A. Helena.

[786] Der Proselytismus der adiabenischen Königin Helena oder vielmehr ihre Reise nach Jerusalem und ihr Aufenthalt daselbst sind bisher nicht chronologisch ermittelt und fixiert. Es ist aber nicht ohne Wichtigkeit, da sich dadurch anderweitige Fakta der judäischen Geschichte und auch der neutestamentlichen Zeitgeschichte chronologisch einreihen lassen. N. Brüll hat zwar sorgfältig eine chronologische Untersuchung über die Ereignisse, welche das adiabenische Königshaus betreffen, angestellt193. Aber gerade diesen orientierenden Punkt, Helenas Reise nach Jerusalem, hat er nicht behandelt. Auch ist er bei aller Sorgfalt für chronologische Akribie von unerwiesenen Punkten ausgegangen. So hat er Josephus' Angabe, daß der adiabenische König 24 Jahre regiert habe, angenommen und zugrunde gelegt; aber diese ist durch ihren eigenen Charakter verdächtig. Auch die numismatischen Resultate, welche er für die Chronologie der Adiabener ausnutzte, sind nicht so kritisch gesichert, daß sie zum Ausgangspunkt genommen werden könnten. Der Engländer Lindsay hat die Geschichte der Parther oder vielmehr die Diadoche der parthischen Könige aus parthischen Münzinschriften zu fixieren gesucht194. Aber Egli bemerkt mit Recht, daß Lindsay zu viel auf die Ergebnisse Longperiers gebaut hat, und daß diese keineswegs kritische Gewißheit geben195. Zuweilen wird ein chronologischer Punkt negativ fixiert: Der und der parthische König könne in der und der Zeit nicht gelebt oder nicht mehr gelebt haben, da sich von ihm aus dem und dem Jahre keine Münze finde. Zufällige Funde können also leicht das chronologische Resultat erschüttern. Man kann also auf die Ergebnisse der Numismatik allein nicht die Geschichte des adiabenischen Königshauses aufbauen. Man muß vielmehr anderweitige Angaben als Direktive oder Korrektiv dabei anwenden. Josephus besaß zuverlässige Nachrichten über die Geschichte der adiabenischen Proselyten, die er gewiß aus dem Munde der Verwandten des Königs Monobaz vernommen hatte, welche zur Zeit des Krieges gegen die Römer in Jerusalem tapfer gegen die Feinde gekämpft und als Gefangene in Rom mit ihm verkehrt haben196. Allerdings auf seine Nachricht, daß Izates vierundzwanzig Jahre regiert und vierundzwanzig Söhne und ebensoviel Töchter hinterlassen habe197, ist nicht viel zu geben, obwohl er sie aus derselben Quelle bezogen haben mag. Die Zahl 24 macht sie verdächtig. Aber seine anderweitigen Nachrichten über die adiabenisch-judäische Geschichte dürfen, wenn sie nicht kritisch angefochten werden können, als historisch gesichert angenommen und verwertet werden.

[786] Josephus gibt an zwei Stellen an, daß zur Zeit der Anwesenheit der Königin Helena in Jerusalem eine grausige Hungersnot geherrscht habe, die viele Bewohner hingerafft habe. An einer dieser Stellen gibt er keinen chronologischen Anhaltspunkt, sondern referiert, daß die Königin ihre Leute teils nach Alexandrien zum Ankauf von Getreide, teils nach Cypern zur Herbeischaffung von Feigen ausgesandt habe198. An der andern Stelle199 bezeichnet er die Zeit zwar unbestimmt, aber doch bestimmbar: daß nämlich während der Prokuratur des Tiberius Alexander eine fürchterliche Hungersnot in Judäa geherrscht habe, und daß Helena Getreide aus Ägypten zur Verteilung habe ankaufen lassen. Dieser chronologische Punkt läßt sich einigermaßen dadurch ermitteln, daß Josephus dabei erzählt: Auf Tiberius Alexander sei Cumanus gefolgt, und Herodes II. sei gestorben in Claudius' achtem Regierungsjahre, d.h. zwischen 31. Jan. 48 und 30. Jan. 49. (Vergl. o. S. 730, den Nachweis, daß Tiberius Alexander 45 Prokurator war.) Die Hungersnot in Judäa läßt sich demnach zwischen 46-48 limitieren. In dieser Zeit war Helena bereits in Jerusalem. Diese Zeit kann aber durch ein anderes Moment noch mehr limitiert werden.

Noch an einer dritten Stelle spricht Josephus nämlich von derselben Hungersnot und bestimmt ungefähr die Zeit, ohne dabei die Wohltätigkeit der Königin zu erwähnen: »Kurz vor diesem Kriege (gegen die Römer) unter Claudius' Regierung, während bei uns Ismaël Hoherpriester war und die Hungersnot unser Land ergriffen hatte« usw200. Diese Angabe enthält auf den ersten Blick einen chronologischen Widerspruch. Denn der Hohepriester Ismaël erhielt, nach Josephus, seine Würde von Agrippa II. unter Neros Regierung, während Felix Prokurator war201, etwa 59-60. Es hat allerdings noch einen Hohenpriester Namens Ismaël und auch mit dem Beinamen Phiabi oder Phabi gegeben. Aber dieser kann hier nicht gemeint sein, da er mindestens dreißig Jahre vorher im Beginne von Tiberius' Regierung fungiert hat. Dieser Widerspruch kann indessen leicht gehoben werden, da Ismaël I. zweimal Hoherpriester war (o. S. 723, 726, 736).

Es ist also konstatiert, daß im Jahre 48, während Ismaëls Pontifikats, Helena bereits in Jerusalem war. In welchem Jahre ist sie aber dahin gekommen? Oder in welchem Jahre erfolgte die Bekehrung des adiabenischen Königshauses? Josephus flicht die Geschichte derselben innerhalb Fadus' Prokuratur 44-45 ein. N. Brüll hat Izates' Thronbesteigung um 36 angesetzt, weil er dessen 24 jährige Regierungszeit als gesichert hielt und dessen Tod um 60 ansetzte. Indessen, wie schon angegeben, ist diese Zahl zweifelhaft. Nur so viel ist gewiß, daß Izates um 40 bereits König war, da der Partherkönig Artaban infolge der Ränke an seinem Hofe zu Izates [787] Zuflucht nahm und, laut Inschriften, bereits im Jahre 41 gestorben war. Im Jahre 43 regierte Vardanes, nachdem er sich vorher mit seinem Bruder Gotarzes ausgesöhnt hatte202. Dieser Vardanes, welcher auf die Eroberung Armeniens ausging, das unter römischen Schutze stand, forderte Izates auf, mit ihm gemeinschaftlich die Römer zu bekämpfen. Izates lehnte aber die Teilnahme ab. Er machte geltend, daß seine Mutter mit seinen fünf unmündigen Söhnen in Jerusalem weile, es sei daher für ihn gefährlich, mit den Römern anzubinden, da die Seinigen in einem den Römern unterworfenen Lande lebten203. Tacitus erzählt nun, Vardanes würde Armenien überfallen haben, wenn er nicht von dem Legaten Vibius Marsus zurückgehalten worden wäre, der ihn mit Krieg bedrohte204. Nun war Marsus nur von 42-44 Legat von Syrien. Denn gleich nach Agrippas I. Tod entfernte ihn Claudius von der syrischen Statthalterschaft, aus wohlwollender Erinnerung an den verstorbenen judäischen König, welcher ihn öfter ersucht hatte, seinen Feind Marsus abzuberufen205. Vardanes' beabsichtigter Angriff auf Armenien und die Aufforderung an Izates, ihm beizustehen, fallen also nur während Marsus' Statthalterschaft in Syrien, d.h. zwischen 42-44, oder richtiger zwischen 43-44, da Vardanes sich erst im Jahre 43 mit seinem Bruder Gotarzes ausgesöhnt hatte und unbestrittener Herrscher von Parthien geworden war. Damals war also Helena bereits mit ihren fünf Enkeln in Jerusalem. Daraus folgt, daß sie spätestens 43 nach Jerusalem gekommen war. Der Krieg zwischen Izates und dem Araberkönig Abia und dem Partherkönig Vologäses erfolgte jedenfalls erst nach Helenas Reise nach Jerusalem. Wenn nun in der Mischna (Nasir III, 6) angegeben ist, Helena habe gelobt, 7 Jahre das Nasiräergelübde auf sich zu nehmen, falls ihr Sohn glücklich vom Kriege heimkehren würde, und sie habe dann nach glücklichem Erfolge das Gelübde erfüllt und sei nach Ablauf der 7 Jahre nach Palästina gereist, so kann es sich keineswegs auf diesen Krieg beziehen, sondern muß auf einen früheren hinweisen, wenn die Tradition überhaupt mit allen Umständen zuverlässig ist. Denn die Zahl Sieben macht sie verdächtig. Die talmudischen Berichte geben ihr sieben Söhne, während Josephus nur von ihren fünf Enkeln weiß, und zwar von unmündigen. Andere Quellen machen gar daraus sieben gelehrte Söhne ידימלת םינב העבש םימכח206. Diese Tradition kann also für die Fixierung der Chronologie gar nicht in Betracht kommen. Es ist also so gut wie gewiß, daß Helena um 43 bereits in Jerusalem weilte und noch da war, als die Hungersnot im Jahre 48 wütete. Sie blieb überhaupt da bis nach Izates' [788] Tode207. Sie lebte demnach in Jerusalem noch zur Zeit Agrippas I., was wohl zu merken ist.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1906, Band 3.2, S. 786-789.
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