18. Das Buch Daniel.

[413] Daß die Danielsche Apokalypse die Drangsalszeit des Antiochos Epiphanes zum Hintergrunde hat, braucht gegenwärtig ebensowenig bewiesen zu werden, wie etwa daß Deutero-Jesaia die Exilszeit reflektiert. Porphyrius war übrigens nicht der erste, der diesen Hintergrund erkannt hat, sondern Josephus sah in dem kleinen Horne, welches den Tempel entweihen und das Opfer aufheben werde, den Tyrannen Antiochos Epiphanes (Altert. X, 11, 7): καὶ δὴ ταῠτα ἡμῶν συνέβƞ τῷ ἔϑνει παϑεῖν ὑπ᾽ Ἀντιόχου τοῠ Ἐπιφανοῠς, καϑὼς εἶδεν ὁ Δανιῆλος. Nur sah er darin eine wirkliche Prophezeiung. Porphyrius, welcher Josephus' Schriften gelesen und benutzt hat, ist ohne Zweifel durch ihn darauf geführt worden, in Daniel ein Vaticinium ex eventu zu erkennen und es in diesem Sinne auszulegen. Auch der Talmud bezog einen Ausspruch in Daniel auf das Aufstellen des Götzenbildes auf den Altar unter Antiochos.

Indessen so sehr auch der größte Teil der Danielschen Apokalypse ein retrospektives Vaticinium ist, so ist doch manches darin geradezu echt prophetisch. So z.B. die öfter ausgesprochene Erwartung, daß die Entweihung oder das Aufhören der täglichen Opfer nur »eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit« d.h. 31/2 Jahr dauern werde. Der chassidäische Verf. schrieb das Buch, als Antiochos die Kunde zugekommen war, daß Arsaces von Parthien und Artaxias von Armenien von ihm abgefallen waren, und er zu einem Kriege gegen sie rüstete oder gegen sie auszog (Daniel 11, 44): הלודג אמחב אציו ןופצמו חרזממ יהלהבי תועמשו דימשהל, das geschah wohl 146 oder 147 Sel. 167 oder 166, also jedenfalls mehr als ein Jahr vor der Tempelentweihung, welche 148 Sel. Ende 165 stattfand. Die Entweihung hatte also noch kaum 3 Jahre gedauert, und doch verkündete das Buch, daß sie sich nicht länger als 31/2 Jahr hinziehen werde. Auch die Verkündigung, daß Antiochos Epiphanes von seinem Kriegszuge gegen Osten und Norden, d.h. gegen Parthien und Armenien, nicht zurückkehren, sondern dort sein Ende finden werde (das. V. 45): ןיאו וצק דע אבו ול רזוע, ist prophetisch und hat sich erfüllt. Das Buch gibt selbst an, daß es die Zukunft prophezeien will, indem es öfter hervorhebt, die prophetische Vorschau habe noch nicht aufgehört, sondern bestehe noch fort (10, 14): םימיה תירחאב ךמעל הרקי רשא תא ךניבהל יתאבו םימיל ןזח דוע יכ. (V. 11, 27) דעומל ץק דוע יכ muß man wohl lesen דעומל ןוזח דוע. Die Frommen waren beim Beginn der Drangsale darum so verzagt, weil es keinen Propheten gab und keinen, welcher das Ende der Leiden verkündete (Ps. 74, 9): ונתא אלו איבנ דוע ןיא המ דע עדוי. Auf diese schmerzliche Klage antwortete der Verf. des Buches Daniel: »Es gibt noch ein Gesicht für die Tage oder für das Ende.«

Einige noch unerledigt gebliebene dunkle Punkte zur Erklärung des Textes mögen hier beleuchtet werden. Angegeben ist (7, 8 f., 24), daß auf das dritte[413] Reich (Alexander) ein viertes Reich entstehen werde, symbolisiert unter zehn Hörnern, weil zehn Könige von diesem Reiche aufstehen werden: הנמ רשע אינרקו ןומקי ןיכלמ הרשע אתוכלמ. Auf diese zehn werde ein elfter König, das kleine Horn, folgen, welches Drangsale über das heilige Volk bringen werde. Wie aber diese zehn oder richtiger elf Könige des seleuzidischen Reiches zu zählen seien, ist den Auslegern rätselhaft geblieben. Denn es sind von Seleukos Nikator allenfalls bis Antiochos Epiphanes inklusive nur neun Könige aufeinander gefolgt, selbst wenn man Antiochus Hierax mitrechnet. Porphyrius selbst war ebenfalls bezüglich dieser Zahl in Verlegenheit und hat sie deswegen auf zehn schlimme Könige, aus den verschiedenen Reihen der Diadochen ausgewählt, bezogen. Hieronymus z. St. Porphyrius ... decem reges enumerat qui fuerunt saevissimi, ipsosque reges non unius ponit regni v.e. Macedoniae, Syriae, Asiae et Aegypti, sed de diversis regnis unum efficit regum ordinem. Ihm sind einige Ausleger der Neuzeit gefolgt. Diese Deutung ist entschieden falsch; denn die zehn oder elf Könige sollen aus einem und demselben Reiche hervorgehen oder vielmehr es konstituieren. Um dieser Verlegenheit zu entgehen, haben andere Ausleger auch Heliodor hineingezogen, den Usurpator, obwohl er kaum den seleuzidischen Thron eingenommen hat, ferner noch Demetrios, obwohl er erst nach Antiochos Epiphanes regiert hat, und endlich gar Ptolemäus Philometor, obzwar er gar nicht der seleuzidischen Dynastie angehört hat. Die Zählungsweise ist aber einfach, wenn man sich nicht auf die Seleuziden beschränkt, sondern auf die Nachfolger Alexanders in dem Reiche, welches aus Asien und Syrien zusammengesetzt war. Dieses Reich hatte bis auf Antiochos Epiphanes (exklusive) zehn Herrscher. Porphyrius selbst zählt sie in seiner Chronik (bei Müller, frag. hist. Graec. III. p. 716) folgendermaßen auf: Εἰσὶ σὺν ἀφεξῆς Ἀσίας καὶ Συρίας βασιλεῖς οἵδε:

1. Ἀντίγονος; 2. Δƞμἠτριος; 3. Σέλευκος ὁ Νικάνωρ; 4. Ἀντίοχος ὁ Σωτἠρ; 5. Ἀντίοχος ὁ Θεός; 6. Σέλευκος ὁ Καλλίνικος: 7. Σέλευκος ὁ Κεραυνός; 8. Ἀντίοχος ὁ Μέγας; 9. Σέλευκος ὁ Φιλοπάτωρ. Darauf folgt Antiochos Epiphanes. Zählt man Antiochus Hierar dazu, welcher einige Jahre gleichzeitig mit seinem Bruder Seleukos Kallinikos regierte und von diesem selbst als Selbstherrscher anerkannt war (Justinus 27, 2; Porphyrius, fragment. a.a.O. S. 710), so hat man ungezwungen die Zehnzahl der »Könige des Nordens«, d.h. Asiens und Syriens und als elften Antiochos Epiphanes. Der Verf. von Daniel hat also Antigonos und Demetrios Poliorketes mit gerechnet, und auch Antiochos Hierar; er war dem nach mit der Geschichte dieses Reiches vertraut.

In der Chronologie dagegen zeigt er Ungenauigkeit. Er zählt von der Tempelzerstörung bis zum Aufhören der Entweihung 70 Jahrwochen 490 Jahre. Die Zeit aber dauerte nur 410 Jahre, also um 80 zu viel. Richtig gibt er zwar an, daß das Exil nur 7 Jahrwochen 49 Jahre dauern werde – von der Zerstörung 586 bis zur Rückkehr 537 = 49 Jahre. Eine Jahreswoche 7 J. setzt er auf die Begünstigung der Bundesübertreter von seiten des Antiochos, wovon eine halbe Jahrwoche auf die Entweihung kommen würde. Auf die Zwischenzeit von der Rückkehr bis auf den Tod des gesalbten Fürsten – Onias III. 172 – zählt er die noch fehlenden 62 Jahrwochen = 434 Jahre. Darin zeigt sich aber die Ungenauigkeit. Indessen war Josephus über die Dauer dieser Zeit ebenfalls nicht orientiert. Vergl. darüber Schürer, Lehrbuch der neutestam. Zeitgeschichte, S. 84 f.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1902], Band 2.2, S. 413-415.
Lizenz:
Faksimiles:
413 | 414 | 415
Kategorien:

Buchempfehlung

Chamisso, Adelbert von

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon