Vormittagssitzung.

[92] [Der Angeklagte von Neurath im Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Morgen, Donnerstag nachmittag, wird keine öffentliche Gerichtssitzung, sondern eine geschlossene Sitzung stattfinden, das heißt, der Gerichtshof wird morgen von 10.00 Uhr bis 1.00 Uhr in öffentlicher und dann am Nachmittag in geschlossener Sitzung tagen.

Am Samstag vormittag wird der Gerichtshof von 10.00 Uhr bis 1.00 Uhr öffentlich tagen.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Herr Vorsitzender! Ich habe erfahren, daß gestern, als ich dem Gerichtshof das Dokument USSR-494 vorlegte, nicht genügend Kopien dieses Dokuments vorhanden waren. Ich bedauere diesen Vorfall sehr und bitte den Gerichtshof, diese Kopien jetzt anzunehmen.


[Zum Zeugen gewandt:]


Angeklagter! Wir wollen jetzt auf Ihre Warnung vom August 1939 zurückkommen. Wenn ich Sierich tig verstanden habe, so haben Sie vor dem Gerichtshof erklärt, daß diese Warnung im Zusammenhang mit der damaligen militärischen Lage herausgegeben wurde. Ist das richtig?

VON NEURATH: Bezüglich der militärischen Lage hat sich damals nichts ereignet, inzwischen hat sich überhaupt keine politische Spannung bemerkbar gemacht, also nicht direkt mit der militärischen Lage. Es war ja damals noch nichts los.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Also unabhängig Von der militärischen Lage, gut. Geben Sie zu, daß Sie durch diesen Erlaß oder diese Warnung das System des Geiselwesens einführten?


VON NEURATH: Ich habe die Frage nicht verstanden.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Ich werde die Frage wiederholen. Ich frage Sie: Geben Sie zu, daß Sie durch diese Warnung vom August 1939 – ich lege dieses Dokument als USSR-490 vor – das Geiselsystem eingeführt haben?


VON NEURATH: Ich habe es nicht verstanden.


STAATJUSTIZRAT RAGINSKY: Hat man es Ihnen falsch übersetzt? Die Übertragung ist sehr schlecht.


VON NEURATH: Ja, die Übersetzung ist nicht durchgekommen; nur der letzte Satz nicht. Ich habe den letzten Satz nicht verstanden.


[92] STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Aber mir scheint, das Dokument ist Ihnen durchaus bekannt.


VON NEURATH: Jawohl; aber ich habe den letzten Satz Ihrer Frage nicht verstanden.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Ich werde mich bemühen, es Ihnen so zu sagen, daß Sie es verstehen. In diesem Ihrem Befehl heißt es im vorletzten Absatz:

»Die Verantwortlichkeit für alle Sabotage-Akte trifft nicht nur die einzelnen Täter, sondern die gesamte tschechische Bevölkerung.«

Das bedeutete doch, daß nicht nur die Schuldigen selbst bestraft werden, sondern daß sich die Bestrafung auch auf Unschuldige erstrecken sollte. Dieser Befehl diente dem Anfang des Massenterrors gegen die tschechische Bevölkerung.

VON NEURATH: Keineswegs. Das bedeutete nur, daß die moralische Verantwortung für die eventuellen Taten dem tschechischen Volk zur Last gelegt werden sollten.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Wurde dieser Ihr Befehl nicht in Lidice in die Praxis umgesetzt? Ging es da lediglich um die moralische Verantwortung?

VON NEURATH: Ja.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: In diesem Befehl sagen Sie folgendes:

»Wer diesen Notwendigkeiten nicht Rechnung trägt, gibt sich als Feind des Reiches zu erkennen...«

Haben Sie wirklich mit den Feinden des Reiches nur so abgerechnet, daß Sie ihnen die moralische Verantwortung auferlegten?

VON NEURATH: Ja, wenn einer die Befehle nicht befolgte, so wurde er selbstverständlich bestraft.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Das möchte ich eben feststellen und habe Ihnen deshalb die Frage gestellt: Mit Ihrer Bekanntmachung vom August 1939 haben Sie den Anfang mit dem Massenterror und mit der Bestrafung schuldloser Menschen gemacht.


VON NEURATH: Ich weiß nicht, wie Sie diese Folgerung aus dieser Warnung ziehen wollen.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Wir werden sofort auf die Begründung für einen derartigen Rückschluß eingehen. In dem Bericht der Tschechoslowakischen Regierung, der dem Gerichtshof als Dokument USSR-60 vorliegt und der das Untersuchungsergebnis über die von Ihnen und Ihren Mitarbeitern begangenen Verbrechen ist, sind die Gründe hierfür an gegeben. Allen diesen dokumentarischen Beweismitteln stellen Sie ein unbegründetes Ableugnen gegenüber.

[93] Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen über dieses Dokument zu streiten, ich will Ihnen aber einige Zeugenaussagen verlesen und bitte Sie zu sagen, ob Sie diese Aussagen bestätigen oder ob Sie sie ableugnen. Ich verlese Ihnen einen Auszug aus den Aussagen des früheren Finanzministers Josef Kalfus vom 8. November 1945.


[Zum Gerichtshof gewandt:]


Die Herren Richter werden diese Auszüge auf Seite 12 des englischen Textes finden. Es ist das Dokument USSR-60.


[Zum Zeugen gewandt:]


Kalfus hat ausgesagt:

»Alles in allem können wir sagen, daß das von Neurath und nach ihm von anderen deutschen Verwaltungen eingeführte Wirtschaftssystem nichts als ein systematisch organisierter Raub war. Was die Besetzung der Schlüsselstellungen in der tschechischen Industrie und Finanzwesen betrifft, soll angeführt werden, daß mit Neuraths Kommen ein starkes Wirtschaftskontingent eingeführt wurde, das sofort die Hauptstellen in der Industrie besetzte – Skoda-Werke, Brünner-Waffenfabrik, Stahlwerke in Wittkowitz. Wichtige Banken, Böhmische Diskontbank, Böhmische Unionbank, Länderbank, wurden gleichfalls besetzt.«

Bestätigen Sie diese Aussagen?

VON NEURATH: Ober diese Sache habe ich mich gestern eingehend geäußert und beziehe mich auf meine gestrigen Äußerungen. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Sie bestätigen es also nicht? Gut.


VON NEURATH: Keineswegs.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Der frühere tschechische Präsident, Richard Bienert, hat im Verhör vom 8. November 1945 ausgesagt...


[Zum Gerichtshof gewandt:]


Herr Vorsitzender! Dieser Auszug befindet sich auf Seite 13 des englischen Textes. Es ist das Dokument USSR-60.


[Zum Zeugen gewandt:]


»Als wir ihn näher kennenlernten, bemerkten wir, daß er Tschechen gegenüber rücksichtslos war... Als Landespräsident von Böhmen wußte ich, daß Neurath es war, der die politische Verwaltung Böhmens und Mährens, sowohl die staatliche wie auch die Gemeindeverwaltung den Deutschen unterstellte... Ich erinnere mich auch, daß [94] Neurath die Auflösung der Landesschulräte und die Ernennung deutscher Schulinspektoren an ihrer Stelle veranlaßte. Neurath befahl... die Auflösung der örtlichen Landesvertretungen... Auf seine Veranlassung wurden ab April 1939 tschechische Arbeiter ins Reich verschickt, wo sie für das Kriegspotential des Reiches arbeiten mußten. Er befahl die Schließung der tschechischen Universitäten und vieler tschechischer Mittel- und Volksschulen, er löste die tschechischen Turnvereine und Vereine, wie ›Sokol‹, ›Orel‹,... auf und ordnete die Einziehung des Besitzes dieser Turnvereine an... er schloß die tschechischen Lehrlings- und Studentenerholungsheime und Lager und befahl die Einziehung ihres Besitzes;... Die Gestapo führte Verhaftungen durch, aber nur auf den Befehl des Reichsprotektors. Ich selbst wurde am 1. September 1939 ebenfalls verhaftet.«

Wollen Sie auch diese Aussagen nicht bestätigen?

VON NEURATH: Nein, nein. Ich habe über alle diese Dinge, die hier aufgezählt sind, gestern hier ausführlich gesprochen. Ich habe nicht die Absicht, hier dies alles noch einmal zu wiederholen. Im übrigen ist es mir sonderbar, daß gerade Herr Bienert, der nämlich genau wußte, was ich veranlaßt habe und in welchem Verhältnis ich zur Gestapo et cetera stand, gerade Herr Bienert das hier vorbringt.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Schön, wollen wir uns andere Aussagen ansehen. Der frühere Premierminister des sogenannten Protektorats, Dr. Krejci, hat bei seiner Vernehmung am 8. November 1945 folgende Aussagen gemacht:...


[Zum Gerichtshof gewandt:]


Diesen Auszug wird der Gerichtshof auf Seite 17 des englischen Textes finden. Es ist das Dokument USSR-60. Krejci sagt aus:


[Zum Zeugen gewandt:]


»Ich weiß, daß die Turnvereine auf Befehl des Reichsprotektors aufgelöst und ihre Guthaben und Einrichtungen deutschen Verbänden, wie der SS, SA, Hitlerjugend und so weiter übergeben wurden. Am 1. September 1939, als die deutsche Armee Polen angriff, fanden weitgehende Verhaftungen statt, insbesondere von Offizieren, Intellektuellen und wichtigen politischen Persönlichkeiten. Die Verhaftungen wurden von der Gestapo ausgeführt, jedoch konnte das nicht ohne Einwilligung des Reichsprotektors geschehen.«

Und auf der nächsten Seite ein weiteres Zitat:

»Was das Judenproblem betrifft, so nötigte der Reichsprotektor die Protektoratsregierung zu Maßnahmen gegen [95] die Juden, und als dieser Druck nicht den gewünschten Erfolg zeigte, schritten die Deutschen oder die Reichsprotektoratskanzlei zur Judenverfolgung gemäß den Nürnberger Gesetzen. Das Ergebnis war, daß Zehntausende von Juden ihres Lebens und ihres Eigentums verlustig gingen.«

Wollen Sie auch diese Aussagen abstreiten?

VON NEURATH: Zu den eingangs von Ihnen erwähnten Befehlen über die Turnvereine, da habe ich zu sagen, daß das eine Polizeimaßnahme war, die nicht von mir veranlaßt worden ist, und ich wiederhole ferner, und das habe ich gestern schon gesagt, daß die Verhaftungen bei Kriegsbeginn von der Gestapo auf direkten Befehl von Berlin erfolgt sind, ohne daß ich überhaupt etwas davon erfahren habe. Ich habe es erst nachher erfahren.

Endlich, was das am Schluß erwähnte Judenproblem betrifft, so ist die in der Anklageschrift, glaube ich, enthaltene Behauptung, daß ich versucht hätte, die Protektoratsregierung zu veranlassen, die Judengesetze einzuführen, unrichtig. Ich habe beziehungsweise mein Staatssekretär hat, soviel ich weiß, mit Herrn Elias gesprochen, ich überhaupt nie; sondern ich habe nur mit Herrn Hacha nachher gesprochen bei einem späteren Anlaß, nämlich, wie versucht wurde, die Rassengesetzgebung auch gegen die Tschechen einzuführen. Dagegen hat sich Herr Hacha gesträubt, und ich habe ihm gesagt, auf meine Verantwortung hin brauche er das auch nicht zu machen. Die Einführung der Judengesetze ist allerdings auf eine Anordnung von mir erfolgt, weil ich schon Anfang April 1939 die Weisung bekommen hatte, ich müßte die Judengesetzgebung nunmehr auch in dem dem Reich einverleibten Protektorat einführen. Ich habe diese Einführung bis zum Juli hinausgezogen durch allerlei Rückfragen in Berlin, um nämlich den Juden Zeit zu lassen, einigermaßen sich darauf einzurichten. Das ist die Tatsache.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Sagen Sie mir bitte, ist Ihnen Dr. Hawelka bekannt?


VON NEURATH: Herrn Hawelka kenne ich, ja, ja.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Er kannte genau Ihre Besprechungen mit Hacha, nicht wahr?


VON NEURATH: Ja, wie weit er die kannte, weiß ich nicht. Herr Hawelka war ein- oder zweimal bei mir. Er war der Minister des Verkehrs, glaube ich.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Jawohl, ganz richtig. Er war ein Verkehrsminister, aber vorher war er der Chef der Kanzlei von Hacha.


VON NEURATH: Ja.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Hawelka hat bei seinem Verhör am 9. November 1945 folgende Aussagen gemacht:...


[96] [Zum Gerichtshof gewandt:]


Diese Aussagen, Herr Vorsitzender, befinden sich auf Seite 18 und 19 des englischen Textes des Dokuments USSR-60. Ich zitiere einen Auszug:


[Zum Zeugen gewandt:]


»Er« – Neurath – »war an dem tschechischen Volke desinteressiert, und deshalb blieben alle Eingaben der Kabinettsmitglieder und Dr. Hachas für tschechische Belange im großen und ganzen erfolglos....

Insbesondere gilt das von folgenden Aktionen:

Verhaftung tschechischer Offiziere, Intellektueller, Mitglieder der tschechoslowakischen Legion des ersten Weltkrieges und Politiker. Während des Angriffs der deutschen Armee auf Polen wurden 6000 bis 8000 Leute als Geiseln verhaftet. Die Deutschen selbst nannten sie ›Schutzhäftlinge‹. Die Mehrzahl dieser Geiseln wurde niemals verhört, und alle Schritte, die zugunsten der Unglück lichen bei der Protektoratskanzlei unternommen wurden, blieben erfolglos. Neurath als alleiniger Vertreter der Reichsregierung im Protektorat Böhmen und Mähren trägt für die Hinrichtung der neun Studenten am 17. November 1939 die Verantwortung. Diese Hinrichtungen...«


VORSITZENDER: General Raginsky! Wäre es nicht vielleicht besser und dem Angeklagten gegenüber fairer, jeweils nur eine Frage an ihn zu stellen? Sie verlesen aus diesen Dokumenten lange Absätze, die viele Fragen enthalten. Vielleicht könnten Sie die beiden von Ihnen soeben verlesenen Absätze über die Verhaftung von Offizieren vornehmen und ihn fragen, ob diese wahr oder unwahr sind. Dann könnten Sie auf die anderen Absätze übergehen, die Sie zu erörtern wünschen. Es ist sehr schwierig für ihn, so viele Fragen auf einmal zu beantworten.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Herr Vorsitzender! Diese Dokumente liegen dem Angeklagten vor. Ich werde jedoch Ihrem Wunsche Rechnung tragen und so verfahren, wie Sie es sagen. Was die Erschießung der Studenten betrifft, so werde ich sie später im ganzen behandeln.


[Zum Zeugen gewandt:]


Bestätigen Sie den Teil der Aussagen, den ich bis her über die Geiseln verlesen habe?

VON NEURATH: Über diesen Arrest oder über diese Verhaftung der Mitglieder einer sogenannten »Vlajka« Anfang September 1939 habe ich eben vorhin gesprochen und gestern ausführlich. Ich habe gesagt, daß diese Verhaftungen – ich wiederhole es noch einmal – von der Gestapo ohne mein Wissen durchgeführt [97] wurden. Die Behauptung des Herrn Hawelka, daß ich nämlich für die Mehrzahl dieser Geiseln keinerlei Schritte unternommen habe, ist unrichtig. Herr Hawelka müßte wissen, daß ich mich für diese Leute dauernd eingesetzt habe und daß ich eine ganze Menge davon freibekommen habe.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Gut, wir wollen zur nächsten Frage übergehen. Hier vor dem Gerichtshof ist wiederholt das Dokument USSR-223 vorgelegt worden, es ist das Tagebuch Franks.


[Zum Gerichtshof gewandt:]


Herr Vorsitzender! Ich meine jetzt nicht Karl Hermann Frank, der für seine Verbrechen durch Gerichtsurteil zum Tode verurteilt worden ist, sondern den Angeklagten Frank. In diesem Tagebuch steht folgendes, – das Zitat ist hier bereits vorgebracht worden. Ich möchte in diesem Zusammenhang an den Angeklagten eine Frage stellen. Die Eintragung lautete so:

Während eines Interviews mit einem Korrespondenten des »Völkischen Beobachter« im Jahre 1942 erklärte der Angeklagte Frank, daß in Prag rote Plakate ausgehängt worden sind mit einer Bekanntmachung, daß heute sieben Tschechen erschossen worden sind und daß, wenn ein Befehl gegeben würde, daß derartige Plakate für je sieben erschossene Polen ausgehängt werden sollen, dann würde es in Polen nicht genügend Holz geben, um das Papier für solche Plakate herzustellen.

Sagen Sie bitte, wurden tatsächlich in Prag diese roten Plakate ausgehängt?

VON NEURATH: Das habe ich gestern gesagt. Ich habe ja gestern schon gesagt, daß das dieses Plakat war, auf dem meine Unterschrift mißbraucht war, daß ich es gar nicht gesehen hatte vorher.

Das ist dieses rote Plakat.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Wenn Sie es vorher nicht gesehen haben, dann sehen Sie es sich einmal an.


VON NEURATH: Ja, ich kenne es genau.


VORSITZENDER: General Raginsky! Er sagt nicht, er hätte es nicht gesehen, er sagt, es wäre ohne sein Wissen angeschlagen worden.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Herr Vorsitzender! Ich werde noch darauf zurückkommen. Ich möchte jetzt nur feststellen, daß der Angeklagte Frank gerade über diese roten Plakate in seinem Tagebuch schrieb. Ich lege dieses Plakat als Beweisstück USSR-489 vor. Ich möchte diese Bekanntmachung verlesen. Sie ist nicht sehr lang und wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Der Text ist folgender:

[98] »Bekanntmachung!

Trotz wiederholter ernster Warnungen versucht seit einiger Zeit eine Gruppe tschechischer Intellektueller in Zusammenarbeit mit Emigrantenkreisen im Ausland durch kleine oder größere Widerstandsakte die Ruhe und Ordnung im Protektorat Böhmen und Mähren zu stören.

Es konnte dabei festgestellt werden, daß sich Rädelsführer dieser Widerstandsakte besonders auch in den tschechischen Hochschulen befinden.

Da sich am 28. Oktober und am 15. November diese Elemente hinreißen ließen, gegen einzelne Deutsche tätlich vorzugehen, wurden die tschechischen Hochschulen auf die Dauer von drei Jahren geschlossen, neun Täter erschossen und eine größere Anzahl Beteiligter in Haft genommen.

Prag, den 17. November 1939.

Der Reichsprotektor in Böhmen und Mähren gez. Freiherr v. Neurath.«


[Zum Zeugen gewandt:]


Sie behaupten also, daß Sie diese Bekanntmachung nicht unterschrieben haben?

VON NEURATH: Jawohl, das habe ich schon gestern oder vorgestern ausgeführt, wie das zustande gekommen ist, nämlich in meiner Abwesenheit.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Es ist nicht notwendig, das zu wiederholen, was Sie bereits gesagt haben. Ich will jetzt die Aussagen über diese Angelegenheit von Karl Hermann Frank vom 26. September 1945 verlesen. Diese Aussagen sind auf Seite 46 und 47 des russischen Textes zu finden, der englische Text wird vorgelegt. Karl Hermann Frank hat über diese Bekanntmachung, die ich soeben verlas, folgendes ausgesagt:

»Dieses Dokument, das vom 17. November 1939 datiert war, ist von Neurath unterschrieben. Neurath hat weder gegen die Erschießung der neun Studenten protestiert...«


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr Präsident! Darf ich hier zu diesem Dokument auf etwas aufmerksam machen. Es ist aus diesem Dokument, das weder datiert und in meiner Abschrift auch nicht unterschrieben ist, überhaupt nicht ersichtlich, von wem das ist. Ich möchte doch einmal protestieren gegen die Vorlesung dieses Dokuments.

VORSITZENDER: Dr. von Lüdinghausen! Liegt nicht eine Beglaubigung dieses Dokuments vor?

DR. VON LÜDINGHAUSEN: In meiner Abschrift nicht.


VORSITZENDER: Gut...


[99] STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Herr Vorsitzender! Gestatten Sie mir, dieses Mißverständnis aufzuklären. Dr. von Lüdinghausen hat den vollen Text des Dokuments USSR-60 zu seiner Verfügung, und zwar den englischen Text, der Ihnen, Herr Vorsitzender, auch vorliegt. Dieses Dokument ist gestern von Dr. von Lüdinghausen zitiert worden, und es enthält eine Beglaubigung über die Richtigkeit dieses Protokolls, die von dem Vertreter der Tschechoslowakischen Regierung unterschrieben ist und ein Datum trägt. Um das Verfahren zu vereinfachen, ist Dr. Lüdinghausen ein weiteres Exemplar dieses Protokolls über die Aussagen von Frank übergeben worden. Ich versichere, und man kann sich leicht davon überzeugen, daß die Beglaubigung dieses Dokuments vorhanden ist, sowie das Datum vom 17. November 1939.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ich darf hierzu nur folgendes bemerken: Als ich diese große Anklageschrift der Anklageberichte der Tschechischen Delegation erhielt durch Herrn Oberst Eèer, waren diesem Dokument überhaupt keine Zusätze oder Anlagen beigefügt, außer Gesetzestexten. Ich habe mich dann bemüht, weil auf solche Zusätze Bezug genommen war, diese zu bekommen. Daraufhin habe ich nur einen Annex einer Anlage oder Zusatz »Nummer 2« bekommen, die anderen habe ich so in demselben Zustand bekommen wie dieses Dokument.


VORSITZENDER: Dr. von Lüdinghausen! Einen Augenblick bitte. Wollen Sie uns bitte sagen, von welchem Dokument Sie jetzt sprechen?


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Von USSR-60.


VORSITZENDER: USSR-60, das ist doch der tschechische Bericht?


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Das ist der tschechische Bericht, der sehr dick ist, da ist darauf Bezug genommen. Zu diesem sind auch Annexe herausgegangen, und ich wiederhole, daß diese Annexe mir nicht zugänglich gemacht wurden, beziehungsweise ich habe mich selbst darum bemüht, aber ich habe eines bekommen, das nicht identisch ist mit dem; und dieses Dokument habe ich dann später in derselben Verfassung bekommen, in der es hier mir jetzt eben vorgelegt wurde, das heißt: ohne Überschrift, ohne Unterschritt und ohne Datum und erst recht ohne irgendein Zertifikat, wann, wo und von wem diese angebliche Aussage von Frank aufgenommen worden ist.


VORSITZENDER: Wollen wir hören, was General Raginsky dazu zu sagen hat. Wie ich General Raginsky verstehe, sagt er, daß ein Zertifikat zu dem Dokument vorhanden sei und daß das, was Ihnen vorgelegt worden ist, lediglich eine Kopie sei, die vielleicht das Datum und die Bestätigung nicht hat, aber dasselbe sei wie das beglaubigte Dokument. So sagten Sie doch, General Raginsky?


[100] STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Jawohl.


VORSITZENDER: Könnten Sie Dr. von Lüdinghausen nicht das Zertifikat und das beglaubigte Dokument zeigen?


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Dieses Zertifikat befindet sich auf Seite 44 des russischen Textes im Anhang zum Dokument USSR-60 und ist für General Eèer von dem Oberst im Generalstab Nowack unterschrieben. Dies ist das Dokument, das von uns seinerzeit dem Gerichtshof vorgelegt wurde.


VORSITZENDER: Ist es notwendig, die Zeit des Gerichtshofs mit diesem besonderen Dokument derartig in Anspruch zu nehmen? Das scheint mir eine große Zeitvergeudung zu sein.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Es ist doch immerhin wichtig, ich kann doch sonst nicht nachprüfen, ob es echt ist. Es ist doch mein gutes Recht.


VORSITZENDER: Ich habe General Raginsky gefragt, ob er darauf besteht, das Dokument zu benutzen. Lohnt es sich? Ich weiß nicht, was das für ein Dokument ist und was darin steht.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Ich glaube, es ist nicht notwendig, um so mehr, als dieses Dokument schon vor einigen Monaten dem Gerichtshof vorgelegt und von diesem angenommen wurde. Ich verstehe offen gestanden Dr. von Lüdinghausen nicht.


