zu einzelnen Angriffskriegen beigetragen, ist es in einem Falle, wo einem Publizisten in dieser Hinsicht Vorwürfe krimineller oder völkerrechtlicher Art gemacht werden, erforderlich, ein Rechtsproblem zu behandeln.

An keiner Stelle – soweit ich sehe – hat die Anklagebehörde die Frage erörtert, ob und inwieweit die Propaganda, das heißt der Versuch der geistigen Beeinflussung besonders im Kriege überhaupt unter völkerrechtlicher Regelung gestanden hat oder noch steht. Vielleicht ist dieses Problem nur deshalb nicht zur Sprache gebracht worden, weil die Frage, einmal gestellt, klar hätte verneint werden müssen. Die Anklageschrift stellt zwar den »riesigen Propagandaapparat« während der Diktatur Hitlers fest, der mit der Folge der Aufsicht und Kontrolle jeder kulturellen Tätigkeit geschaffen worden ist, zieht daraus für eine völkerrechtliche Beurteilung aber keine Schlüsse. Denn tatsächlich sind keinerlei allgemein oder speziell gültige Bestimmungen, die dieses Gebiet berühren, jemals getroffen worden; auch irgendein Gewohnheitsrecht hat sich hier nicht herauszubilden vermocht. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß die Lehrbücher des Völkerrechts diesem Problem – soweit ich feststellen konnte – überhaupt keine Beachtung schenken. Allerdings enthält eine Anzahl Lehrbücher, insbesondere naturrechtlicher Färbung in den Katalogen von völkerrechtlichen Grundrechten, auch regelmäßig einen Abschnitt über Staatenehre oder Staatenwürde. In diesen Kapiteln wird dann aus der Gleichheit der Staaten und ihrem Zusammenleben innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft die Forderung abgeleitet, daß sie sich gegenseitig mit Respekt zu behandeln hätten. Demgemäß wird weiter gefordert, auch Beschimpfungen, die durch Privatpersonen aus ihrem Machtbereich gegen andere Staaten gerichtet werden, zu verhüten, begangene derartige Ausschreitungen zu bestrafen. Seinen positiv rechtlichen Ausdruck hat dieser Gedanke aber nur in einer Reihe von nationalen Strafgesetzbüchern gefunden, welche etwa die Beschimpfung fremder Staatshäupter – natürlich nur im Frieden – unter Strafe stellen.1 Eine andere, weniger naturrechtlich gerichtete Lehre geht dahin, daß es sich hier nicht um Rechtspflichten, sondern nur um Pflichten internationaler Courtoisie handelt. Sei dem wie dem sei, ein irgendwie festgefügtes Völkerrecht besteht nicht einmal für Friedenszeiten. Insbesondere nicht, soweit es sich um private Propaganda durch Presse und Schrifttum handelt. Und nun: Was den Krieg anlangt, fehlt, wie bereits angedeutet, jegliche Vorschrift in dieser Hinsicht. Es gibt im Kriege nach geltendem Völkerrecht keinerlei Schranken für Propaganda gegen andere Staaten. [354] Für diese Propaganda besteht demgemäß nur eine einzige Schranke, nämlich die große Schranke, die das gesamte Kriegsrecht beherrscht, daß alles und nur das erlaubt ist, quod ad finem belli neccessarium est.

Bei der ungeheueren Bedeutung, welche geistige Beeinflussung für die Willenshaltung von Individuen und Völkern besitzt, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Propaganda ein wichtiges, ja gegebenenfalls sogar entscheidendes Kriegsmittel sein kann. Nicht weniger wichtig als etwa Wirtschaftskrieg oder gar der Kampf der Waffen. Die Propaganda hat hier eine doppelte Aufgabe: einmal um als Mittel zur Hebung der Widerstandskraft des eigenen Volkes zu die nen, zum andern zur Zersetzung der kämpferischen Kräfte des Gegners. Diese Beeinflussung – Schönfärben auf der einen Seite, Schlechtmachen auf der anderen, Verschleiern von Tatbeständen und so weiter – ist in ihrem Wesen nichts anderes als eine Kriegslist, die im Bereiche des Landkriegsrechts gemäß Artikel 24 der Haager Landkriegsordnung ausdrücklich für ein erlaubtes Kriegsmittel erklärt worden ist. Um diesen Gedanken weiterzuführen, mag darauf hingewiesen werden, daß die Spionage – auch eine Form der Kriegslist – ebenfalls durch die Haager Landkriegsordnung zum erlaubten Kriegsmittel erklärt worden ist.

Das hier Gesagte stimmt voll mit der Staatenpraxis überein. Verunglimpfung des Gegners und seiner Staatsmänner, seine Verächtlichmachung, Verfälschung der gegnerischen Motive und Absichten, verleumderische Unterstellung, Aufstellung unbewiesener Behauptungen, gehören leider zu denjenigen Propagandamitteln, die allseitig, und zwar in steigendem Maße, im Verlaufe eines Krieges angewandt zu werden pflegen.

Geringfügige Ansätze, aber nur zum Zwecke einer Kriegsverhütung, sind aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg vorhanden. Damals hatten diese ein noch weitergehendes Ziel, nämlich zur Völkerverständigung im allgemeinen beizutragen, und zwar durch eine allgemeine geistig-moralische Abrüstung (désarmement moral).

Es ist aber vor dem ersten Weltbrand dieses Jahrhunderts nicht erreicht worden. Es erhielt allerdings gerade als Reaktion auf die schweren kriegerischen Verwicklungen nach dem Jahre 1918 einen stärkeren Impuls und wurde auf der Welt bekannt durch die Aufgaben, die in dieser Hinsicht dem Völkerbund vorgelegt wurden. Dies war allerdings ein erster welcher Versuch, eine geistige Abrüstung in Angriff zu nehmen. Auf der fünften Völkerbundstagung im Jahre 1925 in Paris wurde die Errichtung eines Instituts für geistige Zusammenarbeit (Coopération intellectuelle) beschlossen. Die weiteren jahrelangen Untersuchungen ergaben zahlreiche Vorschläge, die Gründung von General- und Unterkommissionen, von [355] Sektionen und Sachverständigen-Komitees mit einer unübersehbaren Fülle von Material. Aber alle diese großen Anstrengungen führten den idealistischen Schwung und die Sehnsucht der Völker auch zur »geistigen Abrüstung« und zur geistigen Zusammenarbeit doch nicht herab zu nüchterner und konkreter Rechtsgestaltung, die den einzelnen Staaten sowohl als auch deren Angehörigen gesetzliche Bindungen auferlegt hätten. Es kam nicht zu einem Ergebnis, um im Kriege Haß, Hetze, Entstellung von Tatsachen, Aufreizung gegen andere Völker oder gegen Angehörige anderer Staaten in allen nur möglichen modernen Äußerungsformen unterbinden zu können. Selbst so bestimmte und umfassende Vorschläge zu einer moralisch-geistigen Abrüstung, die von der Polnischen Regierung dem Völkerbund in zwei Memoranden vom 17. September 19312 und vom 13. Februar 19323 vorgelegt wurden, erlitten das gleiche Schicksal. Diese Vorschläge wollten jede Propaganda, soweit sie gefährlich für den Frieden werden könne, und sogar jede Propaganda, die auf eine bloße Störung der guten Beziehungen zwischen den Völkern hinzielte, auch durch nationale Gesetzgebung verbieten lassen. Es sollte nicht nur auf die großen öffentlichen Nachrichtenmittel Einfluß genommen werden, sondern auch auf die weitverzweigten Verwaltungen jedes modernen Staates bis zur Überprüfung der Schulbücher. Diese Vorschläge, die den Mitgliedstaaten empfahlen, auch vor Zensur- und Verbotsmaßnahmen nicht zurückzuschrecken, scheiterten aber schließlich an einer damals bestehenden Antinomie: Diesen Vorschlägen gegenüber standen die tief verwurzelten Anschauungen, daß an der Freiheit der Meinungsäußerung in geistigen Dingen nicht durch so außerordentlich weitgehende polizeiliche Maßnahmen gerüttelt werden könne; diese freie Meinungsäußerung sollte als ein vom Schöpfer verliehenes »unveräußerliches Recht« erhalten bleiben. Und bei dieser Polarität der Grundanschauungen ist es ge blieben. Wir haben hier im Gerichtssaal einen besonderen Anschauungsunterricht gehabt, wohin Zensur und Kontrolle von Presse, Rundfunk und Film auch führen können.

Die wenigen bilateralen Abkommen, die nach dem Scheitern der polnischen Vorschläge aus den Jahren 1931 und 1932 zum Abschluß kamen, sind hier nicht erwähnenswert. Sie beschränkten sich nur auf Teilgebiete propagandistischer Mittel und nur auf die Zeit gutnachbarlicher Beziehungen.

Wir können deshalb hier nur der Hoffnung Ausdruck geben, daß auf einem Fundament der internationalen Solidarität auch diese [356] noch gegensätzlichen Thesen in der Zukunft auf einer höheren Ebene, in einer Synthese aufgehoben werden können.

In diesem Prozeß wurde ein Geheimerlaß des Oberkommandos der Wehrmacht vom 1. Oktober 1938 vorgelegt (Dokument C-2). Dessen Völkerrechtsabteilung hatte für den Fall kriegerischer Verwicklungen eine Tabelle zusammenstellen lassen. Aus dieser sollten die Grundsätze abgelesen werden können, wie einer möglichen Verletzung des Kriegsrechts durch Freund und Feind zu begegnen sei. In Kenntnis des rechtlichen Vakuums auf dem Gebiete der Propaganda im weitesten Sinne wird darin ausgeführt, daß es völkerrechtlich völlig erlaubt sei, den Gegner verächtlich zu machen und zu versuchen, ihn zu zersetzen, »wenn dabei auch noch so sehr gelogen und gefälscht wird«, und es konnte sogar vom Rechtsstandpunkt aus für die Zukunft die Anordnung getroffen werden, daß, falls vom Feinde eine solche Propaganda angewendet werde, Abhilfe durch »Gegenangriffe« rechtlich möglich sei, wobei »natürlich ebenfalls von der Verbreitung von Greuellügen« Gebrauch gemacht werden müsse. Das mag zynisch und brutal klingen. Leider aber stimmte es mit den Kriegsgebräuchen überein oder besser: Es entsprang diese ungeschminkte Feststellung den tatsächlichen Rechtslücken in völkerrechtlichen Abkommen und im Gewohnheitsrecht. Dr. Kranzbühler hat hier mit Recht gesagt: »Im Kriege gibt es keine Pflicht zur Wahrheit.«

Unser jetziger Abstand zu den gegenseitigen Propagandamethoden im ersten Weltkrieg erlaubt uns, das damalige Geschehen heute als historisch zu bezeichnen. Auch damals ließen sich alle Kriegführenden davon leiten, die Zersetzung des Gegners auch mit den Mitteln der Propaganda zu versuchen. Aber die Legende der von den deutschen Soldaten abgehackten Kinderhände – wie Arthur Ponsonby in seinem Buche »Falsehood in War-Time«4 nachgewiesen hat, eine Kriegslüge – hat sogar noch im tiefsten Frieden, nämlich beinahe zehn Jahre nach dem ersten Weltkrieg in einem französischen Schulbuch nachgespukt.5 Schrifttum aller kriegführenden Staaten, Zeichnungen, Karikaturen sind allein aus der Zeit des ersten Weltkrieges in Legionen in allen Bibliotheken vorhanden. Vielen wird noch heute jener Film in Erinnerung sein, der fürchterliche Greuel zeigte und den Namen trug »Die apokalyptischen Reiter«. Ein Film, der zur Zeit des ersten Weltkrieges fast um die ganze Welt ging. Und leider mußte es bis heute bei dieser rechtlichen [357] Unordnung bleiben. Kann man aus dem von Justice Jackson für diesen Prozeß erstrebten Ziele, auch neues Völkerrecht zu schaffen, den Fall des Angeklagten Fritzsche als Publizist im Nazi-Staat rückwirkend einbeziehen? Kann der Wunsch der Anklagebehörde, Fritzsche als Kriegsverbrecher bestraft zu sehen, mit der Behauptung einer logischen Weiterentwicklung von Gesetzen6 begründet werden, wenn auf dem Gebiete der Propaganda bisher nichts, aber auch gar nichts gesetzlich und rechtlich geregelt ist und sich auch keinerlei fruchtbare Ansätze in dieser Richtung gezeigt haben? Hier handelt es sich bestimmt nicht um eine nur scheinbare Rechtslücke (Sitzung vom 4. Dezember 1945).

Das Gesagte umfaßt selbstverständlich nicht die Fälle, in denen im Wege der Propaganda tatsächlich zu Verbrechen im einzelnen aufgefordert wird. Ich komme deshalb nunmehr auf die Vorwürfe der Anklage im einzelnen, um darzutun, daß sich Fritzsche solcher Taten nicht schuldig gemacht hat.

