3. Kapitel.

[41] R. Elieser ben Hyrkanos, das starre System. Der Bann und seine Folgen. R. Josua ben Chananja, der Mann der goldenen Mitte.


R. Gamaliel repräsentierte in diesem Lehrkreise den Drang nach einer Einheit und Autorität, welche das ganze religiöse und nationale Leben des Volkes aus einem festen, unverrückbaren Mittelpunkte regeln sollten. Sein Schwager R. Elieser vertrat die entgegengesetzte Richtung, indem er die eigene Überzeugung mit aller Entschiedenheit gegenüber der alles regelnden Gesetzgebung zu behaupten bestrebt war. Von R. Elieser, der ein wichtiges Glied in der Kette der Tannaiten war, sind einige Züge aus seinem Jugendleben aufbewahrt worden, welche die Sage jedoch durch ausschmückende Zusätze ein wenig verwischt hat. Er soll, als Sohn eines begüterten Landmannes Hyrkanos, bis zu seinem zweiundzwanzigsten (nach andern achtundzwanzigsten) Jahre den Acker seines Vaters gleich seinen Brüdern bestellt haben. Gekränkt durch eine erlittene Zurücksetzung von seinem Vater, der ihm die schwerere Arbeit zugeteilt und dessen Zorn fürchtend wegen eines Unfalls, der ihm mit dem Ackervieh zugestoßen war, soll er eines Tages dem Landleben und seinem väterlichen Hause entlaufen sein, um sich geradezu nach Jerusalem in das Lehrhaus des R. Jochanan ben Sakkaï zu begeben. Hier habe er durch eifriges Studium sich bald die Liebe und Bewunderung seines Meisters erworben. Sein Vater aber, der seinen Aufenthalt und seine Beschäftigung nicht kannte, sei eines Tages nach Jerusalem gekommen, um vor Gericht den entarteten Sohn zu enterben. R. Jochanan ben Sakkaï, von dem Vorhaben des erzürnten Hyrkanos unterrichtet, habe es veranstaltet, daß gerade an diesem Tage sein Lieblingsschüler Elieser einen Lehrvortrag in öffentlicher Versammlung, im Beisein vieler Großen und Angesehenen Jerusalems, halten sollte. Dieser Vortrag brachte R. Elieser soviel Beifall, daß ihn R. Jochanan öffentlich lobte. Wie erstaunt war nun der Vater, in diesem gefeierten Jüngling seinen Sohn wiederzuerkennen, den er zu enterben im Begriffe war! [41] In der Aufwallung seines Herzens habe er dann seinem Sohne, Elieser sein ganzes Vermögen, zum Nachteile seiner übrigen Söhne überlassen wollen; allein R. Elieser sei zu gewissenhaft gewesen, sich auf Kosten seiner Brüder zu bereichern, und habe das väterliche Geschenk zurückgewiesen.1 Sein Ansehen wurde so bedeutend, daß das Patriarchenhaus es nicht verschmähte, sich mit ihm zu verschwägern; R. Gamaliels Schwester, Imma Schalom genannt, wurde seine Frau.

Nach dem Tode seines Vaters eröffnete R. Elieser ein eigenes Lehrhaus in Lydda, das sich in Süd-Judäa mehrere Jahrhunderte hindurch als der einzige Sitz der Lehre behauptet hat. Das Lehrhaus R. Eliesers befand sich in einer Rennbahn (Stadium, Ris), die vielleicht noch aus der Zeit stammte, als Lydda von Griechen bewohnt war. Auf diesem, einst dem gedankenlosen Spiele geweihten Platze pflegte er, auf einem Steine sitzend, seine Lehrvorträge vor seinen Jüngern zu halten.2 R. Josua verglich aus hoher Verehrung für R. Elieser diesen Stein mit dem Berge Sinai und den darauf Sitzenden mit der Bundeslade. Obwohl R. Eliesers Geist durch R. Jochanan an der Hillelschen Schule genährt war, so neigte sich doch sein ganzes Wesen der Schule Schammaïs zu, wodurch seine Lehrweise einen eigenen Zug erhielt, welcher auch seine Lebensverhältnisse bestimmte. – Nach der Hillelschen Schule gab es zwei Quellen für die außerschriftliche Lehre; die eine – die wörtliche Überlieferung, die von Mund zu Mund, von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt, durch die Glaubwürdigkeit und Treue der Überlieferer verbürgt war, die andere – gegebene Regeln, vermittelst derer man neue Bestimmungen in den Andeutungen des Schrifttextes finden könnte. Die erste Art lieferte einen fertigen Stoff, der in sich abgeschlossen und von jeder persönlichen Einwirkung unabhängig, aber eben deswegen keiner Erweiterung fähig und unzureichend für alle verwickelten Lebensfälle war. Die andere Art gab vielmehr nur Formen an die Hand, wodurch neue halachische Resultate ermittelt und gefolgert werden konnten; es war das fortbildende Element der Deutungs- und Folgerungsregeln, von denen schon öfter die Rede war. R. Elieser, in Übereinstimmung mit der Schule Schammaïs, hielt nur die stoffliche, wörtliche Tradition, wie er sie aus dem Munde älterer Autoritäten vernommen, für echt und unbezweifelbar; hingegen hatte die ganze Klasse abgeleiteter oder gefolgerter Lehrsätze, mochte deren Folgerichtigkeit noch so einleuchtend sein, für ihn nicht die unbestreitbare Gewißheit mündlicher Überlieferung. [42] er galt eben deswegen als Anhänger Schammaïs (Schammuti).3 Diese eigentümliche Seite behauptete er mit der eisernen Konsequenz eines zähen, von Überzeugungen geleiteten Charakters durch sein ganzes Leben unter den peinlichsten Verhältnissen. Seine ganze Lebensaufgabe setzte er gewissermaßen in die Erhaltung und Sicherung des überlieferten Stoffes, ohne auf dessen notwendige Fortbildung unter gegebenen Voraussetzungen Wert zu legen.4

Von Jugend an hatte sich R. Elieser einzig darauf verlegt, sich den bereits vorhandenen Vorrat von ausgeprägten Lehrsätzen (Halachas) anzueignen und sie seinem Gedächtnis derart einzuprägen, daß ihm auch nicht ein Stäubchen, wie er sich selbst darüber aus sprach, verloren gehe. Sein Lehrer R. Jochanan nannte ihn daher »die verkalkte Zisterne, welche keinen Tropfen durchläßt«. In diesem Sinne lehrte R. Elieser auch sein ganzes Leben. Auf Anfragen, die an ihn gerichtet wurden, antwortete er entweder, wie er es von seinen Lehrern überkommen hatte, oder er gestand geradezu: »Das weiß ich nicht, weil ich es nicht vernommen habe«. Bei seinem einstmaligen Aufenthalte in dem obergaliläischen Cäsarea (C. Philippi) legte man ihm dreißig Fragen zur Entscheidung vor, worauf er erwiderte: »Auf zwölf von ihnen habe ich eine Entscheidung durch Überlieferung, auf die übrigen achtzehn hingegen habe ich keine«. Die weitere Frage, ob er denn immer nur Überliefertes lehre, beantwortete er mit folgenden Worten: »Nun, ihr zwingt mich etwas mitzuteilen, was ich nicht vernommen habe; so wisset denn, daß ich in meinem ganzen Leben kein Wort gelehrt habe, welches mir nicht von meinen Lehrern überliefert worden wäre.«5 Um lästigen Fragen, auf die er keinen Bescheid wußte, zu entgehen, pflegte er abweichende Querfragen entgegenzuhalten, woraus seine Abneigung hervorgehen sollte, sich darauf einzulassen. Man fragte ihn unter anderm einst, ob ein uneheliches Kind erbfähig sei; da fragte er dazwischen, ob denn überhaupt ein solches gesetzlich als Bruder gelten könne. Die Frage, ob man nach der Katastrophe des Tempeluntergangs sein Haus weiß anstreichen dürfe, wies er mit der Gegenfrage zurück, ob man ein Grab übertünchen dürfe, immer an seinen Lebensregeln festhaltend, keinen Satz auszusprechen, der ihm nicht durch mündliche Mitteilung gesichert war. Den scharfsinnigsten Schlußfolgerungen setzte er gewöhnlich ein einfaches: »Das habe ich nicht gehört« entgegen. Nicht einmal den logisch begründeten [43] und auf halachischem Gebiete anerkannten Schluß vom Geringern zum Höhern, vermittelst dessen R. Josua eine Halacha folgern wollte, mochte er gelten lassen. Aus dieser eigentümlichen Ansicht, sich gegen derartige Folgerungen zu verschließen, scheint die Warnung hervorgegangen zu sein, die er seinen Schülern einprägte: »Haltet eure Kinder fern vom Grübeln (Higajon), lasset sie lieber auf den Knien der Weisen erziehen.6

R. Elieser bildet also das erhaltende Element in diesem Kreise, er war das Organ des treuen Gedächtnisses für die Tradition, das die Halachas ohne die geringste Modifizierung rein wiedergibt, wie es sie aufgenommen; er war die »verkalkte Zisterne«, die keinen Tropfen des hineingekommenen Wassers verrinnen, aber auch keinen neuen zudringen läßt. Zeitgenossen und Nachwelt gaben ihm den ehrenvollen Beinamen »Sinai«, eine lebendige Gesetztafel unveränderlicher Vorschriften. – So groß aber auch sein Ansehen als treuer Bewahrer überkommener Lehren war, so stand er doch mit seinem einseitigen Beharren auf Traditionen ziemlich isoliert. Seine Genossen waren zu sehr in die von Hillel angebahnte Richtung hineingezogen, um nur Behältnis des Gesetzes und nicht auch dessen lebendige Ausleger und Fortbildner zu sein. Seine vereinzelte Richtung mußte mit der Hauptrichtung der Zeit einmal zusammenstoßen. Am schroffsten stand er seinem Schwager R. Gamaliel und dessen ausschließendem Einheitsstreben gegenüber. Auf der einen Seite die normierende Autorität, die ihre Berechtigung aus dem Bedürfnisse der Gegenwart schöpfte, mit dem kräftigsten Willen, jede Auflehnung gegen das irgendwie Angenommene niederzuhalten, auf der andern Seite das sichere Bewußtsein, welches sich auf die Sanktion der Vergangenheit berief. Solche Gegensätze sind nicht leicht zu vermitteln. Auch war R. Elieser nicht der Mann, seine Überzeugung aufzugeben. Man rügte an ihm eben diesen ungefügigen Charakter, der seine Ansicht andern nicht unterordnen mochte.7 Wie schon erwähnt war die Veranlassung zur Entzweiung eine Debatte über den Achnai-Ofen. Diese an sich unbedeutende Tatsache war lediglich die nächste Gelegenheit zum Bruche, dessen Ursachen aber viel tiefer lagen. Ausdrücklich wird in den beglaubigten Quellen hervorgehoben, daß R. Gamaliels Strenge sich nicht gegen R. Eliesers theoretischen Widerspruch, sondern gegen dessen tatsächlichen Widerstand gerichtet hatte. Er wurde in den Bann gelegt, weil er auf seiner Meinung beharrend, auch praktisch darnach verfahren war.8 Die Hochachtung gegen seine Person [44] machte es indessen schwer, ihm den Bann anzukündigen; wiederum übernahm R. Akiba diese unangenehme Botschaft. Schwarzgekleidet erschien er vor R. Elieser, ihm schonend das über ihn Verhängte beizubringen und redete ihn mit den Worten an: »Es scheint mir, daß deine Genossen sich von dir entfernt halten.« R. Elieser verstand den Wink, nahm diesen Schlag jedoch ohne Widerstreben an; er unterzog sich dem Banne und lebte von der Zeit an von seinen Freunden entfernt. Es scheint auch, daß er während seines Bannes sich nicht mehr in Lydda, sondern größtenteils in Cäsarea aufhielt und dann und wann auch in Obergaliläa weilte. Nur einen entfernten Anteil nahm er noch an den Lehrverhandlungen in Jamnia. Hörte er von einem wichtigen Beschlusse, so pflegte er ihn zuweilen durch seinen Halachaschatz zu bestätigen oder zu verspotten.

Während seiner Abgeschiedenheit scheint R. Elieser mit Judenchristen, die zumeist in Galiläa lebten, Umgang gepflogen zu haben; einer von dieser Sekte wird namhaft gemacht, Jakob aus Kephar-Samia (oder Sekanja), mit dem er in Sepphoris eine Unterredung hatte und von dem er eine sonderbare halachische Entscheidung aus Jesu Munde vernahm. R. Elieser hatte diese Mitteilung ohne Skrupel angehört und ihr sogar Beifall geschenkt, was wohl zu einer Zeit sich zutrug, als Juden und Judenchristen sich noch nicht gegeneinander abgeschlossen hatten. Eben wegen seines Umganges mit Christen wurde der berühmte Mischnalehrer als Glied der Christengemeinde angesehen und deshalb vor die Schranken des peinlichen Gerichts gestellt. Seitdem sich nämlich das Christentum namentlich in Kleinasien so außerordentlich verbreitet hatte, daß die heidnischen Tempel immer weniger Besucher, die Götter immer weniger Verehrer fanden, dekretierte die römische Gesetzgebung, weil sie in der neuen Christuslehre den Verfall ihrer Staatsinstitutionen mit einem richtigen Vorgefühle geahnt hatte, immer strengere Maßregeln gegen die Christen. Trajan, menschlicher, aber nicht gerechter als Domitian, hatte ein milderes Verfahren für die als Christen Angeklagten eintreten lassen; ein Angeklagter konnte sich von dem Verdachte reinigen, wenn er Christus öffentlich verleugnete, oder vor einer Götterstatue oder vor dem Kaiserbilde opferte.9 In eine solche Anklage scheint R. Elieser verwickelt gewesen zu sein, und daraufhin ließ ihn der Statthalter von Syrien zu einem strengen Verhöre vorladen. Er fragte ihn, wie es denn möglich sei, daß ein Greis von seinen Gesinnungen sich in solche eitle Sachen einlassen könnte. R. Elieser antwortete: »Du selbst machst Bürge für mich sein, (daß ich nicht zu dieser Sekte gehöre)«;[45] diese Erklärung genügte schon, ihn von der Anklage frei zu sprechen. Er aber konnte sich nicht darüber beruhigen, als Christ angesehen worden zu sein, machte sich Vorwürfe wegen seines Umgangs und erkannte die Richtigkeit des Synhedrialdekretes, welches jede Berührung mit der Sekte der Judenchristen verboten hatte.10

Ohne Einfluß auf den Gang der jüdischen Verhältnisse und ohne Teilnahme an der Entwicklung der Lehre verlebte R. Elieser seine letzten Jahre bei sehr glücklichen Lebensverhältnissen und blühendem Wohlstande in trüber Stimmung. Wie seine Richtung, die gedächtnismäßige, bloß erhaltende Lehrweise, vereinsamt und unbeachtet blieb, so war auch sein Leben. In dieser Verstimmung sprach er die merkwürdige Sentenz aus, die von denen seiner Genossen grell absticht. »Wärme dich,« sprach er, »an dem Feuer der Weisen, aber hüte dich vor ihren Kohlen, daß du nicht daran verbrennest; denn ihr Biß ist Schakalenbiß, ihr Stich Skorpionsstich, ihr Züngeln ist Schlangenzüngeln und ihre Worte glühende Kohlen.«11 Es sind das bittere Worte eines gekränkten Gemütes, das jedoch trotz aller erfahrenen Unbill eine gewisse Berechtigung derer, von denen sie ausgegangen, nicht leugnen kann. – Erst bei der Nachricht von R. Eliesers heran nahendem Tode eilten seine Genossen an sein Krankenlager nach Cäsarea. Er beklagte sich gegen sie über die erlittene Vernachlässigung, daß keiner von ihnen ihn bisher aufgesucht, so daß es ihm nicht vergönnt war seinen umfangreichen Halachaschatz mitzuteilen, der nun mit ihm werde begraben werden. Sie ließen sich hierauf in eine halachische Unterredung mit ihm ein, fragten ihn über die seltensten Traditionen, in deren Besitze er ganz allein war, und er beantwortete ihre Fragen mit ruhiger Klarheit; es war, als wenn ihm die Lebenskraft wieder neu zuströmte durch die gebotene Gelegenheit, die in seinem Innern verschachteten Gedanken der weiteren Überlieferung anvertrauen zu können. Er gab Antwort auf Antwort, bis seine Seele entschwand, und sein letztes Wort war »rein«; dieses galt als eine sichere Vorbedeutung seiner Seligkeit. Alle Anwesenden zerrissen bei seinem Tod ihre Kleider, und R. Josua, der nach dem Tode R. Gamaliels Hauptführer war, löste den Bann von dem Verschiedenen, indem er weinend dreimal die Worte sprach: »Der Bann ist aufgehoben.« R. Elieser starb an einem Freitage, und seine Leiche wurde nach dem Sabbat in feierlicher Weise von Cäsarea nach Lydda, seinem früheren Aufenthalte, geführt. R. Akiba hielt ihm die Gedächtnisrede und sagte unter anderm zu seinem Ruhme: »Mit seinem Tode ist das Buch der[46] Lehre vergraben worden.«12 Mit ihm war der letzte Zweig der Schule Schammaïs abgestorben, die anderthalb Jahrhundert hindurch in der Lehre und im Leben, im Synhedrion und im politischen Rate die beharrliche Selbständigkeit, die eiserne Festigkeit, aber auch die starre, herbe Abgeschlossenheit vertreten und behauptet hatte. R. Elieser hatte zwar auch seinen Kreis von Schülern, darunter einen, Mathia ben Charasch, der ein Lehrhaus in der Weltstadt Rom gründete; aber sie pflanzten die Lehrweise ihres Meisters keineswegs fort, sondern fügten sich dem gewaltigen Einflusse, den R. Akibas kühnes Lehrsystem ausübte.13 – R. Eliesers Leben und Tod hat die Sage vielfach ausgeschmückt. Sein Todesjahr läßt sich annäherungsweise bestimmen; er sprach nämlich vor seinem Tode von einer heftigen Glut, die in der Welt wüte,14 und scheint hierbei auf den heftigen Kampf anzuspielen, welchen Trajan gegen die Juden vieler Länder führte (um 116-117).