VORSITZENDER: Warum zeigen Sie nicht Dr. von Lüdinghausen die Beglaubigung zu diesem Dokument, das Sie ihm übergeben haben?


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Ja, sicherlich, Herr Präsident. Ich habe dieses Zertifikat in russischer Sprache. Ich zitiere den russischen Text und kann ihn auch Dr. Lüdinghausen zeigen. Das Originaldokument liegt dem Gerichtshof vor und ist im Besitze des Gerichtshofs.


VORSITZENDER: Ist denn keine deutsche Übersetzung dieser Beglaubigung vorhanden, und stellt diese Beglaubigung nicht die Herkunft des Dokuments fest? Ist die Beglaubigung ins Deutsche übersetzt?


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Ich habe hier im Augenblick keinen deutschen Text vorliegen, aber während der Pause werde ich das Original in deutscher Sprache vorlegen.


VORSITZENDER: Dr. von Lüdinghausen! Dem Gerichtshof ist mitgeteilt worden, dieses Dokument sei schon früher eingereicht worden, gleichzeitig mit der Beglaubigung von General Eèer, die bestätigt, daß dieses Dokument ein Teil des tschechischen Berichtes ist. Unter diesen Umständen wird der Gerichtshof das Dokument zulassen.


[101] DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr Präsident! Dann habe ich noch einen Einwand gegen die Verwendung dieses Dokuments. Der Verteidigung steht bekanntlich das Recht zu, wenn irgendwelche Vernehmungsprotokolle oder Affidavits von Zeugen vorgelegt werden, diese Zeugen vorzuladen zur Vernehmung. Der frühere Staatssekretär Frank, von dem diese Aussage stammt, befindet sich aber bekanntlich nicht mehr unter den Lebenden. Ich protestiere daher auch aus diesem Grunde gegen die Verwendung des Dokuments.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Herr Präsident...


VORSITZENDER: Dr. von Lüdinghausen! Dieses Dokument ist angeboten und als Beweismaterial auch angenommen worden, als K. H. Frank noch unter den Lebenden weilte. Das ist ein Grund, es anzunehmen.

Das Dokument ist unter Paragraph 21 des Statuts zulässig und ist unter diesem Artikel zugelassen worden. Es besteht keine Verfügung, wie Sie angaben, daß nämlich die Verteidigung berechtigt wäre, jeden, der ein Affidavit abgegeben hat, in ein Kreuzverhör zu nehmen. Das steht ganz und gar im Ermessen des Gerichtshofs, und aus diesem Grunde wird Ihr Einwand abgewiesen.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Herr Vorsitzender! Ich möchte Sie nicht länger mit dieser Episode aufhalten, aber ich wollte nur darauf aufmerksam machen, daß es unnötige Zeitverschwendung ist, – da Dr. Lüdinghausen ja selbst einige Aussagen Franks in seinem Dokumentenbuch vorgelegt hat.

Ich verlese jetzt einige Aussagen von Frank. Ich wiederhole, es geht immer noch um diese Warnung, die wir eben dem Gerichtshof dargelegt haben, datiert vom 17. November 1939, unterschrieben von von Neurath, der weder gegen die Erschießungen der neun Studenten protestierte noch gegen die Verschickung der Studenten ins Konzentrationslager. Er verlangte auch keinerlei Änderungen dieser Gesetzgebung.


[Zum Zeugen gewandt:]


Haben Sie diese Aussage gehört, Angeklagter?

VON NEURATH: Ja, ich habe sie gelesen.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Bestreiten Sie sie?


VON NEURATH: Aber ganz entschieden. Ich habe gar nicht die Möglichkeit, gehabt, das zu tun, denn ich war nicht in Prag und konnte infolgedessen weder Kenntnis haben, noch sie unterschreiben oder weitergeben.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Gut. Sie behaupten also weiterhin, daß die Polizei Sie niemals von den Verhaftungen und [102] anderen polizeilichen Maßnahmen in Kenntnis setzte? Unterstreichen Sie diese Behauptung?


VON NEURATH: Ich habe nicht gesagt, daß sie mich niemals in Kenntnis gesetzt hat, aber immer nachher. Meine Kenntnis stammte immer aus tschechischen Quellen.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: War es nicht so, daß die Polizei Ihnen normalerweise über die wichtigsten Vorkommnisse berichtete?


VON NEURATH: Keineswegs. Insbesondere habe ich von dem, was sie vorhatte, nichts erfahren, höchstens nachher mal, oder wenn ich es von tschechischer Seite erfuhr und mich dann bei der Polizei erkundigte.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Gut. Ich verlese Ihnen jetzt einen Auszug aus den Aussagen Karl Hermann Franks vom 7. März 1946. Diese Aussagen habe ich gestern dem Gerichtshof vorgelegt und einen Teil dieses Protokolls bereits verlesen.

Frank sagt:

»R-Prot. von Neurath hat sich sowohl von mir als Staatssekretär als auch vom BdS über die wesentlichen sicherheitspolizeilichen Vorkommnisse im Protektorat laufend Bericht erstatten lassen. So wurde Neurath in dem speziellen Fall der Studentendemonstrationen vom November 1939 von mir und vom BdS informiert. Es handelte sich in diesem Falle, was die Exekution der Studenten anbelangt, um einen direkten Hitler-Befehl, nach dem die Erschießungen aller Rädelsführer gefordert wurde. Die Anzahl der Rädelsführer wurde von der Prager Gestapo festgesetzt und dem R-Prot. ebenfalls bekanntgegeben. Die Beurteilung der Anzahl der Rädelsführer war in diesem Falle der Staatspolizei, bezw. der Genehmigung des Reichsprotektors überlassen. Der Reichsprotektor von Neurath hat mit seiner Unterschrift, die er unter die öffentliche Bekanntmachung setzte, welche die Erschießungen der Studenten publizierte, die Aktion genehmigt.... Ich habe Neurath über den Verlauf der Ermittlungen genau informiert, und er hat die Kundmachung unterschrieben.

Wenn er damit nicht einverstanden gewesen wäre und eine Änderung, zum Beispiel eine Milderung, verlangt hätte, welches Recht er besessen hätte, so hätte ich mich seiner Meinung anschließen müssen.«


[Zum Zeugen gewandt:]


Wollen Sie nun diese Aussagen ableugnen?

VON NEURATH: Ja, ich weiß nicht, wie oft ich noch sagen soll, daß ich da überhaupt gar nicht in Prag war. Und im übrigen weiß [103] ich nicht, unter welchem Druck Frank zu diesen Aussagen gekommen ist. Es steht hier das Datum nicht darunter, aber Sie haben eben gesagt, am 7. April wurde diese Aussage gemacht, also ein paar Tage vor seiner Exekution.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Ich möchte die Aufmerksamkeit des Gerichtshofs darauf lenken, daß der Angeklagte bewußt die Tatsachen verdreht. Ich habe mehrere Male gesagt, daß diese Aussagen am 7. März gemacht wurden und nicht am 7. April, oder zwei Tage vor der Hinrichtung, wie Sie es gerade sagten.

Sie haben das Dokument vor sich liegen, Sie können es ansehen und sich selbst davon überzeugen.


VON NEURATH: Nun gut, sagen wir am 7. März; ich glaube, ich habe 7. April gesagt, denn ich habe allerdings dieses Datum oben nicht gesehen. Aber ich habe, wie gesagt – ich glaube, ich habe Ihnen dreimal schon gesagt – daß ich überhaupt davon nichts wissen konnte, da ich nicht da war.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Sie verwechseln sehr viel. Sie waren sich gestern über die Anzahl der Studenten, die erschossen wurden, auch nicht ganz im klaren.


VON NEURATH: Ich weiß nicht mehr, was ich gestern sagte, aber soviel verwechselt werde ich es wohl kaum haben; ob ein oder zwei weniger waren, das weiß ich nicht.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Ich werde Sie daran erinnern. Ihre Antwort auf eine Frage von Sir David, der Dokument 3858-PS vorgelegt hat und aus dem hervorgeht, daß nach der Schließung der Hochschulen 18000 Studenten nicht mehr in den...


VORSITZENDER: Ist es nötig, das Kreuzverhör von Sir David noch einmal durchzugehen? Wir haben doch bereits erklärt, daß wir denselben Gegenstand nicht zweimal erörtern wollen.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Herr Vorsitzender! Ich möchte nicht auf dieselbe Sache noch einmal zurückkommen und beabsichtige nicht, Sir David zu ergänzen, der das Kreuzverhör sehr eingehend durchführte. Ich wollte nur die Wahrheit feststellen. Als der Angeklagte gestern sagte, daß in dem von Sir David vorgelegten Dokument ein Irrtum sei – daß in Prag nur zwei Hochschulen waren, und infolgedessen keine 12000 Studenten verhaftet werden konnten – so entspricht das nicht der Wahrheit. Denn es handelte sich ja nicht nur um die Schließung der zwei Prager Universitäten, sondern auf Grund des Erlasses vom 17. November 1939, den ich erwähnt habe, wurde auch die tschechische Universität in Prag, die tschechische Universität in Brünn, die Technische Hochschule in Brünn geschlossen und die tschechische Technische Hochschule in Prag...


[104] VORSITZENDER: Das haben wir alles schon gestern gehört, und wir wollen es nicht wieder hören. Wir haben alles über die Schließung der Prager Universität schon gestern gehört.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Gut, Herr Vorsitzender, ich wollte nur feststellen, daß nicht zwei Universitäten geschlossen wurden, sondern ungefähr zehn Hochschulen. Ich habe nur noch einige Fragen an den Angeklagten.


[Zum Zeugen gewandt:]


Sie wurden von Hitler mehrfach ausgezeichnet, wie aus Dokumenten hervorgeht und wie Sie selbst ausgesagt haben. Insbesondere wurden Sie am 22. November 1942 mit dem Eisernen Kreuz für kriegerische Verdienste ausgezeichnet. Für welche Verdienste hat Hitler Sie ausgezeichnet?

VORSITZENDER: Auch das haben wir doch gestern alles schon gehört im Kreuzverhör von Sir David oder im direkten Verhör; ich weiß nicht mehr, in welchem es war. Ich glaube, es war im ersten Verhör – alle diese Auszeichnungen, die dem Angeklagten verliehen wurden.

STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Herr Vorsitzender! Ich möchte nicht auf diese Auszeichnungen zurückkommen. Ich möchte den Angeklagten nur fragen, für welche besonderen Verdienste der Angeklagte von Hitler im Jahre 1942 das Eiserne Kreuz erhalten hat.


VORSITZENDER: Gut, das können Sie ihn fragen.


VON NEURATH: Das kann ich leider nicht sagen, ich weiß nicht, was für Verdienste ich gehabt haben soll. Die Verleihung dieses Verdienstkreuzes erfolgte ganz generell an alle höheren Beamten, die damals im Dienste waren.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Gut, ich will weiter nicht auf Ihrer Antwort bestehen. Ich stelle nur fest, daß Sie im Jahre 1940 nach der Durchführung des Massenterrors gegen die tschechoslowakische Bevölkerung ausgezeichnet wurden. Sagen Sie, ist Ihnen oft...


VON NEURATH: Daß ich Massenterror gemacht haben soll, weiß ich nicht.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Wenn Sie nicht wissen, worum es sich dabei handelt, dann wollen wir diese Frage fallen lassen.

Im Februar 1943 wurden zu Ihrem Jubiläum von sehr vielen führenden Zeitungen Artikel veröffentlicht, die Ihnen gewidmet waren. Ich will dem Gerichtshof alle diese Zeitungen nicht vorlegen und vorlesen. Ich möchte nur zwei Auszüge aus einer Zeitung zitieren, und zwar aus dem »Fränkischen Kurier« vom 2. Februar 1943. Man wird Ihnen die Photokopie dieses Artikels vorlegen. Bitte folgen Sie dem Text, den ich jetzt vorlesen werde.


[105] [Zum Gerichtshof gewandt:]


Ich lege diese Zeitung dem Gerichtshof als Dokument USSR-495 vor.


