Vormittagssitzung.

[39] VORSITZENDER: Bevor die Angeklagten in diesem Verfahren aufgefordert werden, zu der gegen sie erhobenen Anklage Stellung zu nehmen, in der sie der Verbrechen gegen den Frieden, der Verbrechen gegen das Kriegsrecht und der Verbrechen gegen die Humanität beschuldigt werden, sowie eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zum Begehen dieser Verbrechen, wünscht der Gerichtshof, daß ich eine kurze Erklärung abgebe, und zwar im Namen des ganzen Gerichtshofs.

Dieser Internationale Militärgerichtshof ist auf Grund der Londoner Vereinbarung vom 8. August 1945 und des dieser beigefügten Statuts gegründet worden.

Der Zweck, zu dem dieser Gerichtshof gegründet wurde, ist, wie in Artikel 1 des Statuts ausgeführt, die gerechte und rasche Prozeßführung gegen die Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse und ihre Bestrafung. Signatare der Vereinbarung und des Statuts sind:

die Regierung des Vereinigten Königreichs von Großbritannien

und Nordirland;

die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika;

die Provisorische Regierung der Französischen Republik und

die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Der Ausschuß der Hauptanklagevertreter, der von den vier Signatarmächten ernannt wurde, hat endgültig festgelegt, wer die Hauptkriegsverbrecher sind, die von diesem Gericht abgeurteilt werden sollen, und hat die gegen die Angeklagten heute erhobene Anklage gutgeheißen.

Donnerstag, den 18. Oktober 1945, wurde die Anklage dem Gericht in Berlin, eingereicht. Eine Abschrift dieser Anklage in deutscher Sprache ist jedem der Angeklagten überreicht worden, die sie seit mehr als 30 Tagen im Besitz haben.

Alle Angeklagten sind durch Verteidiger vertreten. In fast allen Fällen sind die Rechtsanwälte von den Angeklagten selbst gewählt worden. In den Fällen, in denen ein Anwalt nicht gefunden werden konnte, hat das Gericht selbst eine angemessene und dem Angeklagten genehme Verteidigung bestellt.

Das Gericht hat mit großer Befriedigung von den Maßnahmen erfahren, die die Hauptanklagevertreter getroffen haben, um den [39] Verteidigern die zahlreichen Dokumente, auf die sich die Anklage beruft, zur Verfügung zu stellen und den Angeklagten jede Möglichkeit einer gerechten Verteidigung zu geben.

Der Prozeß, der nunmehr eröffnet wird, steht einzig in der Geschichte der Rechtspflege der Welt da und ist von größter Bedeutung für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Aus diesem Grund ruht auf jedermann, der daran teilnimmt, die feierliche Verantwortung, seiner Pflicht furchtlos und unparteiisch nachzukommen, gemäß den geheiligten Grundsätzen von Recht und Gerechtigkeit.

Da nunmehr die vier Signatarmächte dieses Gerichtsverfahren eröffnet haben, ist es die Pflicht aller daran Beteiligten dafür Sorge zu tragen, daß dieses Verfahren in keiner Weise von den Grundsätzen und Traditionen abweicht, die allein der Gerechtigkeit Geltung verschaffen und ihr in den Angelegenheiten aller zivilisierten Staaten die ihr gebührende Stellung sichert.

Dieses Verfahren ist im wahrsten Sinne des Wortes ein öffentliches, und ich will daher die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, daß der Gerichtshof auf der Wahrung von Anstand und Ordnung bestehen und diese nötigenfalls mit Anwendung von strengsten Maßnahmen erzwingen wird.

Auf Grund der Vorschriften des Statuts verfüge ich nunmehr, daß die Anklageschrift verlesen wird.

MR. SIDNEY S. ALDERMAN, BEIGEORDNETER ANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Hohes Gericht!


Anklageschrift.

I. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die Französische Republik, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken haben die Unterzeichneten, Robert H. Jackson, François de Menthon, Hartley Shawcross und R. A. Rudenko, rechtmäßig zu Vertretern ihrer Regierungen zum Zweck der Untersuchung der Beschuldigungen gegen die Hauptkriegsverbrecher und zu deren Verfolgung bestellt. In Ausführung der Londoner Vereinbarung vom 8. August 1945 und des dieser beigefügten Statuts des Gerichtshofs, beschuldigen die obengenannten Regierungen der Verbrechen gegen den Frieden, der Verbrechen gegen das Kriegsrecht und der Verbrechen gegen die Humanität in dem im folgenden erörterten Sinn und eines gemeinsamen Planes und einer Verschwörung zur Begehung dieser Verbrechen, wie diese in dem Statut des Gerichtshofes definiert sind, und klagen dementsprechend wegen der weiter unten aufgeführten Punkte an: Hermann Wilhelm Göring, Rudolf Heß,[40] Joachim von Ribbentrop, Robert Ley, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Walter Funk, Hjalmar Schacht, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel, Alfred Jodl, Martin Bormann, Franz von Papen, Arthur Seyß-Inquart, Albert Speer, Constantin von Neurath und Hans Fritzsche, und zwar als Einzelperson sowie als Mitglieder aller oder einiger der unten genannten Gruppen und Organisationen.

II. Die folgenden – inzwischen aufgelösten – Gruppen und Organisationen sind wegen der Wege und Mittel für die Erreichung ihrer Zwecke im Zusammenhang mit der Verurteilung derjenigen Angeklagten, die ihre Mitglieder waren, als verbrecherisch zu erklären: Die Reichsregierung, das Korps der Politischen Leiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, die Schutzstaffeln der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (allgemein bekannt als »SS«) einschließlich des Sicherheitsdienstes (allgemein bekannt als »SD«), die Geheime Staatspolizei (allgemein bekannt als »Gestapo«), die Sturmabteilungen der NSDAP (allgemein bekannt als »SA«) und der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht. Die Identität der obengenannten Gruppen und Organisationen und die Zugehörigkeit zu ihnen wird später im Anhang B begrifflich genauer definiert.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 2, S. 39-41.
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