18. Der Polemos des Varus.

[716] Die Aufstände, welche im ersten Jahre nach Herodes' Tode in allen Teilen Judäas ausbrachen, und die Grausamkeit, mit der sie der kaiserliche Legat Quintilius Varus dämpfte, bezeichnet Josephus als einen besonders unglücklichen Abschnitt in der judäischen Geschichte und stellt sie neben die Kriege unter Antiochos Epiphanes, Pompejus und Titus. In allen diesen Kalamitäten seien die Archive und Genealogien zerstört und die überlebenden Priester genötigt worden, neue Stammregister anzulegen: πόλεμος δ᾽ εἰ κατάοχοι, καϑάπερ ἤδƞ γέγονεν πολλάκις Ἀντιόχου τε τοῠ Ἐπιφανοῠς εἰς τὴν χώραν ἐμβαλόντος, καὶ Πομπƞίου Μάγνου, καὶ Κυντιλίου Ουάρου μάλιστα δὲ καὶ ἐν τοῖς καϑ᾽ ἡμᾶς χρόνοις, οἱ περιλειπόμενοι τῶν ἱερέων καινὰ πάλιν ἐκ τῶν ἀρχαίων γραμμάτων συνίστανται (gegen Apion I, 7). Die Vorgänge unter Varus wurden also als ein eigener Polemos bezeichnet. Daraus erklärt sich ungezwungen die Stelle im Seder Olam rabba (c. 30 Ende): דע סורוסא לש סומלופמ םינש 'פ סוניספסא לש סומלופ. Es ist darunter der Krieg des Varus zu verstehen, und der korrumpierte Name, der aus סונינוטנא, סורוסא durch unwissende Kopister entstanden ist, muß emendiert werden in סורו oder סורוא, wie der Name griechisch lautet Οὐάρος. Die Zeit stimmt ebenfalls; statt der 74 Jahre von Herodes' Tode bis zum Untergange des Tempels ist die runde Summe von 80 Jahren angenommen worden, wie die unglückliche Zeit von Agrippas I. Tode bis zur Tempelzerstörung, im ganzen nur 27 Jahre, in den talmudischen Quellen mit der runden Zahl 40 Jahr vor dem Untergang bezeichnet wird (vgl. w.u.). Die wichtige Notiz im Seder Olam hat infolgedessen ihre vollständige Richtigkeit. Vergl. B. IV3, S. 440. Wird also der Krieg des Varus 80 Jahre vor der Tempelzerstörung angesetzt, so gewinnen wir daraus die Epoche des Synhedrion der achtziger Jahre (הנש םינומש לש ןנבר); es waren die Gesetzeslehrer der beiden Schulen Hillel und Schammaï, die nach dem Tode ihrer Meister gewirkt haben. Auf sie werden nämlich gewisse Verordnungen in betreff levitischer Reinheit zurückgeführt (b. Sabbat 15 a. Aboda sara 8 b). Die Nachricht stammt ebenfalls von R. Jose, dem Verfasser des Seder Olam: ונל רומא ול וחלש יסוי יברב לאעמשי 'ר הלחשכ אבא רמא ךכ םהל חלש .ךיבא םושמ ונל תרמאש םירבד 'גו 'ב לעו םימעה ץרא לע האמוט ורזג תיבה ברח אלש דע הנש 'פ ... תיכוכז ילכ. Aus der nachherodianischen Zeit stammt also jene strenge, gegen die Auswanderung aus dem heiligen Lande gerichtete Verordnung, daß, wer sich im Auslande aufgehalten habe, eo ipso als levitisch unrein gelten solle: םימעה ץרא תאמוט.