Was das angebliche Verbrechen gegen den Frieden anlangt, so geht die Anklage davon aus, vor jedem größeren, politischen und militärischen Angriff der deutschen Staatsführung habe erst ein Pressefeldzug eingesetzt. Die Nazi-Verschwörer hätten deswegen auch die Presse als Mittel der auswärtigen Politik und als Manöver für nachfolgende Angriffshandlungen benutzt. Aus dieser ganz allgemeinen, vielleicht sogar zutreffenden Schilderung solcher Absichten wird der so weitgehende Schluß gezogen, daß Fritzsche auch hierfür mit verantwortlich sei. Eine solche Verantwortung ergäbe sich allein aus dem zeitlichen Umstand, daß er von Dezember 1938 bis zum Frühjahr 1942 innerhalb des amtlichen Propagandaministeriums der Leiter der Abteilung »Deutsche Presse« gewesen ist. Dieser Folgerung fehlt aber die Prämisse. Nur dann könnte sie berechtigt sein, wenn auch der Nachweis gelungen wäre, daß Fritzsche wirklich der Schöpfer und Inspirator aller dieser Pressekampagnen gewesen wäre. Fritzsche aber konnte schon wegen seiner untergeordneten Stellung nicht nur im Behördenaufbau, sondern auch im Verhältnis zu den wirklichen Führern der Propaganda – Hitler, Goebbels, Dietrich und andere – nur dasjenige wissen, was ihm ebenso wie anderen Beamten von ihren Vorgesetzten als die historische Wahrheit unterbreitet wurde. Ich erinnere daran, daß alle Zeugen, die über den Einfluß der auswärtigen Politik auf die Pressegestaltung etwas bekundet haben, darauf hinweisen, daß vor Beginn jeder politischen, besonders aber der militärischen Aktion das Auswärtige Amt mit dort fertiggestellten Weißbüchern die Schritte der hohen Politik vor der Öffentlichkeit begründet habe. Wie bei anderen Absichten und Zielsetzungen der obersten Führer des Dritten Reiches, so wurde auch in solchen Fällen gerade der[358] Presse nur das bekanntgegeben, was die Öffentlichkeit hierüber erfahren, aber das verschwiegen, was nicht für sie bestimmt sein sollte.

Wie vollzog sich nun nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme tatsächlich die von Fritzsche vermittelte Propaganda zu den einzelnen militärischen Angriffshandlungen, und was hat er von den Hintergründen gewußt?

Bei der Besetzung von Böhmen und Mähren sind ihm erst kurze Zeit vor dem entscheidenden Schritt vom 15. März 1939 Anweisungen des Reichspressechefs erteilt worden. Diese bestanden wie auch in allen anderen Fällen in den sogenannten »Tagesparolen«, die in den Pressekonferenzen ausgegeben wurden (Dokument 3469-PS). Solche Tagesparolen kamen damit in den Schlagzeilen deutscher Zeitungen zum Ausdruck. Es mag hier erwähnt werden, daß das bekannteste Organ der Partei, nämlich der »Völkische Beobachter«, infolge seiner unmittelbaren Beziehungen zum Reichspressechef – und während des Krieges zum Führerhauptquartier – von solchen Tagesparolen unabhängiger war, zumal es noch über einen eigenen auswärtigen Informationsdienst verfügte. Was im »Völkischen Beobachter« stand, gibt deswegen nicht dasjenige wieder, was Fritzsche als Leiter der deutschen Presse gutgeheißen hatte. Fritzsche hatte nämlich – und diese Einstellung hat für seine gesamte Tätigkeit die allergrößte Bedeutung – damals schon den Grundsatz für seine Presseinformationen aufgestellt, daß unwahre Nachrichten der Presse auf keinen Fall zugeleitet werden dürften. Der äußere Anlaß hierfür war die Tatsache, daß sein Vorgänger in der Abteilung »Deutsche Presse«, Berndt, während der Sudetenkrise alle möglichen Nachrichten hatte verbreiten lassen, wodurch er das Vertrauen der deutschen Schriftleiter verlor. Fritzsche hat im Zeugenstand, ebenso wie der Zeuge von Schirrmeister, die Einzelheiten hierzu angegeben.

Es ist nicht ersichtlich, inwiefern Fritzsche bei dem Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei mehr beteiligt gewesen sein soll als andere Beamte oder Offiziere. Was in diesem Prozeß über die damaligen geheimen Absichten Hitlers bekanntgeworden ist, hat Fritzsche genau so wenig gewußt, wie ihm der Plan »Fall Grün« bekannt gewesen sein konnte. Als Leiter der Inlandspresse hat er auch keinerlei Ein fluß nehmen können auf die Propagandamöglichkeiten, die innerhalb der Tschechoslowakei ausgenutzt werden sollten (Dokument 998-PS).

Das gleiche gilt für den Polenfeldzug; auch hier hat Fritzsche durchaus nicht einer kriegerischen Verwicklung das Wort geredet oder vorsätzlich etwa Nachrichten vermittelt, die kriegerische Absichten hätten unterstützen können. Gerade in seiner Rundfunkansprache vom 29. August 1939 (Dokument USSR-493), die ihm im [359] Kreuzverhör vorgehalten worden ist (Sitzung vom 28. Juni 1946), weist er ausdrücklich darauf hin, daß an der Tatsache des deutschen Friedenswillens kein ernsthafter Zweifel möglich sei. Jene und viele andere Stellen sind besonders geeignet, den guten Glauben Fritzsches darzutun. Er hat hier seiner und des deutschen Volkes Enttäuschung, daß dieser von Hitler immer wieder betonte Wille zum Frieden eine Lüge, sogar eine Hinterlist war, Ausdruck gegeben. Wenn man alle sonstigen Rundfunkansprachen Fritzsches aus der Zeit kurz vor und während des Polenfeldzuges im vollen Wortlaut nachprüft, wird keine seiner Äußerungen als eine Begünstigung dieses Angriffskrieges ausgelegt werden können. Die amtlichen Begründungen überzeugten damals Fritzsche – ebenso wie Millionen anderer Deutscher –, daß Deutschland das Recht auf seiner Seite gehabt habe. Daß Fritzsche in jener Zeit zu einer solchen Überzeugung gebracht worden war, war der Anlaß, daß er hier im Zeugenstand erklärte, auch er fühle sich von Hitler betrogen.

Auch im Falle Jugoslawien war es nicht anders. Hier hat Fritzsche ebenfalls nur dasjenige erfahren können, was über den Reichspressechef ihm und den vielen Schriftleitern an Tatsachen mitgeteilt worden war, die zu überprüfen er schon wegen der Schnelligkeit, mit der sich diese Ereignisse abspielten, keine Gelegenheit hatte – falls ihm im Zuge der Ereignisse der Gedanke überhaupt hätte kommen können, die Presse werde dazu ausgenutzt, kriegerische Maßnahmen zu produzieren.

Die Rolle der Presse vor dem überraschenden Angriff auf die Sowjetunion ist in diesem Prozeß besonders eindringlich klargestellt worden; schon aus strategischen Gründen durfte der gesamte Propagandaapparat – und damit auch Fritzsche als Leiter der Inlandspresse – vorher nicht das geringste wissen. Gerade dieser Feldzug ist auch von Goebbels durch die Vortäuschung einer beabsichtigten deutschen Invasion Englands geschickt verheimlicht worden. Seine engsten Mitarbeiter hat Goebbels persönlich damals bewußt auf diese falsche Fährte gelenkt, wie der Zeuge von Schirrmeister hier bekundet hat.

Fritzsches Bekundung, daß er auch von den geheimen Vorbereitungen durch die Errichtung eines sogenannten Ostministeriums nichts wußte, ist nicht widerlegt worden durch den sogenannten Bericht Rosenbergs (Dokument 1039-PS), der ihm im Kreuzverhör vorgelegt, wurde. Es ist dies ein Dokument, das wegen der vielen darin enthaltenen Namen im Prozeß auch anderweitig eine Rolle gespielt hat. Es ist gleichzeitig das einzige Dokument, in dem der Name Fritzsche im Zusammenhang mit irgendwelchen geheimen Plänen enthalten ist. Aus diesem Dokument, das nach den getroffenen Feststellungen etwa am 28. oder 29. Juni 1941 – also nach [360] Beginn des Feldzuges – von Rosenberg und einigen seiner Mitarbeiter entworfen worden ist, ist die Behauptung nicht abzuleiten, daß Rosenberg den Angeklagten Fritzsche vor dem entscheidenden Zeitpunkt gesprochen habe. Der Entwurf trägt kein Datum und keine Unterschrift. Fritzsche wird überdies darin erwähnt mit dem Titel »Ministerialdirektor«, den er erst im Herbst 1942 verliehen bekommen hat. Hiernach erscheint die Bekundung Fritzsches im Zeugenstand keinesfalls widerlegt, er habe von Rosenberg niemals Mitteilung erhalten, weder über einen bevorstehenden Krieg gegen die Sowjetunion noch über die beabsichtigte Gründung eines Ostministeriums. Erst nach Beginn dieses Feldzuges und nach öffentlicher Bekanntgabe, daß ein neues Ministerium gegründet worden ist, sind ihm Wünsche Rosenbergs durch dessen Mitarbeiter übermittelt worden hinsichtlich der Behandlung der Ostfragen in der deutschen Presse.