[Zum Zeugen gewandt:]


Im Zusammenhang mit Ihrem Jubiläum wurde erklärt:

»Die markantesten außenpolitischen Ereignisse nach der Machtübernahme, an denen Freiherr von Neurath als Reichsaußenminister maßgeblich Anteil hatte und mit denen sein Name für immer verbunden sein wird, sind das Verlassen der Abrüstungskonferenz in Genf... die Wiedereingliederung des Saargebietes,... die Kündigung des Locarno- Vertrages...«

Und weiter heißt es:

»Reichsminister, Reichsprotektor Freiherr von Neurath wurde vom Führer in Würdigung seiner hervorragenden Arbeit für Volk und Reich mehrfach ausgezeichnet. Er erhielt u. a. das Goldene Ehrenzeichen der Partei, wurde zum SS-Gruppenführer ernannt, ist Träger des Deutschen Adlerordens und des Goldenen Treudienstehrenzeichens... für seine 40-jährige diplomatische Tätigkeit. In Anerkennung seiner besonderen Verdienste um die Durchführung von Kriegsaufgaben verlieh ihm der Führer als Reichsprotektor von Böhmen und Mähren das Kriegsverdienstkreuz I. Klasse.«

Sind die Tatsachen in diesem Artikel richtig wiedergegeben?

VON NEURATH: Wenn ich von jedem Artikel, der von irgendeinem Journalisten geschrieben wird, die Richtigkeit nachprüfen wollte, so hätte ich viel zu tun gehabt. Was da drin steht, ist eine Ansicht eines Journalisten und nichts weiter.

VORSITZENDER: So lautete die Frage nicht. Die Frage war, ob die Tatsachen in diesem Artikel richtig wiedergegeben sind; das können Sie beantworten.


VON NEURATH: Ja,... nein.


VORSITZENDER: Was meinen Sie, ja oder nein?


VON NEURATH: Die Dekorationen sind richtig angeführt, und sonst ist es nicht richtig.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Ich habe keine weiteren Fragen, Herr Vorsitzender.


VORSITZENDER: Herr Dr. von Lüdinghausen! Wünschen Sie ein Rückverhör anzustellen?


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr Präsident! Ich hatte gestern nachmittag wohl nicht mit Unrecht das Gefühl und den Eindruck, daß Herr von Neurath durch die vorausgegangenen Verhöre sichtlich angestrengt und müde war und daß er nicht mehr in der Lage war, im vollen Umfange den an ihn gestellten Fragen gerecht zu werden. [106] Es ist dies nicht verwunderlich, wenn man berücksichtigt, daß Herr von Neurath im 74. Lebensjahre steht und nebenbei noch ein nicht ganz leichtes Herzleiden besitzt. Ich sehe mich daher genötigt, zu einzelnen Punkten meines Kreuzverhörs von gestern noch einige Fragen an ihn zu stellen.

Herr von Neurath! Sie haben gestern ausgesagt, Sie hätten wegen der Ausschreitungen der SA und sonstiger radikaler Kreise im Jahre 1933 und auch später häufig bei Hitler protestiert. Was war der Grund dafür, daß Sie bei Hitler selbst vorstellig wurden und Ihre Bedenken nicht in den Kabinettssitzungen, die ja damals noch stattfanden, zum Ausdruck brachten?


VON NEURATH: Ich hatte damals ja schon die Erfahrung gemacht, daß Hitler keinerlei Widersprüche vertragen konnte oder irgendwelchen Vorstellungen zugänglich war, wenn dies in einem größeren Kreise geschah, weil er dann immer den Komplex hatte, er stünde irgendwie einer Opposition gegenüber, gegen die er sich zur Wehr setzen müßte. Anders war es, wenn man ihm allein gegenüberstand. Er war dann, jedenfalls in den ersten Jahren, vernünftigen Argumenten gegenüber durchaus zugänglich, und es ließ sich vieles im Sinne einer Mäßigung, einer Abschwächung radikaler Maßnahmen erreichen.

Im übrigen möchte ich noch erwähnen, daß gerade nach den aus dem Affidavit des Herrn Geist erwähnten Ausschreitungen auch eine Kabinettssitzung stattgefunden hat, in der gemeinsam mit Nicht-Nazi-Ministern scharf gegen die Wiederholung solcher Erscheinungen protestiert worden war. Hitler ging damals durchaus auf diese Vorstellungen ein und erklärte, solche Ausschreitungen dürften sich nicht wiederholen. Er hielt dann auch eine Rede kurz danach, in der eine entsprechende Zusicherung öffentlich von ihm ausgesprochen wurde. Es ist dann auch bis zum Juni 1934 keine Ausschreitung mehr vorgekommen.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Es ist aber dann im April 1933 doch zu dem bekannten Judenboykott von 24 Stunden gekommen, wenn ich mich nicht irre?


VON NEURATH: Ja, das war eine der Aufforderungen von Herrn Goebbels. Es fanden aber dabei tatsächlich Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten überhaupt nicht statt, sondern nur die Beschränkung auf den Boykott. Daß es im übrigen in diesem Falle zu weiteren Auseinandersetzungen nicht kam, war das Ergebnis einer Intervention, die ich damals gemeinschaftlich mit Herrn von Papen bei Hitler machte, bei Hindenburg speziell. Eine völlig zutreffende Darstellung dieses Vorfalles befindet sich, wie ich mich erinnere, in einem Artikel der »Times« vom April 1933, die auch in meinem Dokumentenbuch enthalten ist.


[107] DR. VON LÜDINGHAUSEN: Sie ist vorgelegt, Herr Präsident, in meinem Dokumentenbuch Nummer 9.


[Zum Zeugen gewandt:]


Im Zusammenhang mit den damals vorgekommenen Ereignissen, Verhaftungen und so weiter hat gestern Sir David besonders auf die Verhaftung des bekannten Schriftstellers Ossietzky hingewiesen. Ist Ihnen erinnerlich, daß dieser Ossietzky bereits vor der Machtübernahme von einem deutschen Gericht zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt worden war?

VON NEURATH: Ja, das ist mir nachträglich eingefallen. Ich entsinne mich, daß Herr Ossietzky bereits vor der Machtübernahme, ich weiß nicht unter welcher Regierung, von einem Reichsgericht wegen Landesverrats zu einer längeren Zuchthausstrafe verurteilt wurde, eine Zuchthausstrafe, die er aber noch nicht abgesessen hatte, und deswegen wurde er wieder verhaftet.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ich möchte nun noch eine Frage an Sie richten bezüglich des gestern von der Anklagebehörde unterbreiteten Berichts. Es ist der Brief des Ministerialdirektors Köpke vom 31. Mai 1934. Das ist D-868. Sehen Sie in diesem Bericht aus den von Herrn Köpke aufgezeichneten Mitteilungen einen Beweis für die Einschaltung des Auswärtigen Amtes in die Wühlarbeit der österreichischen Nazis?


VON NEURATH: Nein, keineswegs. Es handelt sich also um eine Meldung, die mir der Ministerialdirektor Köpke gemacht hat über einen Besuch des Herrn Wächter, den er als einen verantwortungsbewußten Österreicher bezeichnete. Dieser Herr Wächter hatte die Verbindung mit dem Auswärtigen Amt und mit Hitler gesucht, um auf die Gefahren hinzuweisen, die sich aus dem anwachsenden Radikalismus der österreichischen Nazis ergaben. Der Direktor der politischen Abteilung, Herr Köpke, identifiziert sich selbst mit Herrn Wächter hinsichtlich der Befürchtungen und sagte zu, in diesem Sinne Vortrag zu halten. Ich glaube nicht, daß man bezweifeln kann, daß mein Standpunkt nicht genau derselbe war wie der von Herrn Köpke, und ich habe diesen Bericht an Hitler, um diesen darauf aufmerksam zu machen, an ihn weitergeleitet.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Die Anklage, oder besser, Sir David, hat gestern auf Berichte hingewiesen, die sich mit der Behandlung des tschechischen Problems durch Sie und Frank befaßt, vorgelesen. Das ist Dokument Nummer 3859-PS, ein Brief, den Sie am 31. August 1940 zur Vorbereitung Ihres Vortrags bei Hitler an den Chef der Reichskanzlei Lammers gesandt haben. Waren diese Berichte, beziehungsweise der von Frank verfaßte, identisch mit der in dem Friderici-Bericht am 15. Oktober erwähnten Denkschrift?


[108] VON NEURATH: Ja, das sind offenbar dieselben Berichte.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Sie haben nun bei der Vernehmung zu dem Friderici-Bericht ausgesagt, das ginge zurück auf die SS, verschiedene Parteikreise und den Gauleiter Niederdonau bezüglich einer Aussiedlung der Tschechen nach den Ostgebieten. Sie haben weiter gesagt, daß Sie, um diesen von Ihnen selbst als unsinnig bezeichneten Plänen vorzubeugen, Frank diese Denkschrift haben verfassen lassen, in der eine weniger radikale Lösung empfohlen wurde, die dann auch von Hitler später in gewissem Umfange genehmigt worden wäre. In Wirklichkeit sei, was von Ihnen beabsichtigt war, überhaupt nicht erfolgt, und die Idee der Einverleibung war praktisch begraben gewesen; ist das richtig?


VON NEURATH: Ja, das ist richtig. Diesen ganzen Vorgang und das Entstehen dieser Denkschriften zu erklären, ist äußerst schwierig. Verständlich ist sie nur aus der ganzen innenpolitischen Entwicklung. Die Bemühungen der umliegenden Gauleiter, das Protektoratsgebiet aufzuteilen, waren sehr weit gediehen. Sie hatten die Denkschriften eingereicht, und dahinter stand Herr Himmler. Aus all diesen Denkschriften war eine radikale Lösung dieser Frage in Aussicht genommen, das heißt es war zu befürchten, daß Hitler den Wünschen dieser Gauleiter entsprechen würde. Um dem entgegenzutreten, mußte ich einige Vorschläge machen, von denen ich selbst ja sagte, sie sind undurchführbar, und ich habe mich identifiziert zunächst damit, um sie nachträglich als Absurdum zu erklären. So nur ist das Zustandekommen dieser Memoranden zu erklären. Ich selbst habe dieses Memorandum nicht verfaßt, sondern es ist auf meinem Büro gemacht worden, allerdings auf meine gegebenen Richtlinien hin. Es war aber, und das möchte ich hier nochmals ausdrücklich betonen, ein rein taktisches Manöver, um an Hitler heranzukommen, denn ich befürchtete, daß er den radikalen Vorschlägen Himmlers und Genossen zustimmen würde.

Erreicht habe ich tatsächlich, daß Hitler einen strikten Befehl herausgab, den ich verlangt hatte, daß alle diese Pläne nicht mehr erörtert werden dürften, sondern nur noch die sogenannte Assimilierung bestehen bliebe, die aber erst in Jahren erfolgen könnte; und geschehen ist tatsächlich nichts mehr, und das war mein Ziel.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Steht nun die gestern von der Anklagebehörde vorgelegte Verfügung an die deutschen Behörden im Protektorat über die Behandlung des deutsch-tschechischen Problems in der Öffentlichkeit – das ist Dokument Nummer 3862 vom 27. Juni 1941 – irgendwie im Zusammenhang mit diesen Denkschriften beziehungsweise dieser Unterredung und dieser Entscheidung Hitlers?


VON NEURATH: Ja, das hängt miteinander auf das engste zusammen, das habe ich, glaube ich, gestern schon gesagt. Im Jahre [109] darauf fingen auf einmal wieder ähnliche Agitationen für eine solche Germanisierung und Aufteilung des Protektorats an, und dagegen habe ich mich gewandt und habe verboten, daß diese Frage, nachdem sie einmal entschieden ist, erörtert wird.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Aus einem gestern vorgelegten Schreiben – das ist USSR-487 – des Chefs der Sicherheitspolizei an Staatssekretär Frank vom 21. Juli 1943, also nach Ihrem Ausscheiden, will die Anklage entnehmen, daß Sie bereits nach einem Erlaß vom 5. Mai 1939 den SD-Führer und Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Prag als Ihren politischen Referenten eingesetzt haben. In welcher Form hat sich dieser in dieser Eigenschaft betätigt, hat er sich überhaupt betätigt?


VON NEURATH: Nein, eben nicht, es geht ja daraus hervor aus diesem Mahnschreiben vom 21. Juli 1943, daß er überhaupt nie in Tätigkeit getreten ist.


STAATSJUSTIZRAT RAGINSKY: Herr Vorsitzender! Ich möchte bemerken, daß die Frage nicht richtig gestellt ist. Es handelt sich um Dokumente nicht aus den Jahren 1943 oder 1942. Es ist ein Dokument vom 21. Juli 1939.


VON NEURATH: Darf ich dazu gleich bemerken, daß das ganz gleichgültig ist, es ist also nichts geschehen, ich habe keinen politischen Referenten ernannt.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Welche Maßnahmen sind nun auf die beiden gestern unter Nummer 3851-PS und 3858-PS der Anklage vorgelegten Vorschläge von Abteilungen und Abteilungschefs Ihrer Behörde hinsichtlich des Arbeitseinsatzes, der durch die Schließung der tschechischen Hochschulen beschäftigungslos gewordenen Studenten getroffen worden?


VON NEURATH: Ich habe gestern schon gesagt, daß es sich offenbar um einen Vorschlag eines Referenten handelt, der überhaupt nicht zu mir gelangt ist, sondern vorher von meinem Unterstaatssekretär zurückgewiesen wurde. Wie ich für den Inhalt eines Referentenentwurfes verantwortlich gemacht werden soll, verstehe ich nicht.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ich möchte nun noch eine Frage zu dem deutsch-österreichischen Vertrag vom 11. Juli 1936 an Sie richten. Ist es richtig, daß Sie auch in dem bereits von der Anklagebehörde früher vorgelegten Bericht des Dr. Rainer an Bürckel – es ist Dokument 812-PS – erwähnten, daß Hitler unmittelbar nach dem Abschluß dieses Vertrags persönlich Dr. Rainer und dem österreichischen Nazi-Führer Globocznik erklärt habe, daß dieser Vertrag vom 11. Juli 1936 von ihm durchaus ehrlich und aufrichtig abgeschlossen worden ist und daß auch die österreichischen Nationalsozialisten sich unter allen Umständen strengstens an diesen [110] Vertrag halten und sich nach ihm in ihrem Benehmen gegenüber der österreichischen Regierung richten müßten?


VON NEURATH: Ja, das ist richtig, und ich glaube auch, mich zu erinnern, daß ich das gestern schon gesagt habe, daß Rainer das hier auf dem Zeugenstand ausgesagt hat.


VORSITZENDER: Dr. von Lüdinghausen!


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ich möchte nun, das ist meine letzte Frage...


VORSITZENDER: Der Angeklagte hat diese Fragen von seinem Gesichtspunkt aus gestern ganz klar beantwortet.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ja, ich bin auch schon fertig. Ich möchte nur noch eine Frage als Abschluß des Gesamtverhörs meines Klienten an ihn richten.


[Zum Zeugen gewandt:]


Die Anklage und auch Sir David gestern hat Ihnen zum Vorwurf gemacht, daß Sie, obwohl Sie nach Ihren Angaben mit dem Nazi-Regime und seinen Methoden nicht einverstanden waren und vieles, was geschah, für verwerflich und unmoralisch hielten und verabscheuten, nicht Ihren Abschied genommen haben, sondern weiter in der Regierung geblieben sind. Wollen Sie sich bitte nochmals dazu äußern?

VON NEURATH: Ich habe ja gleich anfangs erwähnt, daß ich Hindenburg das Versprechen abgegeben habe, in die Regierung einzutreten und dort zu bleiben so lange, als es mir irgend möglich sein werde, einen, jeder Gewaltanwendung abholden Kurs beizubehalten und Deutschland vor kriegerischen Verwicklungen zu bewahren. Das war mein Auftrag und kein anderer. Aber nicht nur dieses, Hindenburg gegebene Versprechen, sondern zum anderen auch meine Pflicht und mein Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem deutschen Volk, solange als irgend möglich es vor kriegerischen Verwicklungen zu behüten, banden mich an dieses Amt. Daneben mußten all meine persönlichen Wünsche, die ganz andere waren, zurückstehen. Meine Macht und mein Einfluß als Außenminister ging leider nicht soweit, daß ich auf einem anderen Gebiete, wie zum Beispiel der Innenpolitik, unheilvolle und unmoralische Handlungen verhindern konnte; trotzdem ich es in vielen Fällen versucht habe, nicht zuletzt gerade in der Judenfrage. Ich hielt es aber für meine oberste Pflicht, meine Aufgaben zu erfüllen und mich diesen nicht zu entziehen, wenn auch auf anderen Gebieten, auf denen ich keinen Einfluß hatte, Dinge geschahen, die mich und meine Anschauung aufs tiefste verletzten.

Es mag viele Leute geben, die einen anderen Auffassungssinn und eine andere Einstellung haben als ich. Ähnliche Angriffe habe [111] ich erlebt, als ich mich seinerzeit im Jahre 1919 der ersten Revolution einem sozialdemokratischen Kabinett zur Verfügung stellte; auch da wurden mir die heftigsten Angriffe, die heftigsten Vorwürfe gemacht.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Sie haben doch selbst schwer gerungen mit sich. Das haben Sie mir doch öfter erzählt?


VON NEURATH: Ja, es ist selbstverständlich. Es ist nicht leicht, einer Regierung anzugehören, mit deren Tendenzen man nicht einverstanden ist und für die man nachher verantwortlich gemacht werden soll.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr Präsident! Damit ist meine Vernehmung beendet. Ich würde vorschlagen, jetzt eine Pause zu machen, Herr Präsident und dann die Vernehmung meiner Zeugen beginnen zu dürfen.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich jetzt vertagen.


[Pause von 10 Minuten.]


VORSITZENDER: Dr. Horn! Sie haben einige Fragen.

DR. MARTIN HORN, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN VON RIBBENTROP: Ich bitte um die Erlaubnis, daß mein Mandant heute nachmittag und morgen von der Sitzung fernbleiben darf, weil ich wichtige Fragen mit ihm zu besprechen habe.


VORSITZENDER: Das ist der Angeklagte von Ribbentrop?


DR. HORN: Ja, von Ribbentrop.


VORSITZENDER: Ja, natürlich.


DR. HORN: Danke schön.


DR. ALFRED THOMA, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN ROSENBERG: Herr Präsident! In der gestrigen Nachmittagssitzung hat Generalleutnant Raginsky gefragt, ob Rosenberg sich in Neuraths Außenpolitik eingemischt hätte. Die Dolmetscherin hat mir eben erklärt, daß sie falsch übersetzt hätte. Sie habe übersetzt »ob Ribbentrop sich in Neuraths Politik eingemischt hat«. Diese Frage ist also nicht beantwortet. Ich bitte deshalb, den Herrn Baron von Neurath fragen zu dürfen, ob Rosenberg sich in Neuraths Politik eingemischt hat.


VON NEURATH: Nein, keineswegs. Ich habe mit Rosenberg über außenpolitische Dinge nie gesprochen.


DR. THOMA: Außerdem bitte ich, das Protokoll entsprechend zu berichtigen. Es darf also nicht heißen, daß »Ribbentrop sich in die Politik von Neurath eingemischt hat« sondern »ob Rosenberg sich in die Politik Neuraths eingemischt hat.«


[112] VORSITZENDER: Jawohl, das Protokoll wird abgeändert.


MR. FRANCIS BIDDLE, MITGLIED DES GERICHTSHOFS FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN:


[Zum Zeugen gewandt:]


Ich habe nur einige, sehr wenige Fragen an Sie, Sie werden sich daran erinnern, daß die Baronin von Ritter sagte, Sie hätten nach dem 5. November 1937 er kannt... ich will es Ihnen genau vorlesen:

»Als Herr von Neurath aus den Darlegungen Hitlers am 5. November 1937 zum erstenmal erkennen mußte, daß dieser seine politischen Ziele durch Gewaltanwendung gegenüber den Nachbarstaaten erreichen wollte, erschüttert ihn dies seelisch so stark, daß er mehrere schwere Herzattacken erlitt.«

Das ist doch eine richtige Beschreibung dessen, was Sie damals erkannt haben, nicht wahr?


[Der Zeuge nickt.]


Nun haben Sie erklärt, daß Sie sofort nach dieser Konferenz mit General Beck und General von Fritsch sprachen. Erinnern Sie sich daran?

VON NEURATH: Ja.

MR. BIDDLE: Ich glaube, Sie haben Sir David gesagt, Sie hätten nicht mit dem Angeklagten Göring gesprochen. Ich will Sie nun fragen, haben Sie zu irgend jemand anderem während der nächsten zwei oder drei Monate über das, was Hitler gesagt hatte, gesprochen. Sprachen Sie mit jemand vom Auswärtigen Amt?


VON NEURATH: Mit meinem Staatssekretär habe ich gesprochen.


MR. BIDDLE: Und mit wem vom Auswärtigen Amt haben Sie noch gesprochen?


VON NEURATH: Mit niemandem, denn es war die Bedingung gemacht an sich von Hitler, daß über diese ganzen Sitzungen Stillschweigen gewahrt bleiben solle, und deshalb habe ich mit meinen Beamten nicht gesprochen. Sie wußten auch nichts, sie hatten auch von den Militärs nichts erfahren.


MR. BIDDLE: Sprachen Sie mit dem Angeklagten von Papen darüber, als Sie ihn das nächste Mal trafen?


VON NEURATH: Nein, ich glaube, ich habe ihn damals nicht gesehen.


MR. BIDDLE: Haben Sie mit irgend jemand vor Ihrem Rücktritt darüber gesprochen?


VON NEURATH: Nein.


[113] MR. BIDDLE: Nun noch eine Frage. Sie haben doch erkannt, daß Himmler Methoden anwenden würde, die Sie nicht billigen könnten, nicht wahr?


VON NEURATH: Ja, aber erst allmählich, das war von Anfang an nicht vorauszusehen.


MR. BIDDLE: Das will ich ja gerade wissen. Wann haben Sie das zum erstenmal erkannt? Wann, könnten Sie sagen, begannen Sie zum erstenmal, dies zu erkennen? Wann haben Sie zum erstenmal erkannt, was für ein Mensch Himmler war?


VON NEURATH: Es war an sich schwer zu erkennen, denn Himmler hatte zwei Gesichter, es war der reinste Januskopf, man konnte seine wahre Gesinnung überhaupt nicht gleich erkennen.


MR. BIDDLE: Ich frage Sie nicht wie er war. Versuchen Sie doch, sich zu erinnern, Sie haben das doch sicher zu irgendeinem Zeitpunkt erkannt. Wußten Sie es im Jahre 1937? Wußten Sie es im Jahre 1937 oder 1938? Sicherlich doch im Jahre 1938, nicht wahr?


VON NEURATH: 1938 wohl; es ist mir also sehr schwer im Moment, ein Datum zu sagen. Ich will kein genaues Datum nennen.


MR. BIDDLE: Ich will kein genaues Datum, ich halte Ihnen vor, daß Sie es wußten, ehe Sie in das Protektorat gingen. Sie wußten natürlich, wer Himmler war, bevor Sie in das Protektorat gingen. Darüber besteht doch keine Frage, nicht wahr?


VON NEURATH: Ja, gewiß.


MR. BIDDLE: Danke schön, das ist alles.


GENERALMAJOR I. T. NIKITCHENKO, MITGLIED DES GERICHTSHOFS FÜR DIE SOWJET UNION: Sind Sie jemals offen gegen die Politik der Hitler-Regierung aufgetreten?


VON NEURATH: Die Übersetzung ist leider nicht gut gewesen.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: In Ihren Erklärungen vor diesem Gericht haben Sie gesagt, daß Sie mit der Politik der Hitler-Regierung weder in einzelnen Fragen noch im allgemeinen einverstanden waren. Ist das richtig?


VON NEURATH: Ja.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Sind Sie jemals offen gegen die Politik der Hitler-Regierung aufgetreten mit der Erklärung, daß Sie die Politik der Hitler-Regierung nicht billigten?


VON NEURATH: Das habe ich mehr als einmal getan.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Wie haben Sie es getan, in welcher Weise? Ich spreche von einem öffentlichen Auftreten in der Presse oder in irgendeiner Versammlung?