[716] Diese Tradtiion, von einem Tannaiten mitgeteilt, daß 80 (oder 74) Jahre vor der Tempelzerstörung Reisen ins Ausland als verunreinigend erklärt wurden, ist für die innere Geschichte von Wichtigkeit. Sie ist authentischer als die andere, daß bereits José b. Joëser und sein Kollege, d.h. zur Makkabäerzeit, diese Verordnung getroffen hätten (b. Sabbat 14 b): רזעוי ןב יסוי תיכוכז ילכ לעו םימעה ץרא לע האמוט ורזג ... ןנחוי ןב יסויו ... . Sie stammt von einem Amora des vierten Jahrhunderts, wie aus Jerusch. (das. f. 3 d) hervorgeht: 'רא לע האמוט ורזג ... רזעוי ןב ףסוי הימרי 'ר םשב וניבא רב אריעז תיכוכז ילכ לעו םימעה ץרא. Beide Talmude hatten noch die Kunde, daß eine spätere Epoche dafür tradiert wurde. Aber ihre Ausgleichung des Widerspruches, als wenn diese Verordnung später nur erneuert worden wäre, ist ein schlechter Notbehelf. [Mir ist nicht klar, warum hier ein schlechter Notbehelf vorliegt.] Eine dritte Tradition gibt an, daß sie in Übereinstimmung der beiden Schulen Hillel und Schammaï eingeführt worden sei (Jerusch. das. 3 c). תיב) ורזגש ןה ולאו לעו ירק לעב תוכלה לעו ... םיוג לש ןתיפ לע (יאמש תיבו ללה םימעה ץרא תוכלה. Richtig ist diese Aufzählung nicht, da sie von der Voraussetzung ausgeht, daß diese und andere Verordnungen zu den sogenannten 18 Verboten (רבד ח'י) gehörten, was aber falsch ist (vgl. w.u.). Aber sie widerspricht doch der Überlieferung, daß die Verordnung betreffs des Auslandes aus alter Zeit herrührte [keineswegs mit Notwendigkeit], und bestätigt die von R. Ismael b. Jose angeführte Tradition, daß sie erst spät von den Hilleliten und Schammaïten ausgegangen sei; denn in den 74 Jahren waren eben diese Schulen fruchtbar an Verordnungen, ganz besonders aber bezüglich der levitischen Reinheitsgesetze.

Sucht man die Veranlassung zu dieser Maßregel, so läßt sie sich aus den unruhigen Zeitläuften nach Herodes' Tode, welche Josephus und die talmudische Tradition als die Zeit des Krieges des Varus bezeichnen, erklären. Im ganzen Lande waren Aufstände ausgebrochen. Die Annahme liegt nahe, daß in dieser Zeit Auswanderungen aus Palästina nach Gegenden, wo Ruhe und Existenzsicherheit herrschte, überhand genommen haben, nach Syrien, Ägypten, Kleinasien. Solche Emigrationen hätten eine Entvölkerung herbeiführen können. Um diese zu verhüten, ist wohl die Maßregel erlassen worden, daß jeder, der das Ausland berührt, levitisch unrein werde, und solchergestalt, zur Teilnahme am Passaopfer z.B., Lustrationen bedürfe. Daß diese Maßregel lediglich gegen die Auswanderung gerichtet war, beweisen zwei Ausnahmegesetze. Auf diejenigen, die aus Babylonien, d.h. aus dem Partherlande, sich direkt nach Palästina begaben, fand sie keine Anwendung. Eine Straße, die direkt von da nach der Grenze Palästinas führte, galt für rein (Tossefta Ohalot 18, 3) לע ףא לבב ילוע לש םיכרד תקזח (םימעה ץרא תאמוט םושמ) תורוהט םימעה ץראב תועלבומש יפ ונימימ הנופ םדאש םוקמ דע רמוא לאילמג ןב ןועמש 'ר ולאמשמו. Ferner Gegenden, die nahe an Palästina grenzten, wenn sie auch von Heiden bewohnt waren, wurden ebenfalls für rein erklärt (das. 4): תורייע ןולקשא היתורבחו אתיסוס ןוגכ לארשי ץראב תועלבומה ןהב ןיא תיעיבשה ןמו רשעמה ןמ תורוטפש יפ לע ףא היתורבחו םימער ץרא םושמ. Dagegen galt Syrien, obgleich es halb und halb als heiliges Land angesehen wurde, dennoch bezüglich des Wohnens daselbst als Ausland (Tossetta Kelim I. 1, 5; b. Gittin 8 a): הוש םיכרד 'גב ץראל הצוחכ אמט הרפע ץראל הצוחל אירוס. Doch wurde für Striche in Syrien, die an Palästina grenzten, eine Ausnahme statuiert (Mischna Ohalot 18, 7): הנוקה הרהטב הל סנכהל לוכי םא לארשי ץראל הכומס אירוסב הדש הרוהט. Aus diesen Ausnahmegesetzen folgt unzweifelhaft, daß die Verordnung lediglich gegen Auswanderung gerichtet war. Babylonien wurde deswegen nicht hineingezogen, [717] weil es entweder als zweites Stammland galt, oder weil es für Auswanderer nicht so verlockend war.

Auswanderungen haben selbstverständlich trotzdem stattgefunden. Deswegen ist die Verordnung erlassen worden, daß, wenn der ausgewanderte Ehemann seiner in Palästina zurückgelassenen Frau einen Scheidebrief zuschickt, diese Zusendung zwar durch einen Zeugen, den Boten, genüge, daß dieser aber seine Anwesenheit bei der Ausstellung bezeugen müsse. Diese Maßregel ist allerdings ursprünglich lediglich für Auswanderer nach der Meeresgegend (םיה תנידמ), d.h. nach Kleinasien und wahrscheinlich auch nach den griechischen Inseln und Griechenland erlassen worden (Gittin, Anf. und besonders b. das. f. 34 b).

Noch eine andere für die Zeitverhältnisse historisch wichtige, wenngleich absurd klingende Verordnung wird von beiden Talmuden auf die genannten Schulen zurückgeführt, nämlich die, daß die Berührung von heiligen Schriften verunreinige (j. Sabbat 3 c: רפסהו םידיהו, nämlich »םידיה תא ןיאמטמ«, mit Anschluß an »ורזג ללה תיבו יאמש תיב«). Dem wird nun eine andere Tradition entgegengesetzt, daß levitische Verunreinigung durch ungewaschene Hände bereits von den Häuptern dieser Schulen angeordnet worden sei (b. 14 b: םידיה לע האמוט ורזג יאמשו ללה; jer. 3 c: ורזג יאמשו ללה םידי תרהט לע). Die erstere Notiz nimmt aber an, daß die Verordnung bezüglich der heiligen Schriften lediglich von ihren Nachfolgern herstamme. Die Annahme beider Talmude, daß diese Verordnung gleichzeitig mit der betreffs der 18 Verbote (רבד ח"י) erlassen worden sei, ist nur ein Notbehelf [weshalb denn?]; denn die letztere ist gewiß erst während des großen Krieges gegen die Römer zustande gekommen [kann sich das nicht auf deren endgültige Durchsetzung beziehen?], und zwar lediglich von den Scham maïten und im Widerspruch gegen die Hilleliten (vgl. w.u.). Dagegen war die erstere schon früher in Kraft. Denn R. Jochanan b. Sakkai wurde wegen ihrer Absurdität von den Sadducäern interpelliert (Mischna Jadaim IV, 6): םישורפ םכילע ונא ןילבוק םיקודצ ןירמוא ןנחוי 'ר רמא .... םידיה תא ןיאמטמ שדקה יבתכ םירמוא םתאש דבלב וז אלא םישורפה לע ונל ןיא יכו יאכז ןב. Nun fanden die Disputationen zwischen Sadducäern und dem genannten Vertreter des Pharisäismus gewiß zur Zeit des Hohepriesters Anan b. Anan statt, als dieser für den Sadducäismus kampflustig eintrat (vergl. w.u.); dieser fungierte um das Jahr 60 post. Also in dieser Zeit war die Verordnung betreffs der heiligen Schrift bereits eingeführt, 6 Jahre vor dem Ausbruch des Krieges.