Es bleibt also bei der Bekundung Fritzsches, daß er auch im Falle des Krieges gegen die Sowjetunion, ebenso wie in den anderen Fällen erst in dem Augenblick etwas erfuhr, als man ihm die Nachrichten hierüber zur Veröffentlichung übergab. Das läßt – wie man mir zugeben wird – nicht auf die Rolle eines irgendwie mitplanenden oder auch nur mitwissenden Verschwörers schließen. Und daß Fritzsche etwa von den Plänen des Oberkommandos der Wehrmacht vom Juni 1941 (Dokument C-26) oder gar von dem Bormann-Protokoll vom 16. Juli 1941 (Dokument L-221) – welche beiden Dokumente ihm im Kreuzverhör vorgelegt worden sind – gewußt habe, ist erst recht nicht anzunehmen. Diese Verhandlungen lassen erkennen, daß sie wirklich nur im engsten Kreise stattgefunden haben können. Darüber hinaus hat die Fritzsche nicht unmittelbar betreffende Beweisaufnahme ergeben, mit welchen auch militärischen Täuschungsmitteln die Absichten verheimlicht worden sind. Das ist von dem Zeugen Paulus bekundet worden und geht aus dem Bericht des deutschen militärischen Nachrichtendienstes hervor (Dokument 1229-PS). Alle diese Dinge waren besonders geeignet, einem Manne der Presse vorenthalten zu werden. Selbst der Zeuge Gisevius, der doch dauernd damit beschäftigt war, die geheimen Ziele auszukundschaften, mußte darauf hinweisen, welche Mühen es allein innerhalb des Oberkommandos der Wehrmacht gekostet hat, jeweils in Erfahrung zu bringen, ob Hitler einen Krieg plane oder nicht (Sitzung vom 25. April 1946).

Ich kann demnach hierzu abschließend feststellen, daß die emphatische Behauptung der Anklage, Fritzsche habe als Helfershelfer Goebbels' diesem geholfen, die Welt in das Blutbad von Angriffskriegen zu stürzen (Sitzung vom 23. Januar 1946), ungerechtfertigt ist. Fritzsche hat bei seiner Vernehmung durch mich demgegenüber darauf hingewiesen: Wie auch immer die Tatsachen in den einzelnen Fällen gelegen haben mögen, ihm und der deutschen [361] Öffentlichkeit wurden in jedem Augenblicke, vom Einmarsch in Österreich bis zum Angriff auf Rußland, Informationen gegeben, welche die Notwendigkeit des deutschen Vorgehens gerechtfertigt erscheinen ließen.

Nun könnte man den Vorwurf eines Verbrechens gegen den Frieden auch dahin auffassen, daß Fritzsche während der Durchführung eines Angriffskrieges das deutsche Volk ständig zum Durchhalten aufforderte. Natürlich hat er auf dem Wege über seine Rundfunkansprachen keine defaitistische Propaganda getrieben.

Ich muß deshalb die Frage erörtern, ab diese oder überhaupt eine irgendwie geartete Beteiligung an einem Angriffskrieg, nachdem dieser ausgebrochen ist, als eine Teilnahme an dem Verbrechen gegen den Frieden zu erachten und demzufolge zu bestrafen wäre.

Der französische Hauptanklagevertreter, Monsieur de Menthon, hat – ausgehend von einer wörtlichen Auslegung des Artikels 6, Absatz 2 a des Statuts, ohne Beachtung des wirklichen Sinnes dieses Paragraphen – die Konsequenz ziehen wollen, daß die Soldaten und sonstigen Organe des Angreiferstaates überhaupt keine völkerrechtlich zu rechtfertigenden Kriegshandlungen vornehmen können. Er hat aber offenbar erkennen müssen, daß diese Auffassung in der Praxis zu unmöglichen Ergebnissen führen muß. So hat er zum Beispiel die Haager Landkriegsordnung als eine für Angreifer und Angegriffene in gleicher Weise nicht nur verpflichtende, sondern auch berechtigende Ordnung anerkannt. Damit hat er implizite klar zu erkennen gegeben, daß nach seiner Auffassung diese Bestimmung des Statuts restriktiv auszulegen ist.

