[755] Die einzige Bezeugung für die Entstehung des Christentums beruht auf der Erzählung in den vier Evangelien. Von diesen vier wird das Johannes-Evangelium von keinem besonnenen Kritiker (mit Ausnahme von Renan) als historische Quelle angesehen und benutzt, weil es den Stifter des Christentums nicht geschichtlich als wirkende Persönlichkeit, sondern mystisch als den fleischgewordenen Logos, der von jeher bei Gott oder in Gott gewesen, darstellt. So bleiben nur die drei synoptisch genannten Evangelien übrig, die das Auftreten, Tun und Reden, den Tod und die Auferstehung Jesu in einer gewissen chronologischen Ordnung erzählen. Von diesen drei wiederum sagt der Verf. des Lukas-Evangeliums selbst aus, daß er nicht Augenzeuge der Vorgänge gewesen. Er gibt zu, daß zu seiner Zeit recht viele evangelische Lebensbeschreibungen existiert haben, die nicht auf Augenzeugenschaft beruht hätten, sondern nur nach Traditionen von Augenzeugen dargestellt gewesen seien. Da diese ihm aber nicht auf Authentie zu beruhen schienen, so schreibe er für seinen Freund Theophilos ein eigenes Evangelium158, das aber, wie die Kritiker nicht umhin können einzugestehen, recht eklektisch ist. Derselbe Verf. hat auch die Apostelgeschichte für denselben Theophilos geschrieben, und diese erweist sich als höchst sagenhaft und setzt das Erlöschen des Gegensatzes des Juden- und Heiden-Christentums, des Ebionitismus und Paulinismus, voraus, als wenn ein Apostelkonvent eine Versöhnung herbeigeführt hätte. Dieser Gegensatz bestand aber zur Zeit des Barkochba-Aufstandes noch in aller Schärfe und hat sich erst infolge des hadrianischen Sieges über Judäa und der Verwandlung Jerusalems in die heidnische Stadt Älia Capitolina allmählich abgestumpft. Bis dahin waren noch die Bischöfe oder Vorsteher der Christengemeinde in Judäa Judenchristen, d.h. sie haben noch im schroffsten Gegensatz zu Paulus' zelotisch-antinomistischer Theorie die Beschneidung für ein unbestreitbares fundamentales Gesetz gehalten159. Das Lucas-Evangelium ist also erst in der nachhadrianischen Zeit, nach 140, verfaßt worden.
Die Existenz der beiden ersten synoptischen Evangelien Matthäus und Markus, aus welchen die schönfärbenden Darsteller in der Gegenwart das Leben Jesu rekonstruieren, ist in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts negativ bezeugt.
Papias, Bischof von Hierapolis in Kleinasien, der, ein Freund Polykarps, um 169 als Märtyrer umgekommen sein soll, kannte noch nicht das griechische Evangelium nach Matthäus. Er berichtet: »Matthäus hat in hebräischem Dialekt die Reden Jesu niedergeschrieben, welche ein jeder auf seine Weise ausgelegt hat«160. Abgesehen davon, daß ein leiser Tadel darin liegt, daß die von Jesus bei Matthäus überlieferten Sprüche (λόγια) nicht von Evangelienverfassern in authentischer Weise dargestellt worden sind, folgt auch aus dieser Äußerung des Papias, daß zu seiner Zeit das griechische Matthäus-Evangelium [755] noch nicht existiert oder in Kleinasien noch nicht kanonisches Ansehen erlangt hatte. Ebensowenig kannte oder anerkannte der Bischof von Hierapolis ein Markus-Evangelium. Er äußert sich darüber161: »Markus, Dolmetsch des Petrus geworden, schrieb das von Christus Gesprochene und Geleistete, so weit er sich erinnerte, genau nieder, aber nicht nach einer Ordnung. Denn er hatte den Herrn nicht gehört, noch war er in seinem Gefolge, sondern später hörte er, wie gesagt, von Petrus, welcher je nach Bedürfnis die Lehren (Jesu) angewendet hat, aber nicht, daß er eine Reihenfolge der Sprüche Jesu gegeben hätte. Gefehlt hat Markus nicht, da er nur einiges aufgeschrieben hat, dessen er sich erinnerte; nur auf eins legte er Sorgfalt, daß er nichts weggelassen von dem, was er gehört, und daß er in denselben (den Reden) nichts gefälscht hat.