VON NEURATH: Nein, weder in der Presse aufzutreten oder eine Versammlung abzuhalten, war überhaupt nicht mehr möglich. [114] Das war ganz ausgeschlossen. Ich konnte nur Hitler persönlich beziehungsweise anfangs noch im Kabinett gegen diese Politik Front machen. Pressefreiheit gab es nicht mehr, ebensowenig wie in Rußland, ebensowenig war keine Versammlung möglich. Deswegen...


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Ich frage Sie nicht über Rußland, sondern über Ihr öffentliches Auftreten. Also es gab kein solches Auftreten?


VON NEURATH: Nein.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Und auf diese Weise konnte in Deutschland niemand wissen und wußte niemand, daß Sie mit der Politik der Hitler-Regierung nicht einverstanden waren?


VON NEURATH: Da habe ich mich unmißverständlich immer darüber geäußert, aber nicht durch Artikel und auch nicht durch Versammlungen, aber sonst habe ich das immer deutlich zum Ausdruck gebracht.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Es ist klar, aber nur zu Hitler unter vier Augen, nur Hitler persönlich? Das sagten Sie doch?


VON NEURATH: Nein, ich sage Ihnen, ich habe das jedem, der es hören wollte, gesagt, aber ich habe es weder in Versammlungen oder in Reden noch in Artikeln machen können.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Sie blieben in der Regierung, trotzdem Sie mit der Politik der Regierung nicht einverstanden waren, stimmt das?


VON NEURATH: Ja, gerade deswegen.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Um dieser Politik entgegenzuarbeiten?


VON NEURATH: Ja.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Sind Ihnen Ergebnisse dieser Art von Widerstandsarbeit bekannt?


VON NEURATH: Das habe ich nicht verstanden.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Welcher Art waren die Ergebnisse Ihres Widerstandes gegen die Politik der Hitler-Regierung?


VON NEURATH: Ja, das im einzelnen aufzuführen, bin ich nicht in der Lage.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Aber insbesondere zum Beispiel in der Frage des Angriffs? Sie waren gegen den Anschluß von Österreich?


VON NEURATH: Jawohl.


[115] GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Die Deutsche Regierung hat den Anschluß Österreichs vollzogen, nicht wahr?

VON NEURATH: Ich glaube, es ist hier deutlich zum Ausdruck gekommen, daß Hitler dies im letzten Moment gemacht hat.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Sie waren gegen die Einverleibung der Tschechoslowakei?


VON NEURATH: Ja.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Die Deutsche Regierung hat sich trotzdem der Tschechoslowakei bemächtigt?


VON NEURATH: Ich war ja damals nicht mehr Mitglied der Regierung.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Aber Sie haben als ein Politiker, mit dem man nach Ihrer Ansicht rechnen mußte, Ihre Meinung dagegen ausgesprochen.


VON NEURATH: Immer.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Sie waren gegen den Überfall auf Polen?


VON NEURATH: Ja.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Und trotzdem hat Deutschland Polen überfallen?


VON NEURATH: Ich wiederhole, ich war nicht mehr Mitglied der Regierung. Ich habe es auch erst im letzten Moment erfahren.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Sie waren gegen den Überfall auf die Sowjetunion?


VON NEURATH: Erst recht, ich wollte genau das Gegenteil immer, ich wollte ein Zusammengehen mit der Sowjetunion, das habe ich schon im Jahre 19...


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Und Deutschland hat dennoch die Sowjetunion überfallen?


VON NEURATH: Jawohl.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Ihren Erklärungen nach mußte Hitler Ihre oppositionelle Einstellung gekannt haben; er mußte gewußt haben, daß Sie mit seiner Politik nicht einverstanden waren.


VON NEURATH: Das wußte er ganz genau, denn ich habe meinen Abschied deswegen im Jahre 1938 genommen.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Ist Ihnen bekannt, wie sich Hitler seiner politischen Gegner entledigte?


VON NEURATH: Im Reich, ja.


[116] GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Und was Sie selbst betrifft, so ereignete sich nichts, trotz der Tatsache, daß Sie zur Opposition gehörten?


VON NEURATH: Ich habe es nicht verstanden.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Soweit es Sie angeht, so ereignete sich nichts Derartiges, trotz des Umstandes, daß Sie sich zur Opposition rechneten?


VON NEURATH: Nein, ich habe aber immer damit gerechnet.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Könnten Sie mir sagen, ob Sir Nevile Henderson in seinem Buch »The Failure of a Mission«, die über Sie erwähnten Tatsachen richtig dargestellt hat? Glauben Sie, daß Henderson richtig die Tatsachen darlegte, die Sie persönlich angehen?


VON NEURATH: Ich muß offen gestehen, ich habe dieses Buch von Nevile Henderson einmal vor drei oder vier Jahren gelesen. Ich kann mich nicht mehr entsinnen, was er über mich alles sagte. Ich habe hier ein paarmal Auszüge gehört, ich kann aber nicht sagen, was er über mich schreibt.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Ich nehme aber an, daß Ihnen die Auszüge bekannt sind, die Ihr Verteidiger in seinem Dokumentenbuch vorgelegt hat?


VON NEURATH: Ja.

GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Halten Sie das für zutreffend, was in diesen Auszügen in Bezug auf Sie gesagt ist?


VON NEURATH: Das nehme ich an, ja.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Das heißt, das ist richtig. Es ist also auch das richtig, was er über Ihre Parteizugehörigkeit schreibt?

Er schreibt: »Baron von Neurath selbst, der in der Regierung von Hindenburg verblieb, war kein Mitglied der Nazi-Partei.« Das ist richtig?


VON NEURATH: Ja, das, glaube ich, habe ich in den letzten Tagen wiederholt gesagt.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Und ferner teilte er mit: »er – Neurath – ist später Parteimitglied geworden.«


VON NEURATH: Wie das zugegangen ist, habe ich schon ausgesagt. Im Jahre 1931 bekam ich das goldene Parteiabzeichen ohne mein...


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Jawohl, das haben wir schon gehört. Aber es ist doch richtig, daß Sie später Parteimitglied geworden sind, wie Henderson sagt?


[117] VON NEURATH: Nein, ich bin...


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Also ist dieser Teil nicht richtig?


VON NEURATH: Ich habe das goldene Parteiabzeichen bekommen mit der Erklärung Hitlers, daß damit keine Verpflichtung gegenüber der Partei begründet wird.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Das haben wir schon gehört. Das bedeutet also, daß die Darstellungen von Sir Nevile Henderson nicht alle richtig sind, soweit sie sich auf Ihre Person beziehen?


VON NEURATH: Ich weiß es nicht, ich kann mich mit dem besten Willen nicht entsinnen, was Sir Nevile Henderson über meine Person geschrieben hat.


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Ich habe noch eine letzte Frage, die sich auf Ihr Memorandum bezieht. Ich habe Ihre Erklärungen, die Sie Sir David und später Ihrem Verteidiger gaben, nicht ganz verstanden. Als Sie das Memorandum von Frank weiterleiteten, schrieben Sie an Lammers, daß Sie dieses Memorandum für vollkommen richtig hielten. Ist das richtig?


VON NEURATH: Ja, ganz richtig, ich will Ihnen auch die Gründe sagen. Dieses Memorandum...


GENERALMAJOR NIKITCHENKO: Sie haben die Gründe bereits dargelegt, ich möchte feststellen, daß Sie tatsächlich dies geschrieben haben.


VON NEURATH: Ich habe den Grund, warum ich an Lammers das geschrieben habe, nicht gesagt bisher. Der Grund, warum ich an Lammers geschrieben habe in diesem Sinne war der, daß er ja derjenige war, der dieses Memorandum dem Führer vorgetragen hat. Ich mußte doch im selben Sinne schreiben.


VORSITZENDER: Über zwei Themen will ich Sie nun befragen. Das erste befaßt sich mit dem Brief, den Sie am 31. August 1940 geschrieben haben. Das ist das Schreiben, auf das sich General Nikitchenko gerade bezogen hat. Erinnern Sie sich daran?


VON NEURATH: Jawohl.


VORSITZENDER: Sie erinnern sich, in diesem Schreiben auch gesagt zu haben, daß Sie mit der Denkschrift, die Ihr Staatssekretär Frank unabhängig von Ihnen entworfen hatte, vollkommen einverstanden seien. In dieser Denkschrift sagt Frank:

»Eine solche Germanisierung sieht vor:

1.) Die Umvolkung rassisch geeigneter Tschechen;

2.) die Aussiedlung von rassisch unverdaulichen Tschechen und der reichsfeindlichen Intelligenzschicht beziehungsweise Sonderbehandlung dieser und aller destruktiven Elemente.«

[118] Meine Frage lautet nun: Was verstehen Sie unter »Sonderbehandlung«?

VON NEURATH: Ja, soweit ich diesen Auszug überhaupt damals gelesen habe, ist jedenfalls von mir in keiner Weise daran gedacht worden an den Begriff »Sonderbehandlung«, wie er sich in dem Prozeß hier herausgebildet hat. Ich war ja mit dieser ganzen Einstellung von Frank und wie sie in dem Bericht enthalten war, überhaupt nicht einverstanden und habe nur die Absicht gehabt, diese ganze Sache zu Fall zu bringen, um sie auf das tote Geleise zu schieben. Also der Inhalt dieser Berichte war nur darauf abgestellt, in Hitlers Sprache oder in der Sprache von Himmler und anderen Leuten das Hitler vorzutragen, um ihn nachher von dem abzubringen.

VORSITZENDER: War es nicht irreführend an Dr. Lammers mit der Absicht, es solle Hitler vorgetragen werden, zu schreiben, daß Sie mit der Denkschrift vollkommen übereinstimmen, obgleich Sie keineswegs damit einverstanden waren?


VON NEURATH: Herr Präsident! So, wie die Dinge lagen, konnte ich nicht an Lammers schreiben: Alles, was drin steht, beabsichtigte ich nicht durchzuführen, sondern ich mußte doch dem Lammers, der das Hitler vortrug, zunächst einmal sagen, ich bin mit dem einverstanden. Ich habe nachher ja durch eine persönliche Besprechung in der hier zur Sprache gebrachten Sitzung mit Frank und Gürtner mich bei Hitler melden lassen und habe ihm Aufklärung gegeben.


VORSITZENDER: Dann ist die Antwort dahingehend, daß Sie nicht wußten, was mit »Sonderbehandlung« gemeint war?


VON NEURATH: Nein, das habe ich jedenfalls damals nicht gewußt.


VORSITZENDER: Noch eine Frage, die ich Ihnen vorlegen will. Sie erinnern sich, daß Sie am 11. März 1938 zur Zeit des Anschlusses Österreichs gerufen wurden und daß Sie den Brief vom 12. März 1938 als Antwort auf die Denkschrift verfaßt haben, die Sie von der Britischen Regierung durch Sir Nevile Henderson empfangen hatten. Sie waren doch gut mit Sir Nevile Henderson bekannt, nicht wahr?


VON NEURATH: Ja.


VORSITZENDER: In diesem Brief sagen Sie folgendes:

»Daß vom Reich aus auf diese Entwicklung ein gewaltsamer Zwang ausgeübt wäre, ist unwahr. Insbesondere ist die von dem früheren Bundeskanzler nachträglich verbreitete Behauptung völlig aus der Luft gegriffen, die Deutsche Regierung habe dem Bundespräsidenten ein befristetes Ultimatum gestellt, nach dem dieser einen ihm vorgeschlagenen Kandidaten zum Bundeskanzler ernen nen und die [119] Regierung nach den Vorschlägen der Deutschen Regierung zu bilden hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich in Aussicht genommen werde.« (3287-PS.)

Und dann sagen Sie weiter, wie nach Ihrer Meinung der wahre Sachverhalt gewesen sei. Sie wissen doch jetzt, daß Ihre Erklärungen in diesem Brief vollständig unwahr waren?

VON NEURATH: Das ist nicht durchgekommen.

VORSITZENDER: Haben Sie irgendeinen Teil der Frage gehört, die ich Ihnen vorgelegt habe?


VON NEURATH: Leider nein.


VORSITZENDER: Es ist schade, daß Sie uns nicht schon vorher darauf aufmerksam gemacht haben. Sie erinnern sich doch an den 11. März 1938 und daß Sie als Vertreter des Auswärtigen Amtes gerufen worden waren? Sie haben eben gesagt, daß Sie mit Sir Nevile Henderson recht gut bekannt waren, nicht wahr?


VON NEURATH: Ja.


VORSITZENDER: Erinnern Sie sich an den Brief, den Sie am 12. März 1938 geschrieben haben?


VON NEURATH: Ja.


VORSITZENDER: Sie haben doch Sir David Maxwell-Fyfe gegenüber zugegeben, daß die Darstellung in diesem Schreiben unwahr gewesen sei.


VON NEURATH: Unrichtig, jawohl – nicht ganz, es ist unrichtig dargestellt.


VORSITZENDER: Welche Schritte haben Sie unternommen, um ausfindig zu machen, ob sie wahr waren oder nicht?


VON NEURATH: Ich habe die Unrichtigkeit dieser Darstellung ja erst viel später erfahren.


VORSITZENDER: Das ist keine Antwort auf meine Frage. Welche Schritte haben Sie unternommen, um ausfindig zu machen, ob Ihre Darstellung richtig war?


VON NEURATH: Ich habe die Darstellung, die mir Hitler gegeben hat, zunächst einfach als richtig vorausgesetzt. Ich konnte sie ja gar nicht nachkontrollieren.


VORSITZENDER: Warum sollten Sie annehmen, daß sie wahr wäre, wenn sie in direktem Widerspruch zu der Erklärung der Englischen Regierung stand?


VON NEURATH: Ich hatte ja keine andere Kenntnis von den Dingen, die vorgefallen waren und konnte also nur das sagen, was ich wußte.


[120] VORSITZENDER: Sie hatten doch das Schreiben, den Protest der Britischen Regierung, in Händen, nicht wahr?


VON NEURATH: Ja.


VORSITZENDER: Und Sie waren doch mit Sir Nevile Henderson sehr gut bekannt?


VON NEURATH: Ja.


VORSITZENDER: Und dann haben Sie diesen Brief geschrieben, der die Erklärungen widerlegte, die für die Britische Regierung abgegeben worden waren. Das stimmt doch, nicht wahr?


VON NEURATH: Ja.


VORSITZENDER: Und Sie haben keine Schritte unternommen, um nachzuprüfen, ob die Tatsachen, die Hitler Ihnen zur Kenntnis gebracht hatte, der Wahrheit entsprachen? Wollen Sie das bitte beantworten?


VON NEURATH: Jawohl, wie sollte ich denn das machen. Ich hatte ja niemand anders, der darüber Bescheid wußte. Es war nur das, was mir Hitler aufgetragen hatte dem Auswärtigen Amt mitzuteilen. Der Entwurf dieser Note ist vom Auswärtigen Amt gemacht worden nach den Mitteilungen, die ich von Hitler bekommen hatte. Ich hatte ja keine andere Möglichkeit, dies aufzuklären.


VORSITZENDER: Es gab doch noch so viele andere Leute, die mit der Sache zu tun hatten, mit denen Sie sich in Verbindung hätten setzen können. Aber Sie sagen, Sie hätten nichts unternommen?


VON NEURATH: Ich kann nur wiederholen, daß ich keine Möglichkeit hatte, mir irgendeine andere Information zu beschaffen. Es wußte ja auch niemand darum außer Hitler.


VORSITZENDER: Wollen Sie dem Gerichtshof sagen, daß auch Göring nichts davon gewußt hätte?


VON NEURATH: Göring hat vielleicht darüber gewußt.


VORSITZENDER: Das ist alles. Der Angeklagte kann auf die Anklagebank zurückkehren.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr Präsident! Darf ich um die Erlaubnis bitten, als Zeugen den früheren Ministerialdirigenten und Leiter der Politischen Abteilung im Außenministerium, Herrn Dr. Köpke, auf den Zeugenstand zu rufen.


[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Geben Sie bitte Ihren vollen Namen an!

ZEUGE DR. GERHARD KÖPKE: Gerhard Köpke.

[121] VORSITZENDER: Wollen Sie mir diesen Eid nachsprechen: »Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.«


[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]


Sie können sich setzen.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr Doktor! Seit wann kennen Sie Herrn von Neurath?

KÖPKE: Ich kenne Herrn von Neurath seit über 40 Jahren. Seine Laufbahn ist bekannt. Ich kann mich daher darauf beschränken anzugeben, daß wir als Vizekonsule in London, als Legationsräte im Auswärtigen Amt und später, nach Antritt des Ministeriums durch Herrn von Neurath im Jahre 1932, bis zu meinem Ausscheiden im Jahre 1935 zusammengearbeitet haben. In der Zwischenzeit war von Neurath in Kopenhagen, Rom, London, dann einige Zeit in seiner Heimat und schließlich in Praha, da haben wir uns nur gelegentlich während meiner Anwesenheit in Berlin gesehen und einen verhältnismäßig regen Briefwechsel miteinander als alte Freunde gepflogen. Ich selbst war in der ganzen Zeit im Auswärtigen Amt tätig und war dort seit 1921 Direktor der Rechtsabteilung und von 1923 ab Direktor der politischen, sogenannten Westabteilung, die ich bis zu meinem Ausscheiden aus dem Dienst geleitet habe. Den Abschied habe ich freiwillig erbeten, Ende 1935.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Was wissen Sie nun über die Einstellung, die Grundeinstellung des Herrn von Neurath zur Innen- und Außenpolitik, aber nur in großen Zügen?


KÖPKE: Innenpolitisch stand Herr von Neurath den konservativen Kreisen nahe, ist aber niemals Mitglied der Konservativen Partei geworden. Aus dieser konservativen Grundeinstellung heraus und auch wegen seiner hervorstechenden Charaktereigenschaften, Pflichttreue und Zuverlässigkeit hat er das Vertrauen des Reichspräsidenten von Hindenburg gewonnen und auch bis zu dessen Tod ununterbrochen behalten. Herr von Hindenburg schätzte Neurath ebenso als besonnenen, maßvollen, zuverlässigen Diplomaten. Übrigens standen auch Männer anderer Parteirichtungen Neurath vertrauensvoll gegenüber. Ich erwähne nur den verstorbenen Reichspräsidenten Ebert, der seinerzeit Neurath in das Amt zurückgeholt hat.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Was wissen Sie über die Berufung Herrn von Neuraths zum Reichsaußenminister im Sommer 1932?


KÖPKE: Die Berufung Herrn von Neuraths zum Reichsaußenminister beruhte auf einem persönlichen Wunsch des Reichspräsidenten von Hindenburg. Neurath ist nicht Außenminister im [122] Rahmen des Kabinetts von Papen geworden, sondern wurde und war es als besonderer Vertrauensmann des Reichspräsidenten von Hindenburg.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Wie kam es nun zu einem Verbleiben Herrn von Neuraths als Außenminister auch in der neuen Regierung Hitlers?


KÖPKE: An den Verhandlungen mit Hitler über die Machtübernahme ist Herr von Neurath meines Wissens nicht beteiligt gewesen. Er lag, wenn ich mich auf mein Gedächtnis verlassen kann, an den maßgebenden Tagen mit einer Herzneurose krank im Bett. Er blieb aber Außenminister, wiederum auf besonderen Wunsch von Hindenburg.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Können Sie uns irgend etwas sagen über die Einstellung, das Verhältnis Neuraths zu Hitler?


KÖPKE: Einleitend möchte ich bemerken, daß ich als Zeuge aus eigener unmittelbarer Beobachtung hierüber nichts aussagen kann. Ich war niemals bei Besprechungen, die Herr von Neurath mit Hitler hatte, zugegen. Ich selbst habe mit Hitler überhaupt niemals ein dienstliches Gespräch geführt. Aber nach Neuraths eigener Schilderung und nach den Mitteilungen, die ich von anderen maßgeblichen Persönlichkeiten im Laufe der Zeit erhalten habe, hatte ich den Eindruck, daß Hitler, vor allem in den ersten Jahren, Herrn von Neurath pfleglich und höflich behandelte. Inwieweit dabei die Rücksicht auf den Reichspräsidenten mitgespielt hat, dessen Vorliebe für Herrn von Neurath Herrn Hitler natürlich bekannt war, weiß ich nicht anzugeben. Jedenfalls ist Neurath niemals ausgesprochener Vertrauensmann Hitlers gewesen und gehörte auch nicht zu den engen, sich um Hitler persönlich scharenden Kreisen der Parteigewaltigen. Nach dem Tode des Reichspräsidenten von Hindenburg ist Neurath geblieben, weil er dem Reichspräsidenten das Versprechen gegeben hatte, dies zu tun. Neurath hat dann auch in der Folgezeit immer wieder seinen mäßigenden und beruhigenden Einfluß gegenüber der Partei zur Geltung zu bringen versucht. Mir ist aber bekannt, daß, als sich Enttäuschungen und Meinungsverschiedenheiten häuften, Herr von Neurath mehrfach versucht hat, sich von Hitler zu trennen. Mir sind in dieser Beziehung zwei Abschiedsgesuche in Erinnerung, von denen er eines mir gezeigt hat. Es war schriftlich und muß noch von Anfang des Jahres 1936 datiert gewesen sein. Denn ich war damals bereits verabschiedet und besuchte Neurath rein freundschaftlich und privat.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Können Sie uns nun auch ein ganz kurzes Bild geben über die Einstellung Neuraths zur Nationalsozialistischen Partei?


[123] KÖPKE: Herr von Neurath stand der Partei und besonders den leitenden Männern zunächst abwartend gegenüber. Meines Wissens war ihm, der ja die längste Zeit im Ausland gelebt hatte, kaum einer dieser Herren näher persönlich bekannt. Neurath war davon überzeugt, daß es ihm auf Grund seiner langjährigen Erfahrungen als alter Diplomat und gestützt auf seine Vertrauensstellung beim Reichspräsidenten und dessen maßgebenden Einfluß gelingen wird, im Sinne seiner auf Ausgleich und Verständigung gerichteten Politik zu wirken. Neurath hat sich dabei mir gegenüber, und ich glaube, auch anderen Kollegen gegenüber häufig auf seine Erfahrungen berufen, die er in dieser Beziehung in Rom mit dem Faschismus gemacht hatte. Er äußerte sich gelegentlich in dem Sinne, man müsse solche revolutionäre Elemente sich ruhig entwickeln lassen, die Heißsporne kämen schon von selbst zur Besinnung und Vernunft, wenn man ihnen nur Zeit und Gelegenheit gäbe, an verantwortungsvollen Stellen selber Erfahrungen zu sammeln.

Übrigens teilte Neurath damit auch die Ansicht des damaligen Staatssekretärs von Bülow. Er hat diesen Staatssekretär des Herrn Reichskanzlers Brüning behalten und bis zu dessen Tode auch gegen wiederholte Versuche der Partei, ihn auszubooten, beibehalten.

Übrigens möchte ich hier ein kleines, für uns im Amt damals sehr wertvolles Detail erwähnen. Als der allgemein beliebte Staatssekretär von Bülow plötzlich starb, hat es Neurath durchgesetzt, daß an der Trauerfeier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Hitler persönlich teilnahm. Die alte Beamtenschaft des Auswärtigen Amtes erblickte darin erfreut und beruhigt ein gutes Zeichen für die starke Stellung unseres Ministers gegenüber der Partei. Dieses an sich vielleicht nebensächliche Ereignis fand genau heute vor zehn Jahren statt.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Als Leiter der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes waren Sie doch einer der ersten Mitarbeiter von Neuraths und können uns sicherlich sagen, von welcher Grundtendenz Neuraths Außenpolitik beherrscht war?


KÖPKE: Neuraths politische Gesamteinstellung war nach seinem ganzen Charakter und seiner langjährigen Erfahrung dem politischen Geschäft entsprechend eingerichtet auf Ausgleich, Abwartung, Verhandlung. Ultimative Schritte und gewaltsame Lösungsversuche lagen Herrn von Neurath schon seinem Wesen nach nicht. Neurath war weder ein Spieler noch eine Kämpfernatur.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ich komme nun zu einzelnen wichtigen außenpolitischen Begebenheiten, die sich während Ihrer Zeit, in der Sie unter Herrn von Neurath Leiter der Politischen Abteilung waren, abgespielt haben. Im Oktober 1933 erfolgte der Austritt Deutschlands aus der Abrüstungskonferenz und aus dem [124] Völkerbund. Ich möchte Ihnen hierzu nun die Frage vorlegen, ob diesem Austritt Deutschlands aus Konferenz und Völkerbund, ob diesem Austritt irgendwelche aggressive oder kriegerische Tendenzen für den Moment oder für die Zukunft zugrunde lagen?