Im Artikel 6, Absatz 2 a des Statuts werden als Verbrechen gegen den Frieden definiert: Das Planen, die Vorbereitung, die Einleitung und die – nach der deutschen Übersetzung – »Durchführung« eines Angriffskrieges. »Durchführung« ist die Übersetzung des englischen Wortes »waging«. Richtiger wohl wäre es zu übersetzen mit »Unternehmen«. Unternehmen aber bedeutet seinem natürlichen Wortsinne nach ungefähr das gleiche wie »beabsichtigen«; wer etwas unternimmt, betreibt, beabsichtigt, hat es noch nicht ausgeführt. Das Wort »durchführen« könnte die Meinung entstehen lassen, daß das Verbrechen gegen den Frieden mit dem Ausbruch des Krieges noch nicht abgeschlossen sei, sich also über seine ganze Dauer erstrecken konnte. Diese Auffassung würde zur Folge haben, daß auch alle die Personen, die sich an der Kriegführung beteiligt haben, zum Beispiel die Heerführer, alle Wehrmachtsangehörigen und darüber hinaus alle Personen, die den Krieg irgendwie – auch durch Lieferung von Kriegsmaterial und durch Rundfunkansprachen – unterstützt haben, nach dieser Bestimmung zu bestrafen seien. Sie hätten damit mindestens Beihilfe zu der Führung des Krieges geleistet. Diese Personen könnten Verbrecher [362] gegen den Frieden selbst dann sein, wenn sie vor Kriegsbeginn in keiner Weise an der Planung oder Vorbereitung irgendwie beteiligt waren. Ja, auch dann, wenn sie keine Ahnung hatten, daß es sich um einen Angriff gehandelt hat.

Demgegenüber muß festgestellt werden: Als Durchführende eines Angriffskrieges können nur die in Frage kommen, die ihn selbst geplant haben. Sie führen eben ihren gemeinsamen Plan aus, indem sie den Krieg – mit oder ohne Kriegserklärung – beginnen. Die »Ausführung« ist also dem Beginnen gleichzusetzen. Der Vorwurf des Verbrechens gegen den Frieden kann nur die treffen, die ihn auch geplant haben.

Dafür sprechen folgende Gründe:

Die Strafnorm will den Frieden gegen Angriffskriege, das heißt gegen unrechtmäßige Kriege, schützen. In dem Augenblick, in dem diese unrechtmäßigen Kriege beginnen – wie die Anklageschrift sagt »entfesselt« sind –, ist das Rechtsgut des Friedens verletzt, das Verbrechen gegen den Frieden abgeschlossen und vollendet. Dem Wort »durchführen« oder »unternehmen« – »waging« – kann daher keine andere Bedeutung zukommen, als »herbeiführen«, »zur Ausführung des Planes schreiten«.

Mit dieser Auslegung stimmt auch überein die geschichtliche Entwicklung des Begriffs »Verbrechen gegen den Frieden« im Völkerrecht. Das Völkerrecht unterscheidet seit Jahren zwischen »Kriegsverbrechen« im engeren Sinne und »Schuld am Kriege« im weiteren. Kriegsverbrechen sind Verstöße gegen vertraglich oder gewohnheitsrechtlich festgelegte Regeln des Kriegsrechts, gegen die Kriegsgebräuche und weitergehend auch die Verstöße gegen die Menschlichkeit. Kriegsschuld ist die schuldhafte Herbeiführung eines Krieges, im besonderen des ungerechtfertigten Angriffskrieges.

Diese Unterscheidung ist auch bei den Verhandlungen über der. Friedensvertrag nach dem ersten Weltkrieg in Erscheinung getreten. In Artikel 227 und folgende des Versailler Vertrags hat dies seinen Niederschlag gefunden. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Begriff des Verbrechens gegen den Frieden im Sinne des Statuts mit dieser Kriegsschuld im bisherigen völkerrechtlichen Sinne identisch sein soll. Paragraph 6, Absatz 2 a, soll die Kriegsschuldigen treffen, also die, die einen rechtswidrigen Krieg herbeiführen.

Die Ansicht, die weitere Unterstützung eines schuldhaft herbeigeführten Krieges sei ebenfalls ein Verbrechen gegen den Frieden, müßte zu völlig unhaltbaren Resultaten führen. Kaum ein Angehöriger des Staates, von dem der Angriffskrieg ausgeht, wäre dann schuldlos. Der Krieg im heutigen Sinne ist nicht mehr wie in früheren Zeiten auf den Waffengang der Heere beschränkt. Er hat sich – wie gerade die beiden Weltkriege gezeigt haben – auf die [363] Gesamtheit der kriegführenden Völker und auf alle ihre Lebensbezirke erweitert. Er hat sich zum totalen Krieg ausgeweitet. Total in dem Sinne, daß alle daran beteiligt sind; auch die Frau, die in einer Fabrik Schrauben dreht, ist mitbeteiligt am totalen Krieg. Und wie Professor Exner in seinem Plädoyer so anschaulich ausgeführt hat, wäre im Angriffskrieg jede Gefangennahme eine Freiheitsberaubung, jede Requisition ein Raub und jeder Schuß ein Mord. Alle Glieder eines Volkes als Verbrecher gegen den Frieden zur Verantwortung ziehen zu wollen wäre absurd. Eine Abstufung nach dem Grade und der Art eines Beitrages zum ausgebrochenen Kriege wäre überdies praktisch unmöglich.

Verbrechen gegen den Frieden können also nur diejenigen begehen, die am Friedensbruch beteiligt gewesen sind – Herr Präsident, ich habe noch eine Seite –, während die unübersehbare Masse, die nicht daran beteiligt war, nicht darunter fallen kann.

Der hier entwickelte Standpunkt wird meines Erachtens auch in der Anklageschrift vertreten. Diese sieht das Verbrechen des Friedensbruches verwirklicht mit der »Entfesselung«. An keiner Stelle ist auch nur angedeutet, daß in der Teilnahme am Kriege oder in seiner Unterstützung durch Leistungen oder Lieferungen irgendwelcher Art das Verbrechen selbst oder seine Fortsetzung erblickt wird. Auch nach der Konstruktion der Anklage kommen vom Zeitpunkt des Kriegsbeginns an ausschließlich die Verbrechen der zweiten und dritten Gruppe in Frage, also die Kriegsverbrechen im engeren völkerrechtlichen Sinne und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Meiner Überzeugung nach hat auch Justice Jackson in seiner grundlegenden Rede vom 21. November 1945 den hier vertretenen Standpunkt eingenommen, worauf er in der Sitzung vom 1. März 1946 hingewiesen wurde: Justice Biddle machte ihn darauf aufmerksam, daß er damals angedeutet habe, der Beginn des Krieges sei das Wesen des Verbrechens und nicht das Betreiben des Krieges selbst. Das heißt mit anderen Worten, mit dem Beginn des Angriffskrieges sei das Verbrechen gegen den Frieden im Sinne des Paragraphen 6, Absatz 2 a des Statuts vollendet – breach of peace.

Aus diesen Ausführungen folgt, daß irgendeine kriegsfördernde Tätigkeit während des Krieges keine strafbare Handlung darstellen kann, auch nicht die Rundfunkansprachen Fritzsches, die er im Kriege gehalten hat.


VORSITZENDER: Wir werden uns nun vertagen.


[Das Gericht vertagt sich bis

25. Juli 1946, 10.00 Uhr.]


1 »Verbrechen gegen fremde Staaten«, Schweizer Zeitschritt für das Strafrecht 1928, S. 317.


2 Lettre du Ministre des Affaires étrangères de Polo gne au Secrétaire général de la Société des Nations. No. officiel: C 602. M. 240. 1931. IX. (Conf. D. 16); abgedruckt auch in: Peter Dietz »Geistige Abrüstung« Seite 137-143; Bibliothek Erlangen unter der Nummer: U 36/3564.


3 Propositions de la délégation polonaise relatives à la réalisation progressive du désarmement moral. No. officiel: Conf. D. 76. – Ebenso abgedruckt in Dietz Seite 143 bis 145.


4 Arthur Ponsonby, M. P.: »Falsehood in War-Time«, Containing an assortment of lies circulated throughout the nations during the Great War, London, George Allen & Unwin Ltd., Museum Street, 1928.


5 In einem Schulbuch für Lothringen: »Deuxième livre du syllabaire Langlois«, das im Jahr 1927 noch im Gebrauch war und auf Seite 156 unter der Überschrift »Souvenez-vous« auf diese angeblichen Vorgänge zurückkommt; wiedergegeben in den »Elsaß-Lothringischen Mitteilungen« vom 20. März 1927.


6 Sir Hartley Shawcross in der Sitzung vom 4. Dezember 1945.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 19.
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