« Papias kannte oder beachtete also weder ein Matthäus- noch ein Markus-Evangelium. Weil er Mißtrauen gegen schriftliche (evangelische) Erzählungen hatte, zeichnete er selbst von Älteren überlieferte Sprüche auf, die er zwar nicht von den Aposteln selbst vernommen hatte, aber von ihm glaubwürdig erscheinenden Lehrern, von Aristeon und dem älteren Johannes. Unter den von Papias der Aufzeichnung würdigen Worten von Jesus waren auch solche, welche der von den kanonischen Evangelien beherrschte Kirchenhistoriker Eusebius als sinnlose Parabeln und Lehren und als Mystisches bezeichnet: ξένας τε τινὰς παραβολὰς τοῠ σωτῆρος καὶ διδαοκαλίας αὐτοῠ καί τινα ἄλλα μυστικώτερα (παρέϑετο ὁ Παπίας). Ganz besonders fand Eusebius die von Jesus überlieferte Lehre von dem tausendjährigen Reich, welches nach erfolgter Auferstehung leiblich auf Erden erstehen werde, sinnlos und albern (a.a.O.). Wie ungewiß und widerspruchsvoll waren demnach die Überlieferungen der älteren Kirche bezüglich des Lebens und der Lehre Jesu! Erst die allmählich entstandenen und für kanonisch gehaltenen Evangelien haben die anderweitigen Überlieferungen verdrängt und ein bestimmteres Bild von dem Stifter gezeichnet. Aber wie alt sind die beiden ältesten synoptischen Evangelien?
Es gilt gegenwärtig als unbestreitbar, daß das Markus-Evangelium durchweg von Matthäus abhängig ist [Die theologische Durchschnittsüberzeugung geht heute vielmehr dahin, daß das Markus-Evangelium als das älteste zu gelten habe, (Vergl. Handkomment. zum N. T. I, S. 3 ff. und Jülicher in Herzogs Real- Enzyklopädie XII3, 295 ff). Nichtsdestoweniger lassen sich wichtige Instanzen gegen diese Annahme geltend machen.], daß es manches daraus weggelassen hat, was zu judäisch und partikularistisch klang und was für die Heidenchristen, für welche es verfaßt wurde, unverständlich oder anstößig scheinen konnte. Dieses kritische Resultat von Markus' Abhängigkeit von Matthäus und von Überarbeitung desselben gibt auch das Kriterium an die Hand, zu erkennen, daß diejenigen Reden, Parabeln und Erzählungen, welche es nicht von Matthäus aufgenommen hat, obwohl sie für seine Tendenz verwertbar waren, in dem ersten Evangelium ursprünglich nicht zu lesen waren. Es gilt also, um die Geschichtlichkeit der evangelischen Darstellung zu würdigen, zu untersuchen, wie alt ist das allerälteste synoptische Evangelium, welches die Aufschrift hat: nach [756] Matthäus (κατὰ Ματϑαῖον)? Wie lange nach Jesu Tode ist es verfaßt worden? Es sind darin nicht bloß Spuren und Andeutungen, sondern Tatsachen genug enthalten, welche darauf führen, daß es erst ein Jahrhundert nach Jesu Tode verfaßt wurde.
1. Das Matthäus-Evangelium läßt Jesus einen Fluch über die Pharisäer aussprechen, weil sie Prophetenmörder wären: »daß über euch komme alles Blut, welches auf Erden vergossen worden, von dem Blute Abels bis zum Blute des Zacharia, des Sohnes Berachias, den ihr zwischen dem Altar und dem Innern des Tempels ermordet habt (23, 35).« Ältere und neuere Erklärer erblicken mit Recht in diesem Faktum das, was Josephus erzählt (j. Kr. IV, 5, 4), daß die Zeloten einen biederen und reichen Mann Zacharia, Sohn Baruchs, wegen unpatriotischer Gesinnung angeklagt haben, und daß zwei Fanatiker ihn, obwohl er vom Synhedrion freigesprochen war, mitten im Tempel (ἐν μέσῳ τῷ ἱερῷ) erschlagen und seine Leiche vom Tempel in den Abgrund geschleudert haben. Der Name und der Ort des Mordes stimmen in beiden Erzählungen zu auffallend, als daß an der Identität des Faktums noch der geringste Zweifel bestehen könnte. Dieses Faktum ereignete sich im Winter 67-68 nach Chr., d.h. mehr als 30 Jahre nach seinem Tode. Und doch wird ihm die Anspielung darauf mit allen Umständen in den Mund gelegt und ein Fluch daran geknüpft, daß das von zwei Fanatikern vergossene Blut über die Pharisäer, über Jerusalem, ja über das ganze Volk kommen soll! Zu bemerken ist, daß Markus diesen Passus nicht hat, wohl aber Lukas (11, 51), was also möglicherweise ein späteres Einschiebsel ist [Es scheint doch wohl an die Szene aus II. Chr. 24, 20 ff. zu denken zu sein. Die Verwechselung der Vaternamen findet sich auch im Targum zu Klag 2, 20].
2. Es läßt die Pharisäer und Herodianer an Jesus herantreten mit der Frage, ob es erlaubt ist, dem Kaiser die Abgabe (Κῆνσος) zu geben, und ihn, hinweisend auf das Bild des Kaisers, welches auf der Münze, einem Denar, geprägt ist, antworten: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist« (22, 16-21). Unter dem Kensos (census) kann nicht irgend eine Staats-oder Personalsteuer verstanden werden; denn für eine solche genügte nicht ein Denar, sie war vielmehr nach Vermögen klassifiziert. Auch wäre die Frage unverständlich, ob es erlaubt sei, sie zu geben (ἔξεστι δοῠναι). Die römischen Einnehmer haben sich wenig um das Erlaubtsein oder Nichterlaubtsein gekümmert; wo Geld vorhanden war, haben sie die Steuer eingetrieben. Aber eine einzige Steuer oder Abgabe hat den frommen Juden Gewissensskrupel gemacht, nämlich die doppelte Drachme oder der Denar, welchen Vespasian allen Juden unter dem Namen fiscus judaicus aufgelegt hat. Die Abgabe, welche früher jeder als heilige Gabe an den Tempel lieferte und nun für Jupiter Capitolinus geleistet werden sollte, fiel schwer auf das Gewissen und bestimmte manche, sich ihr durch Mittel und Vorwände zu entziehen, so geringfügig sie auch war. Jeder gewissenhafte Jude mußte sich also fragen, ob es gestattet sei, das Didrachmon, das doch eigentlich eine Spende für das Götzentum war, zu leisten. Diese Frage wird nun im Evangelium Jesu vorgelegt, und zwar von Pharisäern im Beisein von Herodianern, d.h. von Römlingen. Sie wollten Jesus damit in Verlegenheit bringen oder ihm eine Falle stellen (ὅπως αὐτὸν παγιδεύσωσιν). Sagte er ja, so konnten ihn die frommen Juden beschuldigen, daß er nicht gewissenhaft sei, Rücksicht auf Menschen nehme und Menschenfurcht zeige. Sagte er nein, so würden ihn die Herodianer anklagen, daß er dem Kaiser ungehorsam sei. So zeichnet sich die in den Evangelien gegebene Situation [757] recht frappant. Entschieden [?] handelt es sich dabei um den Denar des fiscus judaicus. Jesus zieht sich aus der Schlinge, indem er erklärt, daß der Denar, welcher Inschrift und Bild des Kaisers trage, also ihm gehöre, wohl dem Kaiser gegeben werden dürfe. Da diese Abgabe erst nach der Zerstörung Jerusalems aufgelegt war, also nach 70, so ist selbstverständlich die ganze Erzählung erdichtet. Sie reflektiert die Skrupel der Judenchristen, ob sie sich der Abgabe entziehen sollen. Es geht also entschieden daraus hervor, daß das Matthäus-Evangelium jedenfalls nach der Tempelzerstörung verfaßt worden ist.
3. Ein Vers führt die Abfassungszeit noch um 20 Jahre später. L. 23, 15 läßt Jesus die jüdischen Gesetzeslehrer verwünschen: »Wehe Euch, Schriftgelehrte und heuchlerische Pharisäer, die ihr Meer und Land umzieht, um einen zum Proselyten zu machen (ποιῆσαι ἕνα προσἠλυτον), und wenn er es geworden ist, mache ich ihn zum Sohne des Geenna, zwiefach mehr als ihr.« Ohne Zweifel spielt der Vers auf ein Faktum an, auf eine Reise der Schriftgelehrten in weite Ferne zu Wasser und zu Land, auf einen Heiden, welchen diese zum Proselyten machen wollten, und auf die Tatsache, daß derselbe sich zum Judentum bekehrt hat. Dieser Proselyt muß [?] eine angesehene Persönlichkeit gewesen sein, daß die Schriftgelehrten, um ihn zu gewinnen, die weite Reise unternommen haben. Alle diese Fakta sind historisch beurkundet. Vier Gesetzeslehrer (der Patriarch Rabban Gamaliel, der Vizepatriarch R. Eleasar b. Asarja, der älteste des Kreises, R. Josua b. Chananja, und der gelehrteste desselben R. Akiba) sind zu Schiff nach Rom gereist. Dort verkehrten sie mit einem hochangesehenen Senator, der Proselyt geworden ist. Dio Cassius erzählt, daß der Konsular Flavius Clemens von seinem Vetter, dem Kaiser Domitian, hingerichtet wurde, weik er eine Vorliebe für das Judentum bekundet habe (die Belege im folgenden Band). Nur diese Fakta [?] meint der V. in Matthäus. Die auf Propaganda ausgehenden ersten Christen waren eifersüchtig darauf, daß Flavius Clemens durch die Bemühung der Schriftgelehrten judäischer Proselyte geworden ist. Nun war Flavius Clemens im Jahre 95 Konsul zugleich mit Domitian. Im Jahre 96 nach seinem Austritt aus dem Amte wurde er hingerichtet. Folglich ist dieses Evangelium erst nach 96, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Jesu Tod, verfaßt, oder dieser V. ist, da er bei Markus fehlt, später hinzugefügt.
4. In dem Kapitel von der Parusie heißt es (24, 15): »Wenn ihr sehen werdet den Gräuel der Verwüstung, von dem im Propheten Daniel geweissagt ist, stehend auf heiligem Orte (wer es liest, der merke darauf), dann mögen diejenigen, welche in Judäa sind, auf die Berge fliehen.« Es ist unbegreiflich, wie Köstlin und andere Ausleger diesen V. auf die Zerstörung des Tempels durch Titus beziehen und daher die Abfassungszeit des Evangeliums zwischen 70-80 setzen können! Hat denn Titus einen Gräuel der Verwüstung d.h. ein Götzenbild auf den Tempelplatz stellen lassen? Wohl aber tat es Hadrian, als er Jerusalem in Aelia Capitolina verwandelte. Hieronymus in Jesaiam c. 2. Ubi quondam erat templum Dei, ibi Adriani statua et Jovis idolum collocatum est. Ja, Hieronymus selbst legt diesen Vers so aus, daß er sich auf die hadrianische Zeit bezieht. Potest simpliciter intelligi ... de Hadriani equestri statua, quae usque in praesentem diem stetit. Das ganze Kapitel der Parusie, von dem Kriege und Kriegsgeschrei, von solchen, welche sich als Messias ausgeben und die Christen verführen werden, und von der Leidenszeit, welche über die Christen hereinbrechen werde, ist nur durch die Vorgänge des hadrianisch-barkochbaischen Krieges verständlich. Gerade [758] in dieser Zeit, als auch die Christen Anfechtungen hatten, ist zum Troste für sie das Matthäusevangelium niedergeschrieben worden, zwischen 132-135.
5. Man kann noch hinzufügen, daß die Ausfälle gegen die Schriftgelehrten (23, 7 f), auf die Zeit nach der Tempelzerstörung hinweisen. »Sie haben es gerne, auf den Marktplätzen gegrüßt und Rabbi Rabbi162 genannt zu werden.« Der Titel Rabbi war nämlich vor der Tempelzerstörung nicht üblich, da er nur von Jüngern ihrem Meister gegeben wurde. Solche gesonderte Schulen mit einem Lehrer an der Spitze bestanden aber nicht, so lange das Synhedrion fungierte. Die Gesetzeslehrer, welche vor der Tempelzerstörung geblüht haben, werden daher selbst in den talmudischen Schriften ohne diesen Titel genannt. Die sogenannten Paare (תוגוז), von Jose ben Joëser bis Hillel und Schammaï, figurieren sämtlich ohne den Titel Rabbi. Nur die Nachkommen Hillels werden mit dem Titel Rabban (ןבר) benannt, weil sie im Synhedrion monarchisch ohne einen zweiten gleichberechtigten Beisitzer fungiert haben. So auch noch Rabban Jochanan Ben-Sakkaï, weil er ebenfalls ohne Beisitzer im Kollegium fungiert hat. Erst nach seinem Tode, als zugleich mehrere Schulen entstanden waren, nannten die Jünger je einer Schule ihren Meister »Rabbi«. Der Gebrauch des Titels beginnt mit יבר עושוהי 'ר, רזעילא 'ר, אביקע. Jesus kann daher unmöglich diese und die übrigen Ausfälle gegen die Schriftgelehrten ausgesprochen haben. Sie stammen sämtlich aus der Zeit nach der Katastrophe, als die Spannung zwischen den Führern der Judenschaft und den judenchristlichen Gemeinden zunahm.
Ist das älteste Evangelium erst ein Jahrhundert nach Jesu Tod entstanden, so ist selbstverständlich die Weissagung von dem Untergang des Tempels, daß nicht ein Stein auf dem andern bleiben werde (24, 2), ein echtes vaticinium ex eventu.
Es ist daher begreiflich, daß, wenn dieses Evangelium erst gegen Ende von Hadrians Regierungszeit verfaßt wurde, Papias, der in derselben Zeit und unter Mark-Aurel lebte, diese jedenfalls erste bedeutendere literarische Komposition nicht kannte. Es werden allerdings schon gegen Ende des ersten Jahrhunderts evangelische Kompositionen bemerkt. Sie waren den Gesetzeslehrern, welche zwischen der Tempelzerstörung und dem hadrianischen Krieg lehrten, R. Tarphon, R. Ismaël und R. Jose, dem Galiläer, bereits unter dem Namen Gilion bekannt163. Sie waren gewiß in aramäisch gefärbtem Hebräisch geschrieben. Eines unter diesen wurde nach einer kirchlichen Tradition das Hebräer- oder Nazarener-Evangelium (Εὐαγγέλιον καϑ᾽ Εβραίους oder κατὰ Ναζαραίους) genannt. Es war vielleichi identisch mit demjenigen Matthäus-Evangelium in hebräischer Sprache, von welchem Papias erzählt, daß es für griechisch-redende oder Heiden-Christen von mehreren übersetzt und ausgelegt wurde, und von dessen Übersetzung er mit Mißachtung spricht. Keineswegs ist darunter das kanonische Matthäus-Evangelium zu verstehen, da dieses gar nicht den Charakter einer Übersetzung hat, sondern vielmehr das Gepräge eines griechischen Originals an sich trägt, allerdings in dem schlechten Stile, welcher [759] den hellenistischen Juden, die nicht auf der Höhe der klassischen Bildung, wie Philo, Josephus und der Verf. des Buches der Weisheit, standen, eigen war. Als authentische Geschichtsquelle kann dieses älteste Evangelium keineswegs angesehen werden, da es, wie erwiesen ist, erst ein Jahrhundert nach Jesu Tode verfaßt wurde, und die Apostel, deren Traditionen darin aufgenommen sein könnten iterarisch zu ungebildet waren, um Geschichtliches treu zu überliefern. Eine echte Tradition hätte doch mindestens das Chronologische im Leben Jesu geben müssen. Aber dieses ist im Evangelium so verschwommen gegeben, als wenn Jesu Tätigkeit in einem einzigen Jahre vorgegangen wäre.
Der Verfasser des Johannes-Evangeliums, der aus einem gebildeteren griechischen Kreise stammte, verlängert Jesu Tätigkeit auf drei Jahre, nicht etwa weil er einer authentischeren Überlieferung folgte, sondern weil er Anstoß nahm an dem Zusammenschrumpfen einer so großartigen Wirksamkeit in den verschiedenen Städten Galiläas und Peräas und in Jerusalem zu einem Jahre. Es schien ihm eine chronologische Unmöglichkeit.
Dieselbe chronologische Unbestimmtheit und Unmöglichkeit zeigt sich auch in der Erzählung von Jesu Prozeß, Tod und Auferstehung. Zuerst wird im Matthäus-Evangelium angegeben, die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten hätten es vermeiden wollen, Jesu Prozeß an dem Feste vorzunehmen, damit nicht ein Aufruhr im Volke entstehe (26, 5: μὴ ἐν τῇ ἑορτῇ). Und im Widerspruch damit wird weiter erzählt, die Hinrichtung sei doch am Feste erfolgt. Denn am Vorabend des Festes der ungesäuerten Brote (V. 17: τῇ δὲ πρώτς τῶν ἀζύμων, d.h. an dem Tage, an welchem das Paschaopfer geschlachtet zu werden pflegte), trägt Jesus seinen Jüngern auf, das Mahl für das Pascha vorzubereiten; des Abends speist er mit ihnen zusammen, bricht das Brot, trinkt den Kelch (vergessen ist aber das Genießen vom Paschalamm, das doch direkt bestellt worden war, das. »φαγεῖν τὸ πάσχα«). In der Nacht wird er gefangen und am andern Morgen hingerichtet. Also doch am Feste, was doch vermieden werden sollte. Diese Tageschronologie ist ohnehin ungeschichtlich, da nach der jüdischen Tradition an den Festtagen keine Gerichtssitzung gehalten werden durfte, und umso weniger eine Hinrichtung vorgenommen worden ist. Diese Bestimmung ist nicht etwa bloß rabbinisch, sondern sie ist auch durch Philos Angabe bestätigt. Doch lassen wir es gelten, Jesus sei an dem ersten Tage des Festes hingerichtet worden. Dabei zeigt sich wieder eine andere chronologische Unbestimmtheit. Tages darauf, d.h. an dem Tage nach dem Rüsttage (27, 62 τῇ δὲ ἐπαύριον, ἥτις ἐστὶν μετὰ τὴν παραοκευἠν) verlangen die Hohenpriester von Pilatus, daß das Grab verschlossen werden solle, damit nicht ein neuer Betrug entstehe164.
Aber der Tag nach dem Rüsttag ist ja eben der Festtag, an dem die Hinrichtung geschehen sein soll, denn παρασκευἠ kann ja hier nur bedeuten τῆς ἑορτῆς und ist ganz gleich dem πρώτς τῶν ἀζύμων. Sollte darunter der Freitag gemeint sein, so wäre die Umschreibung unnötig und ungeschickt Es brauchte ja nur angegeben zu werden: am Sabbat, wie denn auch der Abend vor dem Tag der Auferstehung bezeichnet wird, als Abend des Sabbats auf den ersten Tag (28, 1 ὀψὲ δὲ σαββάτων, τῇ ἐπιφωοκούσς εἰς μίαν σαββάτων). Dem [760] judenchristlichen Verf. dieses Evangeliums lag aber daran, zu erzählen, daß Jesus auch das judäische Passafest gefeiert habe, um diese Feier dem Gewissen seiner Gemeinde als wichtig und heilig zu empfehlen. Darum verwickelt er sich in einen chronologischen Widerspruch. Das Johannesevangelium dagegen, aus einem heidenchristlichen Kreise stammend und für heidenchristliche Gemeinden geschrieben, denen die jüdische Passafeier gleichgültig war, läßt das Faktum fehlen, daß Jesus das Passamahl gehalten habe, sondern stellt seine letzten Tage so dar, daß er am 13. Nissan das Abendmahl als πάσχσα τυπικόν gefeiert und am 14., an einem Freitag, gekreuzigt worden sei. Hier ist der chronologische Widerspruch bezüglich des Endes beseitigt Auch dieser Umstand beweist, daß dem Matthäusevangelium eine geschichtliche Tradition nicht zugrunde lag, sondern, daß es zu einer Zeit verfaßt wurde, als die Osterfeier, welche in den folgenden Jahrhunderten zu einem Schisma führte, bereits Gegenstand einer Differenz war.
Man kann auch konstatieren, daß dieses Evangelium in Pella, einer Stadt der Dekapolis, verfaßt wurde, wohin die geängstigten Glieder der palästinensischen Kirche während des hadrianischen Krieges sich gerettet hatten (nicht während des Krieges unter Vespasian, wie es Eusebius darstellt). Darum ist auch der griechische Stil dieses Evangeliums so barbarisch. Es war die Sprache der Juden in der Mischbevölkerung der Dekapolis.
Es kann hier nicht Gegenstand des Nachweises sein, daß dieses Evangelium sowohl in den Jesus in den Mund gelegten Parabeln, als auch in einem Teile der Bergpredigt geradezu gegen den Apostel Paulus und den Paulinismus schneidig polemisiert.
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