KÖPKE: Nein. Soweit sich das Bild bei den von dem Verteidiger erwähnten Ereignissen für uns, die Sachbearbeiter, darstellt, war es folgendes:

An kriegerische Pläne oder Vorbereitung zu kriegerischen Unternehmungen hat bei uns im Auswärtigen Amt dabei niemand gedacht. Es handelte sich dabei lediglich um eine möglichst eindrucksvolle Bekundung, daß Deutschland es sich nicht mehr länger gefallen lassen könne, nicht als ein Volk mit den gleichen Rechten und Pflichten wie alle anderen Völker behandelt zu werden.

Ebenso wenig lag der Militarisierung des Rheinlandes weder für den Moment noch für die Zukunft irgendeine aggressive Absicht zugrunde.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Es kam nun im Laufe der weiteren Jahre 1935 zur Wiedereinführung der Wehrhoheit durch Deutschland und ein Jahr später zur Remilitarisierung der entmilitarisierten Zone des Rheinlandes. Ich möchte Ihnen hierzu einen Satz aus einem Affidavit des früheren Gesandten und Dolmetschers Paul Schmidt vom Auswärtigen Amt vorlegen. Er sagt bezüglich der Ereignisse im Frühjahr 1935 folgendes:

»Der Abschluß eines Beistandspaktes zwischen Frankreich und Rußland am 2. Mai 1935 folgte die Verkündung der Gründung einer deutschen Luftwaffe und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im März 1935.«

Ich bitte Sie, nun uns einen ganz kurzen Überblick über die historische Entwicklung der Dinge zu geben, die zur Wiedereinführung der Wehrhoheit im März 1935 und zur Remilitarisierung des Rheinlandes im März 1936 führten.

KÖPKE: Ich glaube...

VORSITZENDER: Dr. von Lüdinghausen! Wir haben die historische Entwicklung dieser Dinge immer und immer wieder gehört. Wir brauchen sie doch nicht von diesem Zeugen wieder zu hören.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Nur ganz kurz, nur die Daten aneinandergereiht, Herr Präsident. Keinerlei Ausführungen dazu. Ich möchte nur nochmals scharf herausheben, wie sich die einzelnen Dinge aneinanderreihen.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof hat die Daten im Gedächtnis. Wir kennen diese Daten bereits seit mehreren Monaten auswendig.


[125] DR. VON LÜDINGHAUSEN: Gut, also wenn das Gericht glaubt, daß es nicht nötig ist, es zu informieren, muß ich natürlich darauf verzichten. Ich komme dann zu einer letzten...


VORSITZENDER: Sie können ihm die beabsichtigten Fragen stellen, aber Sie sagten: »geben Sie uns die historische Entwicklung ab 2. Mai 1935«. Wir haben das schon sehr häufig gehört.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr Präsident! Mir lag nur am Folgenden: Aus diesem Affidavit des Herrn Schmidt, das ich eben zitiert habe, könnte man ohne weiteres folgern...


VORSITZENDER: Stellen Sie ruhig die Frage über dieses Affidavit, die Sie stellen wollten.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Dann werde ich die Frage folgendermaßen formulieren:


[Zum Zeugen gewandt:]


Ich habe eben diesen Satz von Herrn Schmidt vor gelesen, und ich habe Ihnen auch gesagt, was man daraus lesen kann, nämlich, daß der Abschluß des russisch-französischen Paktes vom 2. Mai 1935 die Folge der Wiederherstellung der Wehrhoheit war. Ist das richtig, oder wie hat sich das verhalten?

KÖPKE: Diese Frage wird sich tatsächlich schwer beantworten lassen, wenn man lediglich diese beiden Ereignisse zeitlich gegenüberstellt. Der Abschluß des französisch-russischen Beistandspaktes war tatsächlich am 2. Mai 1935, die Wiederherstellung der Wehrhoheit bereits im März 1935. Aber die Verhandlungen über diesen Beistandspakt reichten zeitlich viel weiter zurück. Ich möchte daran erinnern, daß das kritische Stadium, in das diese Beistandspaktverhandlungen bereits vor der Wiederherstellung der Wehrhoheit getreten war, wohl am eindeutigsten in dem Bericht des Berichterstatters des Französischen Heeresausschusses zu entnehmen ist, wo dieser bereits ganz unumwunden von einer engen Entente der beiden Staaten spricht. Das war am 23. November 1934.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ich komme nun zu einer anderen Frage und möchte Sie bitten, uns zu sagen, ob Sie die Ansichten und den Standpunkt Herrn von Neuraths in der österreichischen Frage, wenigstens zu Ihrer Zeit, kennen?


KÖPKE: Ich kenne den Standpunkt des Herrn von Neurath zur österreichischen Frage schon sehr viel länger als aus der Zusammenarbeit während seiner Ministerschaft; denn das Problem hat ihn wohl als Süddeutschen besonders interessiert, und ich entsinne mich mancher Unterhandlung, die ich mit ihm, sogar als ich noch Vizekonsul war, geführt habe. Seine Ansicht und Absicht war von jeher, die Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich, hauptsächlich im Interesse Österreichs, auf wirtschaftlichem Gebiet enger zu gestalten, und politisch durch Staatsverträge eine gleichgerichtete [126] Politik zu sichern, im übrigen aber die Selbständigkeit Österreichs nicht anzutasten; das war die Erfahrung, die wir im Auswärtigen Amt mehrere Jahre vor seiner Ministerschaft mit der damals tatsächlich nur wirtschaftlich gedachten Zollunion bereits gemacht hatten. Die Tatsache, daß dieser Versuch ganz allgemein als politischer Anschluß gewertet worden war, gab zu denken und mußte jeden warnen, der dieses heiße Eisen wieder einmal anzufassen sich entschlossen hatte. Neurath dachte daher während seiner Amtszeit über das Problem, soweit er es mit mir besprochen und bearbeitet hat, ebenso. Ich möchte gleich hier einschalten, daß die kritische Zeit in der österreichischen Frage wohl nach meinem Austritt aus dem Amt liegt. Im übrigen teilte auch Hitler ursprünglich die maßvolle Auffassung Neuraths. Das kam in dem Gespräch mit Mussolini in Venedig im Sommer 1934 zum Ausdruck. Ganz besonders interessant aber sind auch die Bemerkungen, die Hitler über das Anschlußproblem Sir John Simon gegenüber anläßlich der Verhandlungen in Berlin noch im März 1935 gemacht hat. Hitler äußerte sich damals dem englischen Staatsmann gegenüber etwa folgendermaßen: Wenn man in London Österreich so gut kennen würde, wie er selbst es kennt, so würde man seiner Versicherung glauben, daß er es nicht wünschen könne, unsere wirtschaftlichen Sorgen noch durch ein neues wirtschaftliches Sorgengebiet zu erhöhen. Deutschland wolle gar keine Einmischung in diesem Lande. Er wisse genau, daß jede Einmischung in österreichische Dinge, ja sogar die Durchführung eines Wunsches der österreichischen Bevölkerung selbst nach Anschluß, nicht legalisiert werden könne.

Das war damals die Ansicht von Hitler. Auch Neurath lehnte jede Einmischung in die inneren österreichischen Angelegenheiten ab und verurteilte die in den Parteikreisen wahrnehmbaren Versuche unmittelbarer Unterstützung der österreichischen Nationalsozialisten auf das schärfste. Neurath bemühte sich zu meiner Zeit nach Kräften, das Auswärtige Amt aus dem innerpolitischen Kampf in Österreich herauszuhalten.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Noch eine andere Frage. War bis zu Ihrem Abschied anfangs 1936 im Auswärtigen Amt jemals die Rede davon, die Tschechoslowakei anzugreifen oder die mit der Tschechoslowakei bestehenden Verträge nicht innezuhalten?


KÖPKE: Niemals, weder das eine noch das andere. Unsere wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse zur Tschechoslowakei waren, solange ich im Dienste war, durchaus gut. Wir hatten keinerlei Anlaß gehabt, auch nur das geringste dran zu ändern.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Und nun noch die letzte Frage: Können Sie etwas über die Stellung des Herrn von Neurath zur Rassenfrage sagen?


[127] KÖPKE: Neurath stand dem Parteistandpunkt in dieser Frage durchaus ablehnend gegenüber. Ich möchte in diesem Zusammenhang an ein Erlebnis erinnern, das mir Neurath persönlich erzählt hat.

Als die Judengesetzgebung kurz vor der Verkündung stand, ist der damalige Reichsjustizminister Gürtner ganz aufgeregt zu ihm gekommen und hat dort Herrn von Neurath gesagt, daß er, Gürtner, Hitler vergeblich vor der Verkündung dieser ganz unmöglichen Gesetze gewarnt habe. Er ersuche Herrn von Neurath dringendst, nunmehr als Außenminister auf die ungeheuren Gefahren hinzuweisen, die dieser Wahnsinn im Ausland auslösen könnte. Neurath erzählte mir, daß er dies sofort getan habe, aber alle seine Bemühungen wären vergeblich gewesen.

Neuraths persönliche Einstellung im Judenproblem war, seiner ganzen gütigen Persönlichkeit und religiösen Einstellung entsprechend, durchaus versöhnlich und verständnisvoll. Unter vielen Beispielen möchte ich hier nur auf eines hinweisen, das war folgendes: In London, während der Zeit, wo wir zusammen dort waren, gehörte zum engsten Freundeskreis der Familie Neurath auch der jüdische Botschaftsarzt. Als dieser dann während des Weltkrieges London verlassen mußte, heimat- und erwerbslos wurde, hat sich Neurath sofort als alter Freund seiner tatkräftig und erfolgreich angenommen. Auch als Reichsaußenminister hat Herr von Neurath nichtarischen Kollegen immer geholfen, obwohl ihm das manchen Angriff aus Parteikreisen eintrug und dies auch sonst nicht immer leicht war.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr Präsident! Ich habe keine weiteren Fragen mehr an den Zeugen.


VORSITZENDER: Will irgendeiner der Verteidigungsanwälte Fragen an den Zeugen richten?

Wünscht die Anklagebehörde Fragen an den Zeugen zu richten?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Der Gerichtshof wird natürlich nicht der Ansicht sein, daß die Anklagebehörde jede Aussage des Zeugen ohne weiteres angenommen hat, aber ich glaube nicht, man solle damit Zeit vergeuden, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. Ich werde deshalb keine Fragen an ihn stellen.


VORSITZENDER: Einen Augenblick, Sir David.

Sir David! Wäre es Ihnen und auch der Verteidigung genehm, die Fragen der zusätzlichen Anträge für Zeugen und Dokumente um 14.00 Uhr zu besprechen?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Gewiß, Euer Lordschaft, es würde mir sehr gut passen. Ich glaube nicht, daß es viele wesentliche Angelegenheiten geben wird, bei denen es zu irgendwelchen ernsteren Meinungsverschiedenheiten kommen könnte.


[128] VORSITZENDER: Nein, ich glaube dies auch nicht. Gut, wir werden dann so verfahren. Der Zeuge kann sich zurückziehen.

Dr. von Lüdinghausen! Bitte rufen Sie Ihren nächsten Zeugen; wir können ihm dann noch vor der Vertagung den Eid abnehmen.


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Darf ich darum bitten, daß Herr Dr. Dieckhoff der Nachfolger von Herrn Dr. Köpke wird?


[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Bitte wollen Sie Ihren vollen Namen angeben?

ZEUGE DR. HANS HEINRICH DIECKHOFF: Hans Heinrich Dieckhoff.


VORSITZENDER: Wollen Sie mir diesen Eid nachsprechen: »Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.«


[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]


VORSITZENDER: Der Gerichtshof vertagt sich nunmehr.


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 17, S. 92-130.
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