Zu der Starrheit und der eisernen Konsequenz R. Eliesers bildet sein Genosse R. Josua ben Chananja einen entschiedenen Kontrast; er war das biegsame, nachgiebige, versöhnende Element in der Neubildung des jüdischen Gesamtwesens. Er schützte die Lehre und das Volk vor Einseitigkeiten und Übertreibungen und wurde dadurch Förderer der Lehre und Wohltäter des Volkes. – Als junger Levite aus der Sängerklasse15 hatte er noch den Glanz des Tempels gesehen und in dessen Hallen die Psalmen im Chore mit angestimmt, deren andachterweckende Klänge, verbunden mit der feierlichen, ehrfurchtgebietenden Haltung der diensttuenden Priester auch auf die besuchenden Heiden einen nachhaltigen Eindruck hinterließen. Wie er mit seinem Lehrer das dem Untergange verfallene Jerusalem verlassen und nach dessen Tode ein eigenes Lehrhaus in Bekiin gegründet hat, ist bereits erzählt. Hier lehrte er seine Jünger und betrieb sein niedriges Handwerk der Nadelverfertigung, womit er seine Familie ernährte. Durch die eine Beschäftigung dem Lehrkreise, durch die andere dem Volke angehörend, vermittelte R. Josua die zwei schroff voneinander getrennten Stände, und war darum auch der einzige, welcher auf die Gemüter und auf den Willen der Masse Gewalt besaß. An Körpergestalt war er so häßlich, daß ihm eine Kaisertochter einst die kecke Frage hinwarf: »Warum denn so viel Weisheit in einem so häßlichen Gefäße?« Witzig antwortete R. Josua darauf: »Der Wein wird ja auch nicht in Goldgefäßen[47] aufbewahrt.«16 Außer der Traditionskenntnis scheint er astronomische Kunde in dem Maße besessen zu haben, daß er den unregelmäßigen Lauf eines Kometen zu berechnen imstande war, was ihm einmal bei einer Reise sehr zu statten kam. Er hatte mit R. Gamaliel eine Seereise gemacht und sich mit mehr Vorrat versehen, als zu der Reise nötig war. Das Schiff irrte eine längere Zeit auf dem Meere herum, weil dessen Führer, von einem Sterne getäuscht, nach einer andern Richtung zugesteuert hatte. R. Gamaliels Mundvorrat war indes aufgezehrt und R. Gamaliel war um so mehr erstaunt, daß sein Reisegefährte keinen Mangel hatte und ihm sogar von seinem Mundvorrat überlassen konnte. Hierauf teilte R. Josua ihm mit, daß er im voraus die Wiederkehr eines Sternes (Kometen), der alle siebzig Jahre zu erscheinen pflege und die unkundigen Schiffer irreführe, für diesen Fall für dieses Jahr berechnet und deswegen sich mit ausreichendem Vorrat versehen habe.17 Diese astronomische Kenntnis R. Josuas scheint um so merkwürdiger, als die Umlaufszeit der Kometen selbst den gebildeten Völkern des Altertums nicht bekannt war. Aber mehr noch als Kenntnisse und Gelehrsamkeit zierten ihn die herzgewinnenden Tugenden der Bescheidenheit, Sanftmut und Versöhnlichkeit, wodurch er so sehr seinem Meister R. Jochanan glich. Es ist schon erwähnt, wie er einem demütigenden Befehle R. Gamaliels Folge geleistet und wie er ferner nach dem vollständigen Siege über seinen Gegner diesem zuerst die Hand geboten, um ihm zu der Wiedererlangung der eingebüßten Würde zu verhelfen. Durch seine Mäßigung und seinen versöhnlichen Charakter hat er unberechenbare Spaltungen im Schoße des Judentums verhütet, die unfehlbar ausgebrochen wären, da R. Josua in der Gunst des Volkes stand und R. Gamaliel seinerseits nicht ohne Anhang war. Ein fortdauernder Zwist zwischen den beiden Hauptvertretern des jüdischen Gesamtwesens hätte vielleicht die Sektenbildung im jüdischen Kreise wiederholt, durch die das Christentum in demselben Zeitalter in einer so maßlosen Weise gespalten wurde.

Dieselbe Milde und Mäßigung, wie im Leben, bewährte R. Josua auch in der Lehre; er war ein Feind aller Übertreibungen und Seltsamkeiten und nahm bei Gesetzesentscheidungen auf die Lebensumstände die gebührende Rücksicht. Den frommen Zeloten, welche nach der Tempelzerstörung nicht Wein noch Fleisch genießen mochten, weil dergleichen Opfergaben nicht mehr auf den Altar kamen, erwiderte er, dann dürfte man auch kein Wasser trinken, weil solches [48] doch auch einmal auf den Altar gegossen wurde, und aus demselben Grunde müßte man sich auch des Brotgenusses enthalten. Er stellte daher den weisen Grundsatz auf, man dürfe keinerlei Erschwerungen auflegen, bei denen die Gesamtheit nicht bestehen könne.18 Über die erschwerenden Umzäunungen, welche die Schule Schammaïs kurz vor dem Tempeluntergange mit Ungestüm und Leidenschaftlichkeit eingeführt hatte, unter dem Namen »die achtzehn Bestimmungen« bekannt, und die größtenteils dahin gerichtet waren, den näheren Umgang und jede herzliche Vertraulichkeit mit Heiden unmöglich zu machen,19 fällte R. Josua ein sehr tadelndes Urteil. Er sprach sich darüber aus: »An jenem Tage hat die Schule Schammaïs das Maß der Lehre abgestrichen; wie wenn man Wasser in ein Gefäß mit Öl gießt, je mehr Wasser hineinkommt, desto mehr Öl abfließt,« was eben sagen will, je mehr Erschwerungen eingeführt werden, desto mehr Wesentliches geht von der Lehre verloren. Wie hier gegen die schammaitischen Erschwerungen, so scheint er auch gegen das Übermaß von Folgerungen der Hillelschen Schule eingenommen gewesen zu sein. Dahin gehört sein merkwürdiger Ausspruch: »Die Bestimmungen über Sabbat, Festopfer, Mißbrauch der Heiligtümer haben einen geringen Anhaltspunkt in der heiligen Schrift, aber viel Halachas.20 Die zweite Zange kann man wohl mit der ersten anfertigen, aber womit macht man die erste?« Aus derselben nüchternen, unbefangenen Ansicht heraus verwarf er aufs Entschiedenste den Einfluß einer Wundererscheinung bei Gesetzesentscheidungen. Es ist schon bekannt, daß er die Berufung auf das Bat-Kol zugunsten der Hillelschen Halachas nicht gelten lassen wollte; sein Grundsatz dabei war: Das Gesetz ist nicht für die Himmlischen, sondern für die Menschen mit ihrer eingenen Einsicht geoffenbaret.21

Dieser ausgeprägte und milde, besonnene Charakter machte R. Josua auch am meisten geeignet, die Vermittlerrolle zu übernehmen zwischen dem heraufbeschworenen Zorne des jüdischen Volkes und dem römischen Übermute. Er war der einzige Tannaï, der bei den römischen Machthabern Vertrauen genoß und wahrscheinlich auch suchte. Ohne ein verräterischer Römling zu sein, riet er in nüchterner Berechnung der beiderseitigen Kräfte zur Nachgiebigkeit. Der Tod R. Gamaliels und die feindselige Haltung der Juden gegen die Römer in den letzten Jahren des Kaisers Trajan und beim Regierungsantritte Hadrians scheinen R. Josua aus seinem unbedeutenden [49] Handwerkerleben herausgerissen und ihm die öffentliche Leitung überantwortet zu haben. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, daß er das erledigte Patriarchat als Stellvertreter verwaltet hat, wenigstens spricht der Umstand dafür, daß er den Bann von R. Elieser nach dessen Tode löste, eine Befugnis welche nur von einer dem Patriarchen gleichstehenden Autorität ausgeübt werden durfte. Seine Tätigkeit in den letzten Lebensjahren bildet einen wesentlichen Teil der Geschichte dieser Zeitepoche und wird dort ihre Stelle finden.

