26. R. Jochanan.

[452] Zwischen Ilfa und R. Jochanan scheint eine gegensätzliche Theorie bestanden zu haben. Der erstere hielt die Boraïtas für überflüssig, indem ihr Inhalt in der Hauptmischna enthalten sei, welche für ihn kanonisches Ansehen hatte; er machte sich daher durch eine gefahrvolle Wette anheischig, auch die in den Boraïtas enthaltenen Halachas aus der Mischna zu deduzieren (j. Kidduschin I. 58. d.): לע ינובתיא רמא יפליח ינקורז ןיתינתממ הבר אייח 'רד אתינתמ קיפא אלד ארהנ ףוג רהנל (in einer veränderten Fassung b. Taanit 21. a.). R. Jochanan hingegen räumte den Boraïtas, namentlich denen von R. Chija und seinem Lehrer [452] R. Uschaja I. gesammelten, gleiche Autorität ein. Die Mischna hatte für ihn also nicht die Bedeutung einer kanonischen Sammlung, und er scheute sich nicht, deren Fassung zu modifizieren. (Vergl. Sabbat 75. a. Chullin 32. b. 116. b.). Es sind grundlose Behauptungen von den Hauptmitarbeitern der Zeitschrift Chaluz, daß R. Jochanan Rabbis Mischna kanonisiert habe, und daß er dessen erfundenen Lehrsatz, ein Gerichtshof dürfe die Bestimmung eines andern so gut wie gar nicht aufheben, sanktioniert habe (Chaluz II. p. 50.). Eine korrumpierte Lesart ןנחוי 'ר für ןתנוי 'ר hat sie zu vagen Anschuldigungen verleitet (s. Jerus. Sabbat I. 3. d.). Es ist hier nicht der Ort näher darauf einzugehen; sonst könnte der Beweis geführt werden, daß R. Jochanan im Gegenteil, wenn auch kein Reformer, doch auch kein Rigorist war.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 452-453.
Lizenz:
Faksimiles:
452 | 453
Kategorien: