4. Rabban Gamaliel.

[391] R. Gamalies Tätigkeit ist deswegen so vielfach verkannt worden, weil man die Zeitlage und die Anarchie, die durch die Meinungsdifferenz der Schammaitischen und Hillelschen Schulen eingetreten war, zu wenig berücksichtigt hat, und doch werden diese Umstände in den Quellen deutlich angegeben. Als Einleitung zur Sammlung der Halachas, welche im Abschnitt »Edujot« niedergelegt sind, wird mit unzweideutigen Worten ausgesprochen, daß der Mangel an Einheit, welcher in den verschiedenen Schulen herrschte, die Notwendigkeit fühlbar gemacht habe, eine Norm für die Praxis festzustellen. In Jabne, wo dieses Bedürfnis rege wurde – dieser Umstand ist nicht zu übersehen – verhehlte man sich nicht die traurigen Folgen einer solchen Anarchie: וסנכנשכ שקבמ םדא אהיש העש הדיתע ורמע ורמא הנביב םרכל םימכח אלש – אצומ יניאו םירפוס ירבדמ אצומ וניאו הרות ירבדמ רבד יאמשו ללהמ ליחתנ ורמא וריבחל המוד הרות ירבדמ רבד אהי (Tosifta Edujot I, 1). Ein anderer fügt mildernd hinzu: אלא לארשימ הרות חכתשתש םולשו סח רמוא יחוי ןב ןועמש 'ר דחא םוקמב הרורב הנשמו הרורב הכלה ואצמי אלש.8 – Der Schluß: יאמשו ללהמ ליחתנerläutert die Situation vortrefflich. Durch die Differenz beider Schulen entstand der Riß, hier sollte auch die Heilung erfolgen. Noch andere Stellen weisen darauf hin, daß in Jabne, d. h unter den Auspizien R. Gamaliels, diese Einheit der Lehre wieder hergestellt wurde. Drei Jahre dauerte der Streit zwischen diesen zwei in wesentlichen Punkten differierenden Schulen, bis das Bat-Kol mit Anerkennung der schamaitischen Lehre dem Hillelismus das Übergewicht verlieh: םינש שלש לאומש רמא אבא 'ר רמא לוק תב התצי .וניתומכ הכלה ורמא וללה ה"בו ש"ב וקלחנ ללה תיבכ הכלהו םה םייח 'הלא ירבד ולאו ולא הרמאו (Erubin 13 b), Jeruschalmi Berachot I, 3 b und Parallelst. geben die Ergänzung zu dieser interessanten Notiz, daß nämlich jene Entscheidung zugunsten der Hillelschen Schule in Jabne stattgefunden hat: תב תאצי ינת .ה"ב ירבדכ הכלה לבא םייח 'הלא ירבד וליאו וליא הרמאו לוק תב האצי הנביב ןנחוי 'ר םשב רמא יביב 'ר ?לוק תב תאצי ןכיא לוק. Für Jabne spricht aber auch R. Josuas nüchterner Ausspruch, daß das Bat-Kol bei Meinungsdifferenzen keine entscheidende Stimme habe: לוק תבב ןיחיגשמ ןיא, die zwar auf den Streit über den Achnaïofen bezogen wird, aber (Erubin 6 b) richtiger auf die Entscheidung zugunsten Hillels bezogen werden [391] muß. In dem Widerspruch in dieser Bestimmung, einmal, daß Hillels Ausspruch Norm sei, und das andere mal, daß man sich auch nach Schammaï richten dürfe: הכלה םלועל השוע ש"ב ירבדכ תושעל הצורהו ה"בכ (Tosifta Edujot, c. 2) konnten sich die Spätern nicht mehr zurecht finden (vergleiche Erubin I c und j. Berachot I c). Es scheint aber ein Kompromiß und nachsichtige Schonung gewesen zu sein, welche die Hilleliten gegen die Schammaiten übten, um deren Heftigkeit und Starrheit zu besänftigen. Es geht also aus dieser Untersuchung mit Gewißheit hervor, daß im Lehrhaus oder im Weinberge zu Jabne die Ausgleichung der Differenzen versucht wurde, und daß es R. Gamalies Verdienst war, die Streitigkeiten der beiden Schulen und die Unsicherheit der Praxis beseitigt zu haben. Über die Differenzpunkte beider Schulen, welche eine so tiefe Bewegung hervorgerufen, daß es zu blutigen Streitigkeiten gekommen war, und sogar auf das politische Leben vor der Tempelzerstörung einen nicht unbedeutenden Einfluß ausgeübt haben, ist im vorhergehenden Bande im Zusammenhang mit der politischen Geschichte jener Zeit abgehandelt.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 391-392.
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