18. Kapitel. (257-320.)

[288] Babylonische Amoräer des zweiten Geschlechtes: R. Huna in Sura, R. Juda in Pumbadita, R. Chasda in Kafri und Sura, R. Nachman in Schekan-Zib. R. Seïra, das Verbindungsglied zwischen Judäa und Babylonien.


Mit dem Tode Rabs und Samuels, der beiden Begründer der regen Lehr- und Lerntätigkeit in Babylonien, nahm diese Regsamkeit und Rührigkeit noch zu. In dem halben Jahrhundert ihrer Wirksamkeit hatte die Gesetzeskunde so tiefe Wurzel geschlagen, daß ihre Pflanzung in dem fremden Erdreiche noch besser gedieh, als in dem heimischen Boden. Ein lebendiger, unverwüstlicher Wetteifer, sich die Halachakunde anzueignen und das Leben nach dieser Norm zu regeln, ergriff alle Klassen der Bevölkerung. Die größte Ehre bestand darin, als Gesetzeskundiger (Zorbame-Rabbanan) anerkannt zu werden, wie die größte Schande, zu den Unwissenden gezählt zu werden. Die ehemalige Unsittlichkeit schwand im jüdischen Babylonien immer mehr mit der grellen Unwissenheit, und das häusliche wie öffentliche Leben gestaltete sich nach dem Ideale, welches die zwei großen Schulhäupter, Rab und Samuel, so begeistert gelehrt hatten. Babylonien nahm in vielen Beziehungen den Charakter des heiligen Landes an, selbst in betreff der Priesterabgaben,1 welche man jedoch den Gesetzeslehrern zugewendet zu haben scheint2; die Wissenschaft stand höher als das Priestertum. Babylonien war ein förmlicher jüdischer Staat geworden, dessen Verfassungsurkunde die Mischna war, dessen öffentliche Träger der Exilsfürst und die Kallaversammlungen waren. Dieser höhere Aufschwung teilte sich auch den Exilsfürsten mit, auch sie eigneten sich Gesetzeskenntnis an. Nehemia und Ukban, die Enkel Rabs, welche mit ihrem Vater Nathan in diesem Geschlechte als Resch-Galuta genannt werden,3 erhielten wegen ihrer Vertrautheit mit der Halacha auch den Ehrentitel Rabbana.4 Diese [288] freudige Regsamkeit, welche alle Schichten der jüdisch-babylonischen Bevölkerung durchdrang und davon Zeugnis ablegte, daß das Judentum nicht erstorben war, sondern Jugendkraft genug besaß, neue Blüten zu treiben, wurde von den Nachfolgern Rabs und Samuels auf das Kräftigste gefördert. Die hervorragendsten derselben waren R. Huna, welcher, als Vorsteher der suranischen Akademie, zugleich als religiöses Oberhaupt in und außerhalb Babyloniens anerkannt war; ferner R. Juda ben Jecheskeël, der ein neues Lehrhaus in Pumbadita gründete und auch in das Halachastudium eine neue Methoda einführte; R. Nachman ben Jakob, welcher nach der Zerstörung Nahardeas (259) sein Lehrhaus nach Schekan-Zib am Tigris verlegte, endlich R. Chasda, R. Scheschet und Rabba bar Abbahu. Fast alle diese Amoräer hatten eine eigene Richtung und brachten in den engen Lehrkreis der babylonischen Hochschulen Mannigfaltigkeit und Abwechslung.

R. Huna (geboren um 212, starb 297) aus Dio Kart,5 Nachfolger Rabs in Sura, war die Autorität dieses Zeitalters, dem sich, wie bereits erzählt, die judäischen Amoräer freiwillig unterordneten. Seine Lebensgeschichte gibt zugleich ein vollendetes Charakterbild der Zeit und beweist, wie der unermüdete Eifer für die Lehre Hand in Hand mit weltlicher Beschäftigung, mit Ackerbau und anderen Erwerbstätigkeiten ging. R. Huna war, obwohl mit dem Exilsfürsten verwandt,6 doch von Haus aus nicht reich. Er bestellte seinen kleinen Acker selbst und schämte sich der Arbeit nicht. Verlangten ihn Parteien zum Richter, so pflegte er ihnen zu bemerken: »Stellt mir einen Mann zur Feldarbeit, so will ich euer Richter sein«.7 Oft kehrte er vom Felde mit dem Spaten auf der Schulter heim. So erblickte ihn einst der reichste Mann in Babylonien, Chana ben Anilaï, der zugleich auch der wohltätigste und freigebigste war. Dieser Chana hat in der Ausübung der jüdischen Tugend, Vater der Armen zu sein, das Ideal erreicht. In seinem Hause wurde Tag und Nacht für Arme gebacken, an jeder Seite desselben waren Türen angebracht, durch welche die Dürftigen eintreten konnten, und wer hungrig in sein Haus kam, verließ es satt. Ging Chana aus, so hielt er seine Hand stets im Geldbeutel, damit er einen verschämten Armen auch nicht so lange in der peinlichen Lage zu lassen brauche, bis er die Münze ausgesucht. Zur Zeit der Hungersnot ließ er bei Nacht Weizen und Gerste für diejenigen hinlegen, welche das Ehrgefühl verhinderte, sich unter die Bettler zu mischen. [289] War eine außerordentliche Steuer nötig, so war man sicher, daß sich Chana daran mit einer hohen Summe beteiligen würde.8 Bei diesem ungewöhnlichen Reichtume war dieser Wohltäter so bescheiden, daß er aus Verehrung vor dem Schulhaupte R. Huna ihm den Spaten abnehmen wollte, so oft er ihn damit von der Feldarbeit heimkehren sah. Allein R. Huna gab es nie zu: »Du bist nicht gewöhnt, in deinem Orte so etwas zu tun, so leide ich es auch hier nicht«.9

Später erlangte R. Huna Reichtümer, seine Felder ließ er durch Arbeiter bestellen, die einen Teil der Ernte bezogen; seine Herden weideten in den Steppen Südbabyloniens.10 Der Volksglaube konnte sich diesen so hoch gestiegenen Wohlstand nicht anders erklären, als durch den Umstand, daß Rab es ihm gewünscht hätte. Als er seinen Sohn Rabba verheiratete und auf einem Ruhebette lag, wurde R. Huna von den Seidengewändern seiner Töchter und Schwiegertöchter ganz verdeckt, weil er von Statur klein war. Man erinnerte sich bei dieser Gelegenheit, daß Rab ihm einst gewünscht: »Mögest du von Seide verdeckt werden«.11 Von seinem Reichtum machte er den edelsten Gebrauch. An stürmischen Tagen, wenn die Winde, die aus der syrischen Wüste wehten, Verheerungen und Verschüttungen anzurichten pflegten, ließ er sich in einer Sänfte umhertragen, um die Häuser der Stadt Sura in Augenschein zu nehmen und jede wankende Mauer niederreißen zu lassen; war es der Eigentümer nicht imstande, so ließ er die eingerissenen Gebäude aus eigenen Mitteln wieder aufbauen. Zur Stunde der Mahlzeit ließ er alle Türen seines Hauses öffnen und laut verkünden: »Wer bedürftig ist, der komme, um sich zu sättigen«.12 Noch andere Züge aufmerksamer, eifriger Wohltätigkeit werden von ihm erzählt. Die bedürftigen Schüler seines Lehrhauses, das in der Nähe Suras lag,13 deren Zahl nicht gering war, wurden in den Lehrmonaten auf seine Kosten verpflegt; 800 Zuhörer nahmen an seinen Vorträgen Anteil; dreizehn Erklärer brauchte er, die, an verschiedenen Punkten des Lehrhauses verteilt, allen das Vorgetragene hörbar und verständlich machten. Von einer aufwirbelnden Staubwolke sagte man in Judäa hyperbolisch: »Die Schüler R. Hunas stehen von ihren Sitzen auf und schütteln ihre Mäntel aus, daher der Staubwirbel«.14 Die [290] hohe Verehrung, welche sein edler Charakter, seine Gelehrsamkeit und seine Bescheidenheit seinen Freunden einflößte, machte sie indes nicht blind gegen seine Vergehen, wenn sie auch noch so gering waren. Die Gesetzeslehrer stellten aneinander die strengsten Anforderungen und waren unnachsichtig gegen denjenigen, welcher hinter dem Ideale der Lehre zurückblieb. Als R. Huna einst von der Kalamität betroffen wurde, daß sein bedeutender Weinvorrat sauer geworden war, hießen ihn seine Verehrer in sich gehen und sich prüfen, ob es nicht eine gerechte Strafe für sein Vergehen sei, daß er seinen Feldarbeitern den Anteil an dem Rebenholz vorenthalten und sie dadurch zum Stehlen verleite.15

Unter R. Huna erhielt das öffentliche Leben in Babylonien, das im innigsten Zusammenhange mit dem Lehrhause stand, diejenige Einrichtung und Benennung, welche sich fast 800 Jahre erhalten haben. Allmählich und unwillkürlich gestaltete sich eine Rangstufe über- und untergeordneter Würden. Die Lehrversammlung, die, wie schon erwähnt, an bestimmten Monaten des Jahres zusammenkam, hieß Metibta (Lehrsitzung), der Leiter derselben Resch-Metibta (Rektor). Dem Vorsitzenden im Range zunächst standen die Resche-Kalla, deren Funktion war, in den drei ersten Wochen der Kallamonate das Thema zu erläutern, worüber der Resch-Metibta Vorträge halten sollte. Von den Lehrämtern waren die Richterämter verschieden; da der Gerichtsplatz noch immer nach altem Brauch vor den Stadttoren war, so führten die Richter davon den Namen Dajane di-Baba (Torrichter). Sie waren nach der theoretischen Seite von dem Resch-Metibta, nach der praktischen von dem Resch-Galuta abhängig und von ihm ernannt.

Vierzig Jahre stand R. Huna seiner Metibta vor und durch seine unbestrittene Autorität erlangte Babylonien die völlige Unabhängigkeit von Judäa. Er führte kühn den Grundsatz aus, den sein Lehrer Rab nicht durchsetzen konnte, Babylonien in gesetzlicher Beziehung Judäa ebenbürtig zu machen. R. Huna stellte zuerst den Grundsatz auf: »Wir betrachten uns in Babylonien ganz wie im heiligen Lande«.16 Den letzten Faden, der die Exilsländer an das Mutterland geknüpft hatte, zerriß er, oder richtiger, er lieh nur den Tatsachen den Ausdruck; denn tatsächlich war Babylonien Judäa überlegen. Nur ehrenhalber, oder wenn man für eine Ansicht eine höhere Sanktion wünschte, ließ man sich in Babylonien ein gutachtliches Sendschreiben aus dem heiligen Lande kommen.17 In Babylonien [291] hatte während R. Hunas Wirksamkeit die suranische Metibta die Hegemonie.

R. Huna hinterließ seinen Ruhm und seine Tugenden seinem Sohne Rabba und starb, über achtzig Jahre alt, eines plötzlichen Todes (297).18 Seinen Überresten erwiesen Freunde und Schüler die höchsten Ehren. Die Gedächtnisrede eröffnete man mit den Worten: »R. Huna war würdig, daß der heilige Geist auf ihm ruhe.« Seine Leiche führte man, wahrscheinlich seinem letzten Willen gemäß, nach Judäa, wo die angesehensten Männer, wie R. Aßi und R. Ami, ihr entgegengingen, und sie in der Begräbnisgrotte R. Chijas beisetzen ließen, weil beide Babylonier waren. An R. Chijas Grab hatte die dankbare Nachwelt schon soviel Wunder geknüpft und die Scheu vor demselben war so groß, daß niemand sich in die Grabesgrotte mit R. Hunas Leiche hineinwagen mochte. R. Chaggaï, ein achtzigjähriger Greis, übernahm das Wagestück, ließ sich aber ein Seil an die Füße binden, um aus der Grotte herausgezogen zu werden.19 Was früher eine Seltenheit war, in der heiligen Erde Judäas begraben zu sein, das wurde allmählich eine fromme Sitte. Man legte dieser Erde sühnende Kraft bei und erwartete von da aus zuversichtlich die Auferstehung und das Messiasreich. Die im unheiligen Auslande Verstorbenen hingegen würden sich in leichter, lockerer Erde bis nach dem heiligen Lande wälzen und dort erst ihre Wiederbeseelung empfangen. Judäa, das täglich an Bevölkerung und lebendiger Kraft abnahm, wurde immer mehr von Leichen bevölkert. Das heilige Land, früher ein weiter Tempel, der zu großen Gedanken und Taten begeisterte, war ein heiliges Grab, welches nur noch den Tod zu weihen vermochte. Von der Fülle ehemaliger Heiligtümer, war nur noch der Staub Gegenstand der Verehrung. Der ganze mittlere Strich von Judäa, das Königsgebirge war so ausschließlich von Heiden bewohnt, daß man ihn frei von Priesterabgaben erklären wollte. Einige behaupteten, daß zu dieser Zeit in Judäa überhaupt mehr Heiden als Juden wohnten.20

Das ergänzende Gegenstück zu R. Huna war sein jüngerer Genosse R. Juda ben Jecheskeël (geb. 220, gest. 299). Obwohl Zuhörer Rabs, hatte er sich doch mehr an Samuel gehalten, dessen Eigentümlichkeit er fortbildete. R. Juda war überhaupt ein scharf ausgeprägter Charakter von hoher Begabung, aber auch von so vielen Ecken und Kanten, daß er an Persönlichkeiten und Verhältnisse derb [292] anstieß. Sprößling einer uralten jüdischen Familie, die vielleicht ihren Stammbaum bis auf biblische Familien zurückzuführen vermochte, war er im Punkte des Geschlechtsadels und der unvermischten Abstammung außerordentlich peinlich und empfindlich. Ein Freund der Einfachheit in allen Dingen, war er heftig und verletzend gegen diejenigen, welche die künstliche Verfeinerung vorzogen. Ein Verehrer des heiligen Landes äußerte er sich dennoch tadelnd über diejenigen, welche Babylonien verließen, um sich in den judäischen Schulen auszubilden, und war unerbittlich gegen diejenigen seiner Freunde und Schüler, welche dem Auswanderungszu ge dorthin folgten.21 R. Juda gründete zuerst ein Lehrhaus in Pumbadita, das seit der Zerstörung Nahardeas der Mittelpunkt für Nordbabylonien wurde, wie Sura für den Süden. Die pumbaditanische Metibta, die unter R. Juda nur den zweiten Rang nach Sura einnahm, schwang sich später zur ersten Hochschule empor, behauptete ihren Vorrang mit einigen Unterbrechungen nahe an acht Jahrhunderte und war gleichsam das letzte Überbleibsel des jüdischen Altertums, welches mit noch frischen Augen das Anbrechen einer neuen Zeit erblickte.

Dem Volkscharakter seiner Vaterstadt treu, herrschte in R. Juda der Verstand über das Gemüt so sehr vor, daß er nur einen Tag im Monat dem Gebete weihte, die ganze übrige Zeit hingegen der Gesetzesforschung oblag.22 Samuel schon zeichnete ihn als »den Scharfsinnigen« aus,23 und er wurde der Schöpfer jener scharfsinnigen Dialektik, die in früheren Zeiten auf judäischem Boden eine vorübergehende Erscheinung, in Babylonien heimisch und gangbar geworden ist. Diese Dialektik unterschied sich wesentlich von der tannaitischen; sie ging auf den Kern des Themas ein, während jene an Formeln der Deutungsregeln haftete. R. Judas Vorträge bewegten sich meist auf dem Gebiete der Rechtslehre, weil hier scharfsinnige Vergleichungen und Unterscheidungen, Schlußfolgerungen und Anwendungen am Platze sind, und Theorie und Praxis sich die Hand bieten. Die übrigen Teile der Mischna sind in R. Judas Metibta vernachlässigt worden, ja er empfand eine Art Scheu, an solche Teile der Mischna zu gehen, welche Halachas der außer Brauch gekommenen levitischen Reinheitsgesetze behandeln.24 Der reiche Gesetzesstoff schrumpfte unter R. Juda in den kleinen Kreis zusammen, der für die Wirklichkeit und das alltägliche Leben Anwendung finden konnte. Alle diejenigen Überlieferungen, die sich auf das ehemalige glanzvolle Tempelleben beziehen. [293] oder die phantasiereiche Hoffnung auf die Wiedergeburt des Messiasreiches erwecken, hatten für den nüchternen Sinn R. Judas nicht Bedeutung genug, daß er sich mit ihnen in dem Lehrhause beschäftige. Es war dies allerdings eine Art Neuerung, gewissermaßen eine Auswahl aus dem gehäuften Material der Gesetze zu treffen. Indessen galt diese Auswahl nur für die Lehrvorträge der feierlichen Metibta; privatim beschäftigte sich R. Juda hingegen mit dem ganzen Umfange der empfangenen Mischna, welche er von dreißig zu dreißig Tagen zu wiederholen pflegte.25 Er führte in die Traditionen sogar die Genauigkeit ein, nicht bloß den Inhalt der Überlieferung, sondern auch die Namen der Überlieferer und in zweifelhaften Fällen auch die Zweifel über die Namen gewissenhaft mitzuteilen.26 Dennoch verdächtigte merkwürdigerweise gerade sein Bruder Rami (R. Ami) die von ihm mitgeteilten Traditionen und strafte ihn geradezu Lügen. »Glaubt nicht«, bemerkte er öfter, »den Aussprüchen, die mein Bruder Juda im Namen Rabs oder Samuels mitteilt; sondern so und so ist es überliefert worden«.27 Auch in einer andern Beziehung war Rami ein Gegner seines Bruders; er verließ Babylonien und wanderte nach Judäa aus,28 obwohl sein Bruder solches als ein nicht geringes religiöses Vergehen betrachtete und streng rügte. Selbst die Rückkehr der babylonischen Exulanten unter Zerubabel und Esra galt in seinen Augen als eine Gesetzesverletzung, die besser ungeschehen geblieben wäre, da der Prophet Jeremias den Verbannten eingeschärft hätte, sie sollten auch in Babylonien sterben. Er entschuldigt den frommen Esra und dessen Auswanderung nur damit, daß er die Familien zweifelhafter Abstammung nach Judäa führte, damit die Zurückbleibenden von Vermischung mit denselben fern gehalten bleiben könnten.29

Die Strenge in betreff der Geschlechtslauterkeit war, wie schon erwähnt, eine andere Eigentümlichkeit R. Judas. Er war in diesem Punkte so peinlich, daß er seinen Sohn Isaak lange über die Zeit der Mannbarkeit hinaus nicht verheiraten mochte, weil er nicht gewiß war, ob die Familie, aus welcher er ihm eine Gattin zuführen würde, über alle Anfechtung makellos wäre. Treffend bemerkte ihm hierauf sein Freund Ulla: »Wissen wir denn bestimmt, ob wir nicht von den Heiden abstammen, welche bei der Belagerung Jerusalems die Jungfrauen [294] in Zion geschändet?«30 Diese Peinlichkeit in bezug auf den Geschlechtsadel verursachte R. Juda manche Verdrießlichkeiten. Einst kam ein angesehener Mann aus Nahardea nach Pumbadita, der von den Hasmonäern, vielleicht von dem unglücklichen König Hyrkan II., der einige Jahre in Babylonien gelebt hat, abstammen wollte. Den Nahardeaner, welcher mit den angesehensten Familien seines Wohnortes verschwägert war, verdroß es, daß man bei allen Gelegenheiten R. Juda ben Jecheskeël den Vorzug einräumte und äußerte sich einst spöttisch: »Wer ist denn dieser Juda ben Jecheskeël?« Als diese Äußerung R. Juda zu Ohen kam, legte er ihn dafür in den Bann, und als er gar hörte, daß dieser Nahardeaner alle Welt Sklaven nannte, ließ er sich von der Heftigkeit hinreißen, ihn öffentlich als einen Abkömmling von Sklaven zu brandmarken. Der Beschimpfte beklagte sich hierüber bei R. Nachman, dem Schwiegersohne des Exilsfürsten, und dieser, ebenso stolz, als R. Juda heftig war, sandte diesem eine Vorladung zu, sich bei ihm zur Rechtfertigung einzustellen. Das Oberhaupt von Pumbadita war nicht wenig erstaunt, dem jüngeren, minder bedeutenden R. Nachman Rechenschaft über seine Handlungen geben zu müssen. Aber R. Huna, den er zu Rate gezogen, stimmte ihn zur Nachgiebigkeit aus Rücksicht auf den Exilarchen. Am anberaumten Tage erschien er bei Nachman, Bitterkeit im Herzen; die Heftigkeit des einen und der Stolz des andern stießen aneinander. An jedem Worte, das R. Nachman an ihn richtete, nahm er Anstoß, besonders weil jener eine gehobene Sprache in regelrechten Wendungen führte, die R. Juda als Affektation und Hochmut tadelte. Endlich fragt ihn R. Nachman ironisch, was er denn eigentlich bei ihm wolle, da er an ihm soviel auszusetzen habe. Näher auf die Sache eingehend, fuhr er fort: »Ich habe mir deswegen erlaubt, dich vorzuladen, damit die Welt nicht sage, die Gesetzeslehrer seien parteiisch füreinander.« Als R. Juda seine Rechtfertigungsgründe geltend machte, entgegnete der Kläger: »Mich stempelt man zum Abkömmling von Sklaven, mich, der ich von den Hasmonäern abstamme!« Das war Zündstoff für R. Juda: »Da haben wirs,« erwiderte er heftig, »Samuel hat uns überliefert, wer sich rühmt von Hasmonäern abzustammen, der ist als Abkömmling von Herodes zu betrachten, der ein Sklave des hasmonäischen Hauses war; denn die letzte reine Hasmonäerin war jene junge Frau (Mariamne), die vor ihrem Tode laut alle angeblichen Abkömmlinge der Hasmonäer fortan gebrandmarkt hat«. R. Judas Ausspruch, gestützt auf Samuels Autorität und auch von anderer Seite bezeugt, schien so gewichtig, daß auch R. Nachman sich genötigt sah, die unechte Abstammung dieses vorgeblichen Hasmonäers [295] öffentlich bekannt zu machen. Mehrere adelige Familien, die mit dessen Hause verschwägert waren, lösten infolgedessen die Ehen auf. Diese Bloßstellung betraf aber mehrere nahardeanische Familien; es entstand ein Volksaufstand gegen den strengen Familienzensor, man wollte ihn sogar steinigen. Allein R. Juda, von der Gefahr keineswegs zurückgeschreckt, fügte eine neue Drohung hinzu: »Wenn ihr euch nicht mäßigt, so werde ich noch andere unangenehme Geschlechtsgeheimnisse enthüllen«. Aus Furcht warfen die Unzufriedenen ihre Steine in den Kanal, und soviel waren der Steine, die gegen ihn erhoben waren, daß davon eine Stockung in Naharmalka entstanden sein soll.31 Nach Pumbadita zurückgekehrt, offenbarte R. Juda die unlautere Abstammung mehrerer bis dahin geachteter Familien. Seine Strenge traf auch einen Bati ben Tabi, einen freigelassenen Sklaven. Bati gehörte zu jenem Schlage Niedriggeborener, die durch Gewandtheit und Geistesüberlegenheit von Lieblingen ihrer Herren deren Beherrscher werden und die es bis zu Räten von Königen bringen und Regenten und Staaten ihren Willen aufzwingen. Bati war ein Günstling des Königs Schabur32 und dadurch auch beim Volke angesehen und gesucht. Trotz des Adelstolzes mochten einige Familien ihn an ihr Haus gefesselt haben. Gegen diesen ließ R. Juda öffentlich bekannt machen: »Bati ben Tabi ist noch als Sklave zu betrachten, weil er in seinem Hochmut noch nicht den Freibrief von seinem ehemaligen Herrn empfangen hat«.33 Welche Folgen dieser Schritt, zu welchem nicht wenig Mut erforderlich war, für den Urheber hatte, wird nicht erzählt. – Wegen seiner tiefen Kenntnisse, seines Scharfblickes und seines Charakters genoß R. Juda in und außerhalb Babyloniens unbestrittenes Ansehen. Als R. Huna gestorben war, wählte ihn die suranische Metibta zu ihrem Oberhaupte (297); unter ihm und seinen Nachfolgern gab es nur ein einziges, von allen anerkanntes Lehrhaus.34 Auch in Judäa wurde R. Judas Autorität gewürdigt. Er hatte einst ein angesehenes Metibtamitglied in den Bann getan, weil dessen Ruf anrüchig war. Freimütig äußerte er sich gegen diesen, als er von ihm in seiner letzten Krankheit besucht wurde: »Ich bin stolz darauf, auch einen Mann deinesgleichen nicht aus Rücksicht geschont zu haben.« Da R. Juda starb, ohne jenen Bann gelöst zu haben, so mußte dem in solchen Fällen herrschenden Herkommen gemäß an den Patriarchen appelliert werden. R. Juda III., an den diese Angelegenheit gewiesen wurde, übergab sie R. Ami, [296] welcher jedoch den Bann nicht aufheben mochte, den R. Juda verhängt hatte.35 Nur zwei Jahre funktionierte er nach dem Tode Hunas als allgemeiner Resch-Metibta und starb in hohem Alter.36

An R. Judas Stelle wählte das Kollegium den achtzigjährigen Greis R. Chasda aus Kafri (geb. 217, gest. 309). Als Jünger Rabs hatte er für seinen Lehrer eine so außerordentliche Verehrung, daß er alle seine Aussprüche seinem Gedächtnis einprägte, und demjenigen ein Doppelgeschenk zu geben versprach, der ihm etwas Unbekanntes von seinem »großen Lehrer«, wie er ihn nannte, mitteilen würde.37 R. Chasda wird als der glücklichste Amora gepriesen. Er erreichte ein sehr hohes Alter, hatte mehrere Söhne und zwei Töchter, die er an zwei Brüder, namhafte Amoräer, an Mari und Ukba, Söhne Chamas, verheiratete, von denen er Enkel und Urenkel hatte.38 Von Haus aus arm, wurde er mit so außerordentlichen Glücksgütern gesegnet, daß sein Reichtum sprichwörtlich geworden war. Sechzig Hochzeiten feierte er in seinem Hause, und keines seiner Familienglieder soll während seines Lebens gestorben sein.39 Obwohl Zuhörer R. Hunas, hatte doch seine Lehrweise mehr Ähnlichkeit mit der R. Judas; er liebte das scharfsinnige Entwickeln.40 Die Überlegenheit R. Chasdas über R. Huna, die er einmal den letzteren fühlen ließ, trug dazu bei, eine Spannung zwischen beiden zu erzeugen, welche vierzig Jahre gedauert haben soll.41 Infolge dieser Spannung scheint sich R. Chasda von Sura nach Kafri zurückgezogen zu haben, fühlte sich aber dort vereinsamt und vernachlässigt. Als das Kollegium der suranischen Metibta in einem zweifelhaften Falle ihn um seine Meinung fragen ließ, äußerte er sich gekränkt: »Man hebt auch das feuchte Holz auf? Also sucht man wohl einen Schatz darunter«!42 Noch während R. Hunas Wirksamkeit baute er aus eigenen Mitteln ein Lehrhaus in Sura (293),43 aber er hielt sich zu dem Oberhaupte im Jüngerverhältnis, keine praktische Entscheidung zu treffen.44 Erst nach R. Judas Tod wurde er Resch-Metibta, fungierte daselbst zehn Jahre und starb 92 Jahre alt (309).45

[297] Sein halachischer Gegner war Mar Scheschet, gleich ihm Jünger Rabs und Zuhörer R. Hunas. Er war blind, aber sein Gedächtnis war so geschärft, daß ihm nicht nur die ganze Mischna, sondern auch sämtliche Boraitas gegenwärtig waren. Kamen R. Chasda und R. Scheschet zusammen, so zitterte der eine vor der Fülle von Boraitas, der andere vor der haarscharfen Auseinandersetzung des andern.46 Denn R. Scheschet war ein abgesagter Feind jener scharfsinnigen Lehrweise, welche, durch R. Juda in der pumbaditanischen Schule heimisch geworden, in Haarspalterei ausartete. Machte ihm jemand einen spitzfindigen Einwurf, so fragte er ihn spöttisch: »Bist du nicht aus Pumbadita, wo man einen Elefanten durch ein Nadelöhr zieht?«47 Das Verhältnis des R. Scheschet zu dem damaligen Resch-Galuta liefert einen schlagen den Beweis, wie weit entfernt das Exilarchenhaus von religiöser Skrupulosität war und wie da noch die ungeschlachte Roheit herrschte. So oft nämlich der Exilsfürst R. Scheschet zur Tafel geladen hatte, ebenso oft schlug dieser die Einladung aus, und auf wiederholtes Dringen gab er den Grund seiner Unhöflichkeit an, die Sklaven des Resch-Galuta hätten die Gewohnheit nicht abgelegt, von lebendigen Tieren Stücke Fleisch zum Braten auszuschneiden.48 Wenn diese Roheit seiner Leute auch dem Exilsfürsten geheim geblieben sein mag, so scheint es doch, daß er sich um das religiöse Verhalten seiner Dienerschaft nicht allzu gewissenhaft bekümmert hat. Oft erlaubten sich die Sklaven der Exilsfürsten plumpe Späße gegen die mit ihren Herren verkehrenden Gesetzeslehrer und sperrten sie in Verließe ein. Das letztere begegnete R. Gadda, dem Haushälter des R. Scheschet, der im Auftrage seines Brotherrn etwas Ungesetzliches an dem Gebäude des Resch-Galuta entfernen wollte.49 Von R. Scheschet ist sonst weiter nichts bekannt geworden, als daß er nach der Zerstörung Nahardeas in Silhi am Tigris ein Lehrhaus anlegte; nicht einmal ein Todesjahr ist angemerkt worden.

Der jüngste dieses Amorakreises war R. Nachman ben Jacob, ein Schüler Samuels (geb. um 235, gest. 324).50 R. Nachman repräsentierte das stolze, auf Wohlstand, Unabhängigkeit und Sicherheit der Lebensexistenz gegründete Selbstgefühl der babylonischen Juden. Schwiegersohn des Exilsfürsten, dessen Tochter Jalta er als Witwe geheiratet, hatte er den ganzen Stolz, die Prunksucht und den Übermut des exilarchischen Hauses. Verschnittene bedienten ihn wie [298] einen orientalischen Fürsten und standen schlagfertig da, denjenigen die hohe Stellung ihres Herrn fühlen zu lassen, der sich einfallen ließe, ihm die Achtung zu schmälern.51 Er war von seinem Schwiegervater als Oberrichter angestellt und war auf diese Würde so stolz, daß er seine Kollegen nachdrücklich daran erinnerte, wenn sie sich etwa mit ihm gleichstellen wollten, daß nur er allein befugter Richter sei.52 Er erlaubte sich, auch ganz allein, Urteil zu fällen, obwohl man es für eine Frechheit hielt, ohne Kollegen zu Gericht zu sitzen.53 Milde und Leutseligkeit waren seinem Charakter fern. Als die Sklaven des Resch-Galuta einer alten Frau Baumaterialien gewaltsam geraubt und daraus eine Festhütte gemacht hatten, beklagte sich dieselbe bei R. Nachman über diesen Rechtseingriff: »Der Exilsfürst und seine Gelehrten sitzen in einer geraubten Festhütte.« Aber R. Nachman hörte sie kaum an, und auf ihre spitzige Entgegnung: »Ich, die Tochter eines Mannes, der 318 Sklaven hatte (Abraham), finde mit meiner Klage nicht einmal Gehör!« fuhr er sie barsch an und dekretierte, daß sie höchstens auf den Ersatz des Wertes der entzogenen Materialien Anspruch habe.54 Noch rücksichtsloser behandelte er seine Sklaven, in denen er die Menschenwürde auf eine die Sittlichkeit verletzende Weise schändete. Seine Sklavinnen ließ er nicht in ein festes Eheverhältnis treten, sondern die Männer wechseln, je nach dem Nutzen, den er sich von einem solchen Wechsel versprach, ganz unähnlich seinem Lehrer Samuel, welcher jedem seiner Sklaven eine Sklavin lebenslänglich als Ehefrau zuführte,55 und unähnlich dem tiberiensischen Amora R. Jochanan, welcher seine Sklaven an seiner Tafel teilnehmen ließ. Die Schöpfer des Talmuds waren sonst in Betätigung der Sittlichkeit ebenso bis zur Peinlichkeit gewissenhaft wie in der Übung der Ritualien; Gemütsverhärtung, die sie in ihrer nächsten Nähe an Griechen und Römern wahrnahmen, war ihnen eine unbegreifliche Erscheinung. Als Charakterzug eines echten Juden betrachteten sie Barmherzigkeit. Selbst die Gesetzeslehrer behandelte R. Nachman hochfahrend und demütigend,56 wie das Verfahren beweist, daß er gegen R. Juda anwendete, indem er ihn, wie bereits erzählt, vor ein Tribunal zitierte, als wenn er Patronatsrecht über ihn besessen hätte. Seine Gemahlin Jalta, die Exilarchentochter, – welche gegen die Gewohnheit das hinterbliebene Kind von ihrem ersten Gatten einer Amme übergab, [299] um nicht gehindert zu sein, sich mit R. Nachman zu verheiraten,57 – übertraf ihn noch an Stolz und besaß die ganze Launenhaftigkeit und den Übermut einer kleinen orientalischen Fürstin. Von den Gelehrten, die mit ihrem Gatten verkehrten, verlangte sie Huldigung, und als ihr einst Ulla dieselbe versagte, verhöhnte sie ihn förmlich. Weil jener oft auf Reisen von Palästina nach Babylonien hin und zurück und wahrscheinlich auch arm war, sagte sie von ihm: »Bei Reisenden findet man Geschwätz und bei Lumpen Ungeziefer«.58

Die jüdische Rechtslehre hat R. Nachman eine wichtige Bestimmung zu verdanken, deren Entstehung einen Einblick in die Sittengeschichte jener Zeit gestattet. Nach dem alten jüdischen Rechtsprinzipe wurde bei Mangel an Beweisen der wegen einer Forderung verklagten Partei nur dann der Reinigungseid zugeschoben, wenn diese die Forderung teilweise eingestand; leugnete sie dieselbe aber ganz und gar, so fand kein Eid statt. Dieses Prinzip beruhte auf der Voraussetzung einer allgemein verbreiteten patriarchalischen Biederkeit, welche die Frechheit, eine Forderung geradezu abzuleugnen, nicht kennt. Diese Grundehrlichkeit war aber nicht mehr vorauszusetzen, sie war im Gegenteil von einer gewissen kniffigen Schlauheit verdrängt worden, welche infolge der verbreiteten Rechtskenntnis den Buchstaben des Gesetzes für sich in Anspruch zu nehmen und das Rechi zu überlisten wußte. Daher führte R. Nachman, von der Erfahrung geleitet, auch im Leugnungsfalle den Überzeugungseid (Schebu'at hesset) ein. Er motivierte diese von der Tradition abweichende Bestimmung durch den Erfahrungssatz, daß weit eher die Wahrscheinlichkeit vorauszusetzen ist, daß jemand eine Schuld aus Not oder anderen Umständen ableugne, als daß jemand die Frechheit haben sollte, eine Forderung zu stellen, die ganz und gar erlogen wäre. Diese Rechtsbestimmung erlangte volle Gesetzeskraft.59 R. Nachman, der, wie schon angegeben, von Nahardea nach dessen Zerstörung ausgewandert war, ließ sich in Schakan-Zib nieder.60 Die wegen ihrer Spottsucht berüchtigten Einwohner von Schakan-Zib61 mochten ihm zugesagt haben. Ob er später, als Nahardea wieder aufgebaut war, seinen Wohnsitz dort genommen, ist nicht ermittelt.

Ein Verbindungsglied zwischen dem absterbenden Judäa und dem aufstrebenden Babylonien war R. Seïra, der für das folgende [300] Geschlecht die höchste Autorität in Judäa war. An ihm tritt der Gegensatz zwischen dem Stammlande und der babylonischen Kolonie recht scharf hervor. Schüler R. Hunas und R. Judas, fühlte er sich von der babylonischen Lehrweise nicht befriedigt und sehnte sich nach der einfachen Amoramethode, wie sie in den galiläischen Lehrhäusern üblich war. Er scheute sich aber, aus Rücksicht auf R. Judas Abneigung gegen die Auswanderung, Babylonien zu verlassen. Als er sich endlich aus dem Heimatlande gewissermaßen hinweggeschlichen hatte, war seine Sehnsucht, das heilige Land zu sehen, so groß, daß er sich an einem Seile über den Jordan wagte, um keine Zeit zu versäumen, eine Brücke aufzusuchen. Ein Christ, der diese Eilfertigkeit des Wanderers sah, bemerkte rügend gegen R. Seïra: »Ihr Juden habt den alten Fehler der Voreiligkeit noch nicht abgelegt, den ihr am Berge Sinaï an den Tag gelegt habt,« worauf ihm jener erwiderte: »Darf ich einen Augenblick zögern, in das heilige Land zu kommen, das zu sehen nicht einmal unseren Lehrern Mose und Ahron vergönnt war?«62 In Tiberias angekommen, wo R. Eleasar nach R. Jochanans Tod lehrte, bemühte er sich, die babylonische Lehrweise haarspaltender Analyse zu vergessen. Die Sage fügt hinzu, er habe, um seinem Gebete Nachdruck zu geben, vierzig Tage gefastet, damit die ihm verhaßte babylonische Lehrmethode aus seinem Gedächtnis entschwinden möge. Judäa und seine eigentümliche Art erschienen ihm dagegen in blendendem Glorienscheine, und »die Atmosphäre des heiligen Landes schien ihm mit Weisheit geschwängert«.63 Indessen konnte sich R. Seïra auch in Judäa nicht von derjenigen Richtung losmachen, die ein Grundzug Babyloniens war und sich zu fest in seinem Geiste eingenistet hatte. So sehr er sich auch bestrebte, sich die Einfachheit der judäischen Lehrweise anzueignen, trug er unbewußt in dieselbe die babylonische verstandesmäßige Analyse hinein und gerade wegen dieses von ihm verkannten Vorzuges genoß er unter den judäischen Amoräern hohes Ansehen. Man beeilte sich, ihm die Lehrerwürde zu übertragen. Doch war seine Bescheidenheit so groß, daß er sich, gleich dem König Saul, den Blicken entzog und erst dann die Weihe annahm, als man ihm beibrachte, daß damit die Sündenvergebung verknüpft sei.64 In dem bei Promotionen üblich gewordenen Enkomium gebrauchte man die auf R. Seïras kleine, unansehnliche Figur anspielende Wendung:


Ohne Schimmer,

Ohne Flimmer,

Doch nicht ohne Reiz.65


[301] Er wurde eine der Autoritäten Judäas neben R. Ami, R. Aßi und R. Abbahu und überlebte sie sämtlich. Bei seinem Grabe stimmte ein Dichter ein Trauerlied an, das einen bessern Geschmack verrät, als mehrere bei ähnlicher Gelegenheit gehaltene; es lautete ungefähr:


Das heilige Land hat veredelt,

Was Sinears Schoß ihm geboren;

Gebeugt ist Tiberias, schmerzerfüllt,

Sein bestes Kleinod ist verloren.66



Fußnoten

1 Gittin 6 a. Baba Kama 80 a. Chullin 132 a ff. Jerus. Challa IV, p. 60 a.


2 Jerus. Maasser Scheni V, 56 b. Babl. Chullin, p. 133 a.


3 Seder olam Sutta.


4 Chullin 92 a.


5 Taanit 21 b, 23 b.


6 Scheriras Sendschreiben.


7 Ketubbot 105 a.


8 Berachot 58 a. Megilla 27 a.


9 Megilla 28 a.


10 Berachot 5 b. Baba Kama 80 b.


11 Megilla 27 b.


12 Taanit 20 b.


13 Scheriras Sendschreiben.


14 Ketubbot 106 a.


15 Berachot 5 b.

16 Gittin 6 a. Baba Kama 80 a.


17 Sabbat 115 a. Baba Batra 41 b. Synhedrin 29 a. Schebuot 48 b.


18 Moed Katan 28 a. Note 1.


19 Das. 25 a. Jerus. Kilaim IX, p. 32 b. Midrasch zu Kohelet V, 7.


20 Jerus Demaï II, 1, 22 c; V, p. 24 d.


21 Kidduschin 71 a u. b. Ketubbot 110 b. Berachot 24 b. Sabbat 41 a.


22 Rosch-ha-Schanah 35 a.


23 Berachot 36 a und an vielen Stellen: אנניש.


24 Synhedrin 106 b.


25 Rosch ha-Schana 35 a. [Scheint eine Verwechslung zu sein].


26 Chullin 18 b


27 Das. 44 a. Ketubbot 21 a, 60 a, 76 b.


28 [Der Verf. gibt die Quelle nicht an und scheint ihn mit R. Ami im palästinensischen Talmud zu identifizieren].


29 Ketubbot 110 b. Kidduschin 71 b.


30 Kidduschin das.


31 Kidduschin 70 a, b.


32 Aboda Sara 76 b.


33 Kidduschin das.


34 Scheriras Sendschreiben.


35 Moed Katan 17 a. S. Jerus. Moed Katan III, p. 81 d.


36 Gittin 19 b. Note 1.


37 Sabbat 10 b.


38 Berachot 44 a.


39 Moed Katan 28 a.


40 Sabbat 82 a. Erubin 67 a.


41 Baba Mezia 33 a.


42 Erubin 4 a, b.


43 Seder Tanaïm und Scheriras Sendschreiben; Note 1.


44 Erubin 62 b.


45 Moed Katan 28 b. Note 1.


46 Erubin 67 a. Sebachim 76 a.

47 Baba Mezia 38 b.


48 Gittin 67 b.


49 Erubin 11 b.


50 Note 1.


51 Kidduschin 33 a.


52 Ketubbot 94 b.


53 Synhedrin 5 a. [Die Begründung ist an Ort und Stelle gegeben].


54 Sukka 31 a.


55 Nidda 47 a.


56 Baba Mezia 66 a. Chulin 132 b.


57 Ketubbot 60 b. [Deckt sich nicht mit dem, was hier im Texte steht].


58 Berachot 51 b. Siehe Chullin 109 a. Kidduschin 70 b. [Vergl. zum ganzen die Anmerkung des Verf., S. 392, A. 51].


59 Schebuot 40 b.


60 Note 28.


61 Pesachim 112 b.


62 Ketubbot 110 b, 112 a.

63 Kerem Chemed, Jahrg. 1833, S. 85.


64 Jerus. Bikkurim III, 3, 65 c.


65 Ketubbot 17 a.


66 Moed Katan, p. 25 b.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 303.
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