Es ist also anzunehmen, wie auch in den Talmuden aufgestellt wird, daß die beiden Schulen in derselben Zeit die Verordnung bezüglich der Verunreinigung des Auslandes und die bezüglich der heiligen Schriften erlassen haben (םימעה ץרא תאמוט und יבתכ תאמוט שדק), und zwar zu gleicher Zeit mit einer ganzen Reihe von Erschwerungen betreffs levitischer Reinheit, als wenn sie glaubten, mit solchen Maßregeln das versumpfte Staatswesen retten zu können, oder als ob sie es an levitischem Rigorismus den Essäern gleich tun wollten. Alle diese Bestimmungen gehören also mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Zeit des Po lemos des Varus oder in Herodes' Todesjahr. Hillel und Schammaï müssen zu dieser Zeit bereits aus dem Leben geschieden gewesen sein; denn die genannten levitischen Bestimmungen mit Ausnahme der Verunreinigung der Hände (םידי) werden in diesen Quellen nicht auf diese Schulhäupter zurückgeführt, sondern auf ihre Jünger. Ihr Tod fiele demnach vor den des Herodes. Von ihren Jüngern sagte eben derselbe R. Jose, der die Tradition von der Einführung der Maßregel gegen das Ausland (םימעה ץרא תאמוט) erhalten hat, daß, weil sie den belehrenden Umgang mit ihren Meistern [718] nicht nach Gebühr gepflegt haben, eine derartige Differenz bezüglich der religiösen Gesetzesbestimmung eingerissen sei, daß ein Schisma erfolgte und das Judentum nahezu in zwei einander entgegengesetzte Lehren auseinander gegangen wäre109. Es sind darunter sowohl diejenigen fanatischen Pharisäer zu verstehen, die aus Haß gegen Herodes sich in Intrigen mit den Weibern und Ehrgeizigen an Herodes' Hofe eingelassen und ihnen Herrschaft und Macht vorgespiegelt hatten, um sie gegen Herodes' Leben aufzustacheln, als auch diejenigen pharisäischen Lehrer, welche die Jünglinge zur Zerstörung des römischen Adlers am Tempel aufgereizt hatten. Es waren Phantasten und Fanatiker, die das Augenmaß für die Wirklichkeit verloren hatten und den Wahn hegten, durch übertriebene und unausführbare levitische Gesetze die durch Herodes' Mißregierung verrenkte religiöse und sittliche Ordnung wieder herstellen zu können. Zu diesen Gesetzen gehörte nicht das Verbot der 18 Dinge (רבד ח"י) in Bezug auf Heiden, oder das Gesetz der Abschließung von den Heiden; dieses ist erst später durch die Schammaïten allein zustande gekommen (vgl. w.u.).

Der Punkt bezüglich der levitischen Verunreinigung der heiligen Schriften ist nun für die Geschichte und besonders für den Abschluß des Kanon, höchst wichtig. Man muß dabei von dem Motiv ausgehen, welches eine so befremdliche Maßregel veranlaßt hat. R. Jochanan b. Sakkai, der wegen dieser Absurdität von den Sadducäern interpelliert wurde (o. S. 718) rechtfertigte sie damit, daß etwas gerade wegen seines höheren Wertes profaner Benutzung entzogen werden solle: ןתאמוט אוה ןתבח ךותמ; man habe die häufige Berührung mit heiligen Schriften vermeiden wollen, damit die Leder, auf die sie geschrieben sind, nicht etwa als Sattel beim Reiten benutzt werden sollten (Tossefta Jadaim Ende). ןה ןתבח יפל שדק יבתכ ףא המהב יבג לע ןיחיטש םשעי אלש ןתאמוט.

Man kann nicht darüber hinwegkommen, daß diese Vorkehrung nur im Interesse der Hagiographen eingeführt worden sein kann; denn die Rollen des Pentateuchs und der Propheten, die längst zum öffentlichen Gottesdienste gehörten, sind gewiß niemals profaniert, vielmehr als heilig und unantastbar behandelt worden. Dagegen hatten die Hagiographen, welche – mit Ausnahme der Estherrolle – nicht zum synagogalen Gebrauch gedient haben, nicht diesen Charakter, und es konnte einem Reiter einfallen, den Mangel eines Sattels durch die Lederrollen, die mit Hagiographen beschrieben waren, zu ersetzen. Ja, genau genommen, bedeutet der Ausdruck שדק יבתכ lediglich Hagiographen. Vergl. Jerusch. Sabbat XVI. p. 16 b הקילדה ינפמ ןתוא ןיליצמ שדוקה יבתכל םיאיבנל הרות ןיב. Er umfaßt also nicht Pentateuch und Propheten (vgl. noch Graetz Salomonischen Prediger, S. 160). So wie für den Pentateuch die eigene Benennung הרות in Gebrauch war, ebenso für die Propheten die Bezeichnung םירפס. Folglich galt der Terminus שדק יבתכ lediglich für Hagiographen [Vgl. dagegen Blau, Zur Einleitung in die hl. Schrift, S. 12 ff.]. Ursprünglich war demnach die Verordnung, daß die Berührung mit »heiligen Schriften« verunreinige, nur für diese dritte Klasse der Bibel eingeführt. Erst nach und nach, als den Hagiographen der Charakter der Heiligkeit allgemein zuerkannt worden war, wurde die Maßregel auch auf Pentateuch und Propheten ausgedehnt.

Man kann also annehmen, daß, als zur Zeit des Polemos des Varus (um 4-3 vorchr. Zeit) die Bestimmung von der Verunreinigung der »heiligen« [719] Schriften angeordnet wurde, auch darüber verhandelt wurde, den hagiograpischen Kanon festzustellen. Gewiß war die damalige Behörde über die meisten hagiographischen Schriften, die den Charakter des Heiligen verdienen, also vor Profanierung geschützt werden sollten, nicht zweifelhaft. Die meisten stammten aus alter Zeit oder trugen an der Spitze den Namen autoritativer Verfasser. So galten die Psalmen als von David stammend, die Sprüche als von Salomo verfaßt, die Klagelieder als von Jeremia, Ruth als aus der Zeit der Richter, das Dreibuch Chronik, Esra und Nehemia als von den letzteren herstammend. Auch Hiob war nicht zweifelhaft. Zweifelhaft war nur noch, ob auch das Hohelied und Kohelet diesen Charakter verdienen. Diese Frage blieb offen und wurde erst später zum Austrage gebracht (vgl. Graetz a.a.O.).

Das Ergebnis, daß der hagiographische Kanon erst in der Zeit nach Herodes' Tode fixiert worden ist, hat eine besondere Wichtigkeit für die Schlußredaktion des Psalters. Sobald bestimmt wurde, daß dieses Buch verunreinigend wirke, muß es doch als ein Ganzes abgeschlossen vorgelegen oder damals abgeschlossen worden sein. Denn so sehr auch die sachliche und chronologische Ordnungslosigkeit in der Reihenfolge der Psalmen, bei der nicht die geringste Rücksicht genommen wurde, ältere Psalmen neben jüngere und solche, die keinerlei Zusammenhang haben, aneinander zu reihen, unverkennbar ist, so zwingen doch zwei Momente zu der Annahme, daß eine Redaktion stattgefunden hat.

Psalm 1 an der Spitze ist gewiß jüngeren Datums und hat keine gedankliche Verbindung mit Psalm 2. Sie sind aber nichtsdestoweniger nicht bloß aneinander gereiht, sondern auch zusammen als ein einheitlicher Psalm angesehen worden (vgl. Graetz, Psalmenkommentar, S. 10 N.). Wie kam die Behörde oder kamen die Redaktoren dazu, sie zusammen zu koppeln? Nun, Psalm 1 prägt die Wichtigkeit der Thora ein, und 2 wurde messianisch gedeutet. Die Redaktoren haben demnach mit Absicht zwei Psalmen oder einen einzigen an die Spitze gestellt, um das Alpha und Omega des Judentums auszudrücken, den Gedanken an die Thora und die Hoffnung auf den Messias. Die 7 Psalmen, welche an je einem Tage in der Woche im Tempel gesungen zu werden pflegten (24, 48, 81, 82, 92, 93, 94), hatten ursprünglich die Aufschrift für die Tagesbestimmung. Im griechischen Texte haben 5 derselben noch die Tagesaufschrift, im Hebräischen ist nur noch die für den Sabbatpsalm geblieben (vergl. Kommentar S. 55). Da die Aufschriften nicht zum Psalm gehören, so können sie nur später bei der redaktionellen Sammlung hinzugefügt worden sein. Nun erscheint die Auswahl dieser Tagespsalmen sonderbar; die meisten derselben sind nicht hymnisch, was doch für den Kultus im Tempel erforderlich wäre. Vielmehr ist Ps. 94 geradezu ein Klagepsalm über Vergewaltigung; Ps. 82 hat zum Inhalte eine direkte scharfe Rüge gegen unwürdige Richter. Selbst der Sabbatpsalm 92 enthält eine stille Klage über glückliche Frevler, gibt aber die Beruhigung, daß ihr Glück nicht von Dauer sein werde. Eine Analogie gibt das Motiv für diese auffallende Auswahl. In den Zwischentagen des Hüttenfestes sind Verse aus dem Klagepsalm 94 für den Kultus gesungen worden, weil sie auf Vergewaltigung von seiten der Fremdherrschaft anspielen (beiläufig auch Verse aus andern Psalmen, welche Rügen gegen Frevler enthalten aus Psalm 50 und 82). Vergl. b. Sukka 55 a und Raschis Erklärung dazu.

Eine lange anhaltende Vergewaltigung hat die Nation – in deren Namen die Psalmen klagen – nur von den Römern erlitten, zumal als nach Herodes' Tode die Landpfleger das Volk bedrückten und Römlinge sie unterstützten. Folglich sind der Klagepsalm 94 und die anderen Rügepsalmen direkt wegen [720] ihrer Anspielung auf die Römerherrschaft ausgewählt worden. Man kann nun nicht wohl annehmen, daß diese Auswahl in Herodes' Zeit geschehen ist, als er den Tempel neu erbaut und ihn dem Gottesdienste übergeben hatte. Er würde schwerlich dergleichen gegen seine Patrone, die Römer, zugegeben haben. Und noch weniger ist anzunehmen, daß die Auswahl gegen sein eigenes Tyrannenregiment gerichtet gewesen sei. Man wird also darauf geführt, daß erst nach dem Erlöschen der ersten Herodianer solche pointierte Psalmen von den Leviten gesungen worden sind. Die Tagesaufschrift zu den 7 Psalmen ist demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit infolge des Polemos des Varus und des darauf folgenden Druckes von Seiten der Prokuratoren hinzugefügt worden, d.h. der Psalter ist nicht vor der Römerherrschaft gesammelt [?] und redigiert worden. Der Zusammenhang ist klar. Als die Jünger der beiden Schulen rigorose Bestimmungen bezüglich levitischer Reinheit erließen und diese als wirksames Mittel betrachteten, um gewisse Übelstände zu beseitigen, führten sie auch die Maßregel ein, daß die hagiographischen Bücher, um sie vor Profanierung zu schützen, bei der Berührung verunreinigen sollten. Sie mußten demnach auch fixieren, welche Schriften zu dieser Klasse gehören und als heilig behandelt werden sollen. In bezug auf die Psalmen mußten sie die Sammlung abschließen und die erforderlichen Akzessorien, also zunächst die Tagesaufschriften, hinzufügen. An die Spitze der Sammlung stellten sie zwei Psalmen, welche den hohen Wert der Thora und der Messiashoffnung betonen. Dieses Alles erfolgte wohl zur Zeit, als zur Verhütung der Auswanderung ins Ausland die Bestimmung getroffen wurde, daß dieses levitisch verunreinige. Dieses er folgte nach ungenauer Berechnung 80 Jahr vor der Tempelzerstörung oder genauer zur Zeit des Polemos des Varus, d.h. nach Herodes' Tode. Bei der Redaktion des Psalters sind selbstverständlich [?], wenn nicht sämtliche Akzessorien: Überschriften für Instrumente, Chorleitung, die Bezeichnung רומזמ und ריש für historische Veranlassung einer Reihe von Psalmen, so doch jedenfalls die Formel Halleluja im Anfang und die Doxologie zum Schlusse von vier Psalmen angebracht worden. Diese Akzessorien היוללה und לכ רמאו ןמא םעה sind lediglich für die Gemeindeliturgie angebracht (vgl. Ps. Comment, S. 91 fg.). Sie geben nämlich an, wie die Gemeinde zur Aufforderung des vorbetenden Liturgen respondieren soll. Im 3. Makkabäerbuch ist bereits angegeben, daß die Gemeinde zu einem Hymnus mit Halleluja einzufallen pflegte (7, 13) καὶ οἱ.. ἱερεῖς πᾶν τὸ πλῆϑος ἐπιφωνἠσαντες τὸ ἁλλƞλούια (vgl. auch Tobit 13, 18).

Übrigens scheint nicht für sämtliche Bücher, welche jetzt zu den Hagiographen gerechnet werden, mit einem male die kanonische Würdigkeit statuiert worden zu sein. Zunächst galt es wohl diejenigen vor Profanation zu schützen, welche gewissermaßen den prophetischen Schriften ähnlich schienen, oder von denen angenommen wurde, daß deren Verfasser vom heiligen Geist inspiriert waren (ורמאנ שדקה חורב); also die Psalmen, welche größtenteils David vindiziert wurden, – den Philo z.B. einen »Propheten« nennt (Mangey I, p. 515) τις προφἠτƞς ἀνἠρ, – ferner Ruth, welches mit dem Buch der Richter äußerliche Ähnlichkeit hat, und das Dreibuch Chronik-Esra-Nehemia, als Fortsetzung des Buches der Könige, und wohl auch das Buch Esther. Diese waren gewiß in vielen Exemplaren vorhanden. Die übrigen Hagiographen sind wohl erst später eingereiht worden, sobald jemand, der im Besitze eines hagiographischen Buches war, die Frage richtete, ob es ebenfalls die Hände verunreinige. Daher kommt es, daß über die Zulässigkeit des Hohenliedes und Kohelets die Schulen auseinandergingen. Sirachs Sprüche müssen ursprünglich ebenfalls [721] als hagiographisch angesehen worden sein. Denn sie wurden viel gelesen und sogar als הלבק ירבד, d.h. den übrigen ebenbürtig, angeführt. Erst später wurden Sirach und ähnliche Schriften aus dem Kanon der Hagiographen ausgeschlossen (Tossefta Jadaim II, 13: ןניא ךליאו ןאכמ ובתכנש םירפס לכו אריס ןב (רפס 1.) ירפס םידיה תא ןיאמטמ). Es wurde nämlich schließlich als Kanon aufgestellt, daß nur solche Schriften dazu gehören, welche während der Fortdauer der Prophetie verfaßt wurden, weil vorausgesetzt wurde, daß zu dieser Zeit der heilige Geist gewaltet und die Autoren inspiriert habe, mit dem Aussterben der letzten drei Propheten aber der heilige Geist aufgehört habe zu inspirieren110, und darum die später verfaßten Schriften, Sirach und andere nicht als heilig anzusehen seien. Zu den andern Schriften gehört gewiß mindestens das hebräisch geschriebene erste Makkabäerbuch und vielleicht auch Susanna, das ebenfalls hebräisch abgefaßt war und vor der Tempelzerstörung verfaßt wurde.

Als Resultat dieser Erörterung ergibt sich, daß nach Herodes' Tod eingeführt wurden:


  • 1) die Maßnahme gegen Auswanderung ins Ausland;
  • 2) die Bestimmung für Formulierung bei Zusendung eines Scheidebriefes vom Auslande;
  • 3) die Kanonisierung der Hagiographen und Beratung über die Bücher Kohelet und das Hohelied;
  • 4) die Redaktion des Psalters;
  • 5) die Einführung der regelmäßigen Tagespsalmen für den Levitenchor im Tempel.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1906, Band 3.2, S. 716-723.
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