In der Reihe der Persönlichkeiten in diesem Kreise war R. Akiba ben Joseph unstreitig der begabteste, originellste und einflußreichste. Er gehört zu denjenigen geschichtlichen Erscheinungen, welche in der kurzen Spanne ihres Lebens die Fäden für das Gewebe der Zukunft aus sich heraus spinnen. – Seine Jugendgeschichte und sein Bildungsgang sind, wie bei allen tief in die Geschichte eingreifenden Charakteren, dunkel und höchst romantisch ausgeschmückt; indessen verbreiten diese Sagen so viel Licht, daß wir die Dunkelheit seiner Herkunft zu erkennen vermögen. Er soll nach einer Sage ein Proselyte gewesen sein und zwar aus dem Geschlechte des kananitischen Feldherrn Sißera, den die List und die schwache Hand eines Weibes getötet hatte.22 Nach einer andern Sage soll R. Akiba in einem dienenden Verhältnisse zu Kalba-Sabua gestanden haben, einem der drei reichsten Männer Jerusalems, welche mit ihren Vorräten die Not der Belagerung auf viele Jahre hatten verhüten wollen. Die Sage fügt hinzu, daß eine Tochter dieses reichen Jerusalemers, mit Namen Rachel, ihm ihre Neigung geschenkt habe unter der Bedingung, daß er sich Gesetzeskenntnisse – was in der Sprache der damaligen Zeit Bildung überhaupt bedeutete – aneignen sollte. Dadurch habe er sich entschlossen, zu vierzig Jahren in eine Schule einzutreten, um die Anfangsgründe zu erlernen; bis dahin sei er alles Wissens bar gewesen. Während der Zeit, die er zu seiner Heranbildung gebrauchte, habe die Tochter aus dem reichen Hause dem armen Lehrling ihre Liebe treu bewahrt, dem Unwillen ihres Vaters trotzend, der sie deswegen verstoßen und der ärmlichsten Existenz bloßgestellt haben soll.23 Von allen diesen dichterisch ausgemalten Zügen ist nur das eine festzuhalten, daß R. Akiba bis in sein vorgerücktes Alter sehr unwissend war. Erzählte er doch selbst später von sich, daß er im Stande der Unwissenheit die Gesetzeskundigen leidenschaftlich gehaßt habe.24 [50] Auch die Tatsache, daß er mit seiner Frau in dürftigen Umständen gelebt, ist geschichtlich. Denn eine durchaus glaubwürdige Nachricht erzählt, seine Frau habe ihre Haarflechten verkauft, um ihm das Notwendigste zur Lebensfristung zu liefern.25 Alle diese Hindernisse, die einen andern auf halbem Wege entmutigt hätten, dienten nur dazu, ihm den Stempel der Geisteshoheit aufzudrücken; seine kräftige Natur besiegte alle Hindernisse, überwand alle Schwierigkeiten und stellte ihn als den Gefeiertesten dieses Kreises hin.

Indessen hat sich sein schlummernder Geist nicht so schnell entwickelt, wie es sich die Sage dachte. Eine Quelle erzählt, daß er bereits mehrere Jahre Zuhörer R. Eliesers gewesen war, ohne von ihm beachtet worden zu sein. Dieser Lehrer der starren Überlieferung scheint ihn überhaupt mit gewisser Verächtlichkeit behandelt zu haben. Eines Tages hatte der Jünger gegen eine Behauptung R. Eliesers so viele schlagende Beweise geltend gemacht, daß er ihn in eine Enge ohne Ausweg getrieben hatte. Dazu bemerkte R. Josua gegen R. Elieser mit Anspielung auf einen Bibelvers: »Siehst du, das ist ja das Volk, das du verachtet hast, tritt doch auf und bekämpfe es.«26 Wohl mag auch die eigentümliche Methode R. Akibas bei Ermittelung neuer Gesetze R. Eliesers Mißbehagen an ihm so sehr erregt haben. Diese neue Lehrweise hatte sich Akiba von Nachum aus Gimso angeeignet, dessen Zuhörer er ebenfalls war, aber nicht zweiundzwanzig Jahre hindurch, wie die Sage wissen will. Das Unvollendete und bloß Hingeworfene dieser Schule erhob R. Akiba zu einem ausgebildeten System und bildete damit einen Wendepunkt in der jüdischen Geschichte.

Das ganze eigentümliche Lehrsystem R. Akibas war mit vollem Bewußtsein auf gewissen Prinzipien aufgebaut, aus denen sich die Konsequenzen von selbst entwickeln, wie er denn überhaupt als der einzige systematische Tannaï gelten kann. Dieses System betrachtete den vorhandenen Stoff der mündlichen Lehre nicht als einen toten Schatz, des Wachstums und der Bereicherung unfähig, oder, wie in den Augen R. Eliesers, als Gegenstand des bloßen Gedächtnisses, sondern er sollte eine ewige Fundgrube bilden, aus welcher sich bei richtiger Anwendung der gebotenen Mittel immer neue Schätze gewinnen lassen. Neue Gesetzesbestimmungen sollten nicht nach dem äußerlichen Maßstabe von Mehrheitsbeschlüssen entschieden werden, sondern ihre Berechtigung und Begründung in den geschriebenen Dokumenten des sinnvollen Bibelwortes nachweisen können. Als obersten Grundsatz seines Systems stellte R. Akiba seine Überzeugung [51] hin, daß der Wortlaut der Thora, namentlich in den gesetzlichen (halachischen) Teilen ganz verschieden sei von der Art jedes andern Schriftwerkes. Die menschliche Ausdrucksweise bediene sich außer dem notwendigen Wortbedarfe noch gewisser Wendungen, Redefiguren, Wiederholungen, Ausschmückungen, mit einem Worte einer gewissen Form, welche zum Verständnisse beinahe überflüssig und nur für den Wohllaut und den Geschmack berechnet sei, um die Sätze abzurunden und sie gewissermaßen zu einem Kunstprodukt zu stempeln. In der Sprache der Thora hingegen sei gar nichts Form, alles an ihr vielmehr Wesen; da gebe es gar nichts Überflüssiges, kein Wort, keine Silbe, nicht einmal ein Buchstabe; jede Eigentümlichkeit des Ausdruckes, jedes Flickwort, jedes Zeichen will als höhere Beziehung, als ein Fingerzeig, als eine tiefere Andeutung angesehen sein. In dieser Beziehung ging R. Akiba über seinen Lehrer Nachum aus Gimso weit hinaus, der nur in einigen Partikeln der Schrift Andeutungen gefunden hatte; jener aber fand sie in jedem Elemente des Satzes, welches nicht ganz, streng genommen, zum Sinne gehört. R. Akiba fügte also eine Menge Deutungs-und Folgerungsregeln zu denen Hillels und Nachums hinzu, welche ganz neue Anknüpfungspunkte für das traditionelle Gesetz boten. War eine Folgerung aus dem richtigen Gebrauch der Regeln gefunden, so konnte nach diesem System dieselbe wiederum als Vordersatz einer neuen Schlußfolgerung gelten, und so ins Unendliche.27 R. Akiba schreckte bei diesem Verfahren vor keiner Konsequenz zurück. Sein Schüler Nehemias aus Emmaus hatte das Deuten einer Partikel bedenklich gefunden in dem Satze: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, ehrfürchten,« weil eine solche hier zu der Annahme führen würde, man dürfe neben Gott noch ein anderes Wesen göttlich verehren, was bei den Angriffen des Christentums auf die absolute göttliche Einheit gar nicht so harmlos erschien; Nehemias war aus dieser Bedenklichkeit im Begriff, sich von dieser Lehrweise loszusagen. R. Akiba hingegen beseitigte den Einwand durch die Bemerkung, auch in diesem Satz wolle das Gesetz andeuten, daß man nächst Gott noch sein heiliges Wort, die Thora, verehren müsse.

R. Akiba hat mit seinem System eine neue Bahn gebrochen, neue Gesichtspunkte eröffnet; dem mündlichen Gesetzesstoffe, von dem einige gesagt hatten, er schwebe an einem Haare und habe keinen Anhaltspunkt in der Schrift, war damit ein Halt gegeben; halachische Streitigkeiten waren dadurch teilweise abgeschnitten. Die Mitwelt R. Akibas war überrascht, geblendet und begeistert von diesem Neuen, das doch zu gleicher Zeit ganz alt schien. R. Tarphon [52] oder Tryphon, der früher R. Akiba überlegen war, äußerte in einem verehrenden Tone zu ihm: »Wer von dir weicht, weicht von seinem ewigen Leben, was die Überlieferung vergißt, das stellst du durch deine Deutungen wieder her.«28 R. Josua sprach davon mit Bewunderung: »Wer nähme die Erdschollen von den Augen R. Jochanans ben Sakkaï, daß er sehen könnte, wie seine Befürchtung eitel war, daß einst eine Halacha aufgegeben werden möchte, weil sie keinen Anhalt im Schrifttexte habe; siehe da, R. Akiba hat dafür eine Anlehnung gefunden.«29 Man gestand sich ein, daß das Gesetz vergessen oder doch vernachlässigt worden wäre, wenn R. Akiba ihm nicht eine Stütze gegeben hätte.30 In übertreibender Begeisterung sagte man, viele Gesetzesbestimmungen, die Mose unbekannt waren, seien R. Akiba aufgegangen.31 Eine Sage stellt dieses Verhältnis, das man sich zwischen Mose und R. Akiba dachte, in einem eigenen Lichte dar. Mose verwunderte sich, welchen Zweck die Krönchen hätten, welche einigen Buchstaben der Thora hinzugefügt seien, und Gott belehrte ihn hierüber, daß einst nach einer langen Reihe von Geschlechtern R. Akiba ben Joseph aus diesen Krönchen Halachas herausfinden werde. Mose habe dann eine Sehnsucht empfunden, diese Größe im Geiste zu schauen; aber er mußte sich dazu acht Reihen hinter R. Akiba setzen und konnte dessen Worte gar nicht fassen.32 Indessen, so beifällig man auch dieses Lehrsystem, zu dessen Handhabung Verstandesschärfe und Geistesgewandtheit erforderlich war, aufgenommen und später der Halacha-Entwickelung zugrunde gelegt hat, so hatte es doch auch seine Gegner gefunden.

Wie R. Akiba durch neue Deutungen der Traditionslehre die innere Berechtigung zuerkannte und sicherte, so verhalf er ihr auch zu einer methodischen Abrundung und Ordnung. Er legte den Grund zu dem möglichen Abschlusse des reichen Stoffes. Es ist bereits entwickelt worden, daß die Halachas bisher ohne Zusammenhang und ohne systematische Gruppierung vorgetragen wurden. Es erforderte daher, um sich die ganze Masse derselben anzueignen und zu behalten, einen jahrelangen Umgang mit den Pflegern derselben, unermüdlichen Fleiß und ein treues Gedächtnis. R. Akiba aber erleichterte das Studium der Gesetze, indem er sie systematisch in Gruppen ordnete und dadurch dem Gedächtnisse zu Hilfe kam. Das Ordnen der Gesetze führte er auf zweierlei Weise aus; er stellte [53] sie zuerst nach ihrem Inhalte zusammen, so daß alle Gesetze über Sabbat, Ehe, Scheidungen, über Mein und Dein ein Ganzes bildeten. Dadurch gruppierte sich der ganze Stoff in gleichartige Teile, von denen jeder Teil den Namen Masechta (Textus, Fach) führte. Innerhalb jedes Teils ordnete er die Gesetze dann nach Zahlen, dem Gedächtnisse dadurch eine leichte Handhabe bietend; so wurden z.B. zusammengestellt: Aus vier Veranlassungen können Beschädigungen an Eigentum entstehen; fünf Menschenklassen dürfen nicht die Priesterhebe ausscheiden; fünfzehn Frauen entbinden wegen Verwandtschaftsverhältnisse von der Schwagerehe; sechsunddreißig Verbrechen sind in der Schrift mit der Ausrottungsstrafe belegt.33 Von dieser ordnenden, methodischen Tätigkeit R. Akibas nach Fächern und Zahlen sagte man, er habe Ringe oder Handgriffe für das Gesetz gemacht, er habe, wie in einem wohlgeordneten Schatze, alles an Ort und Stelle gebracht.34 – Die halachische Ordnung R. Akibas führte den Namen Mischna, mit dem besondern Zusatze Mischna des R. Akiba, zum Unterschiede von der spätern Sammlung. Auch im christlichen Kreise ist sie unter dem Namen R. Akibas Deuterosis bekannt geworden.35 Sie wurde auch Midot genannt (Maße, in der damaligen Volkssprache Mechilta, Mechilin, was dasselbe bedeutet), wahrscheinlich wegen der Zahlen, welche das Verbindungsmittel bildeten. Die Mischna oder Midot war, obwohl geordnet, keineswegs niedergeschrieben worden, sondern ihr Inhalt blieb nach wie vor mündlich; es war eigentlich weiter nichts, als eine leichtere, faßlichere Methode, deren sich R. Akiba bei der Mitteilung der Halachas bediente. Indessen hat R. Akiba wohl kaum das Ordnen des ganzen, viel zu umfassenden Stoffes allein vollendet; seine Jünger, die in seinem Sinne tätig waren, haben ohne Zweifel die Sammlung ergänzt; sie machte später den Grundbestandteil beim Endabschlusse des ganzen Traditionsmaterials aus.

Die durchweg originelle Lehrweise R. Akibas, welche sich von den andern inhaltlich durch die scharfsinnige Behandlung des Stoffes und äußerlich durch die übersichtliche Ordnung unterschied, errang sich nach und nach, trotz der Gegner von zwei Seiten her, das höchste Ansehen und die herrschende Giltigkeit, die bisherige Behandlungsweise allmählich verdrängend. Man scheute sich nicht einzugestehen, daß man über gewisse Punkte bisher im Irrtum oder im Zweifel war, bis R. Akiba durch seine eigene Art das [54] Rechte getroffen. Oft wurden die ältern Mischnas (Mischna rischona) von den jüngern (M. acharona oder M. de R. Akiba) geradezu beseitigt und die letzteren als Norm angenommen.36 Der Name des Neubegründers der mündlichen Lehre wurde durch seine eigentümliche Lehrweise einer der gefeiertesten in den nahen und entfernten jüdischen Gemeinden; seine dunkle Abstammung und seine ehemalige niedrige Stellung verliehen ihm einen um so höhern Glanz. Die lernbegierige Jugend, welche mehr Geschmack am scharfsinnigen Entwickeln und Vergleichen, als am trockenen gedächtnismäßigen Überliefern fand, scharte sich um ihn. Die Zahl seiner Zuhörer übertreibt die Sage und gibt sie auf zwölftausend und sogar auf das Doppelte an; eine bescheidene Nachricht jedoch beschränkt sie auf dreihundert. Von dieser jedenfalls zahlreichen Jüngerschar begleitet, soll R. Akiba einst seine Frau Rachel wieder besucht haben, von welcher er auf ihre eigene Veranlassung viele Jahre hindurch entfernt gewesen, während welcher sie in großer Dürftigkeit gelebt hatte. Die Szene ihres Wiedersehens hat eine wohl nicht ganz sagenhafte Nachricht recht malerisch dargestellt. Aus der ganzen Gegend war eine Menge Volkes zusammengeströmt, um den hochberühmten Lehrer zu sehen, darunter auch Rachel, sehr ärmlich gekleidet. Bei seinem Anblicke zerteilt sie ungeduldig die Menge und drängt sich an ihren Jugendgeliebten, um dessen Knie zu umfassen. Die Jünger waren schon im Begriffe, das zudringliche Weib zurückzustoßen, da ruft ihnen der Meister zu: »Laßt sie, denn was ich bin und was ihr seid, haben wir ihr allein zu danken.« Sogar ihr harter Vater Kalba-Sabua, stolz auf einen solchen Schwiegersohn, soll ihm sein ganzes Vermögen hinterlassen haben. Von dieser Zeit an lebte R. Akiba mit seiner Frau in großem Reichtume, sie, deren Armut bisher so erschreckend gewesen sein soll, daß sie nichts als Stroh zu ihrem Lager hatten.37 Seine Dankbarkeit gegen seine hartgeprüfte Frau stand zu den Opfern im Verhältnis, die sie ihm so zuvorkommend gebracht hatte; unter anderem schenkte er ihr einen seltenen Schmuck von Gold, worauf die Stadt Jerusalem geprägt war. Auf dieses kostbare Geschenk war des Patriarchen Frau nach Weiberart recht neidisch. R. Gamaliel verwies ihr aber diese Schwachheit mit der Bemerkung, nur jene Frau verdiene eine solche Auszeichnung, die für ihren Mann sich sogar ihres Haarschmuckes beraubt habe.38

Seinen beständigen Aufenthalt hatte R. Akiba in Bene-Berak, [55] wo auch sein Lehrhaus war; die Lage dieses durch ihn berühmt gewordenen Ortes soll südöstlich von Joppe gewesen sein39; andere verlegen es viel südlicher in die Nähe von Asdod (Azotus)40; doch war R. Akiba als Mitglied des Synhedrions oft in Jabne, und selten wurde ein Beschluß ohne ihn gefaßt. Als er einst bei einer wichtigen Verhandlung im Rate fehlte, konnte die aufgeworfene Frage nicht entschieden werden; denn man sagte: »Wenn R. Akiba abwesend ist, so fehlt die Lehre.«41 Die Huldigungen, die ihm von so vielen Seiten zu Teil wurden, flößten ihm aber nicht im geringsten jenen Stolz ein, der nur zu oft als beständiger Begleiter des Ruhmes erscheint; nach wie vornahm er die bescheidene Stellung gegen seine ehemaligen Lehrer und Genossen ein. War ein Auftrag von delikater Natur auszuführen, so trug man ihn nur R. Akiba auf, und man rechnete dabei auf sein feines Schicklichkeitsgefühl wie auf seine Bereitwilligkeit. Er hatte aber wegen seines bescheidenen Charakters unter R. Gamaliels Patriarchat und später unter R. Josuas Leitung keinen besondern Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten; erst nach dem Tode des letztern galt er als Oberhaupt und Leiter der jüdischen Gesamtheit und half jene gewaltigen Ereignisse vorbereiten, welche unter dem Namen des Aufstandes von Bar-Kochba das römische Reich zu erschüttern drohten.

In der Entwickelung der jüdischen Lehre, in welche R. Akiba gewissermaßen ein umwälzendes Element gebracht hatte, nimmt R. Ismael ben Elisa eine nicht unbedeutende Stellung ein; er vertrat in der Auslegung und Deutung des schriftlichen Gesetzes den natürlichen Sinn und sozusagen den gesunden Menschenverstand und wurde dadurch der Hauptgegner des von R. Akiba ausgegangenen Lehrsystems. R. Ismael, gleich R. Akiba ein jüngerer Zeitgenosse dieses Geschlechts, war Sohn eines der letzten Hohenpriester vor der Tempelzerstörung, ohne Zweifel aus der hohenpriesterlichen Familie Phabi. Ein Hoherpriester dieser Familie, wahrscheinlich Elisa, sein Vater (bei Josephus fälschlich Ismael ben Phabi), wurde in Rom als Geisel zurückgehalten, als er beim Kaiser Nero im Interesse des Tempels gegen Agrippa II. eine Klage führte.42 Möglich, daß sich von diesem Umstande die Sage erhalten hat, R. Ismael sei durch R. Josua um einen hohen Preis losgekauft und aus Rom nach Judäa gebracht worden.43 Irrtümlich haben einige diesen R. Ismael für einen Hohenpriester gehalten, den Titus zugleich [56] mit dem Patriarchen Simon zum Tode verurteilt haben soll.44 – R. Ismael lebte in Südjudäa unweit des idumäischen Landstrichs in einer unfruchtbaren Gegend45, sein Wohnort wird Kephar-Aziz genannt.46 Vom Weinbau lebend und bemittelt, verwendete er sein Vermögen auf Pflege und Ausstattung jüdischer Mädchen, welche durch die Kriegsleiden verwaist oder verarmt waren.47 Seine Ansichten über das Verhältnis der überlieferten Lehre zum Schriftworte zeichnen sich durch eine verständige ungekünstelte Haltung aus und scheinen ganz besonders gegen R. Akibas künstliches Lehrsystem gerichtet zu sein. Einer seiner Grundsätze lautete: Die traditionellen Bestimmungen dürfen nicht zu den ausdrücklichen Worten der Schrift in Widerspruch stehen, die Halacha müsse mit dem Buchstaben des Textes harmonieren. Nur in drei Fällen hebe die überlieferte Halacha den Sinn des schriftlichen Gesetzes geradezu auf, in allen andern Fällen aber müsse sich jene diesem unterordnen. Indessen weicht dieser Grundsatz nicht allzu sehr von R. Akibas Annahme ab, da auch er die Halacha im Schriftworte begründet wissen wollte. Nur in der Art und Weise, wie jene aus diesem gesucht und abgeleitet werden soll, gingen die zwei originellen Tannaiten weit auseinander. Nach R. Ismael führte die göttliche Gesetzgebung der Thora eine durchaus menschliche Sprache, worin eigene Redewendungen, sprachgebräuchliche Wiederholungen, rednerische Ausmalungen vorkommen, auf welche eben kein besonderes Gewicht zu legen sei, da sie weiter nichts als den Wert der Form beanspruchen. Dadurch verwarf er durchweg sämtliche Herleitungen R. Akibas, die sich bloß auf ein scheinbar überflüssiges (pleonastisches) Wort, eine müßige Silbe oder gar einen einzelnen Buchstaben stützen. R. Akiba folgerte z.B. die Todesstrafe durch Feuer für eine verheiratete ehebrecherische Priestertochter aus einem Buchstaben, darauf entgegnete ihm R. Ismael: »Also wegen dieses Buchstabens willst du den Feuertod verhängen lassen?« – Nur an drei Stellen gab R. Ismael jenem zu, daß eine Partikel (eth) eine besondere Deutung erheische, in allen andern gehöre sie lediglich zum syntaktischen Bau der Sprache. Entschieden sprach er sich daher gegen die Regeln der Erweiterung und Ausschließung aus, welche in R. Akibas System eine so wichtige Stelle einnahmen; nur die logisch einleuchtenden Hillelschen Regeln ließ er als Norm gelten. Aber auch diese wollte er in der heiligen Schrift ausdrücklich begründet sehen, darum bemühte er sich nachzuweisen, daß die Schlußfolgerung vom Niedern zum Höhern an zehn Stellen in der Bibel [57] selbst vorkomme und eben dadurch berechtigt erscheine. Auch bei der Handhabung der berechtigten Folgerungsregeln wollte er Maß und Beschränkung beachtet wissen; man dürfe nach seiner Ansicht aus einer bloßen Folgerung weder Geld- oder gar Leibesstrafe verhängen, wenn sie nicht ausdrücklich in der Schrift ausgesprochen ist, noch aus einem bloß gefolgerten Gesetze weitergehende Folgerungen ziehen.48 Man wird aus diesen wenigen Zügen die Theorie eines erleuchteten Geistes erkennen, welcher die Aufgabe, die ihm als Ausleger des Gesetzes oblag, mit gewissenhafter Vorsicht zu lösen trachtete. R. Ismael hatte ebenfalls seine eigene Schule, welche unter dem Namen Bet-Rabbi Ismael bekannt ist; in dieser entwickelte er besonders die Regeln, deren man sich bei der Auslegung und Anwendung des geschriebenen Gesetzes zu bedienen hat. Er erweiterte die sieben Hillelschen Deutungsformeln in dreizehn, indem er eine derselben in mehrere Unterabteilungen zerlegte, eine andere verwarf und eine ganz neue seinerseits hinzufügte.49 Die dreizehn Folgerungsregeln R. Ismaels sind als vollständige Norm anerkannt worden, ohne daß jenes damit teilweise im Widerspruche stehende System R. Akibas verdrängt worden wäre; beide blieben als gleichberechtigt bei den Spätern im Gebrauch. Sonst ist von R. Ismael nur sehr wenig bekannt; er gehörte zu dem Kreise, welcher, ohne Zweifel wegen politischer Verhältnisse, das Synhedrion von Jabne nach Uscha verlegte.50 Später büßte er seine Anhänglichkeit an seine Nation und die Lehre mit dem Leben und wird zu den Märtyrern der hadrianischen Verfolgung gezählt. R. Akiba, sein Gegner in der Theorie, hielt ihm eine huldigende Gedächtnisrede51, in der tiefen Ahnung, daß ihn bald dasselbe Los treffen würde.

Diese fünf Männer, R. Gamaliel der Ordner, R. Elieser der starre Erhalter des Alten, R. Josua der Vermittler, R. Akiba der Systematiker und R. Ismael der logische Denker, machen den Kern und den Mittelpunkt des Zeitalters aus, sie bilden ebenso viele Strahlen, die aus einem Punkte auseinander fahren, um sich in einem andern wieder zu sammeln. R. Gamaliel und R. Josua hatten mehr das Praktische im Auge, jener die Einheit und die Zentralisation des jüdischen Gesamtwesens, dieser das Vermittlungsgeschäft in den schroffen Gegensätzen. Die übrigen drei verfolgten mehr ein theoretisches Interesse, R. Elieser die Erhaltung der Lehre streng in der überlieferten, R. Akiba und R. Ismael in [58] der anwendungsfähigen Form nach gewissen Prinzipien. Um diese fünf Riesengestalten gruppierte sich die große Zahl der Tannaiten dieses Geschlechtes, die sich dem einen oder dem andern dieser fünf in Theorie und Lebensrichtung zuneigten. In der Tat gibt es nur wenige Zeiten in der gestaltenreichen jüdischen Geschichte, die eine so große Fülle geistig geweckter, in der Hingebung an die Lehre ganz und gar aufgegangener Männer aufzuweisen hätten. Es war, als ob für die schwere, prüfungsreiche, große Zeit auch die bewährtesten Helden geschaffen worden wären. Wieder einmal seit der Makkabäergeschichte hatte das Judentum einen Kampf auf Tod und Leben zu bestehen, und es fehlte nicht an Kämpfern, die ihr Herzblut dafür eingesetzt haben. Das große Unglück des Unterganges aller staatlichen Verhältnisse mag auch dazu beigetragen haben, den Geist zu reifen und die Kräfte zu stählen. Die Erhaltung und der Ausbau der ererbten Lehre war der Vereinigungspunkt für diese Männer von Tatkraft und Geist, dem sie alle ihre Energie, ihr Sein und Tun zuwendeten. Alle ihre zahlreichen Zeitgenossen des zweiten Geschlechtes hießen in der Sprache jener Zeit die Geharnischten (Bâale Trêssin), weil das Synhedrion und die Lehrhäuser einem Kampfplatze glichen, auf dem die Teilnehmer einander Gesetzeskämpfe (μάχαι νομικαὶ) lieferten. Diese waren teils Synhedrialmitglieder, welche bei jedem Beschlusse eine entscheidende Stimme abzugeben hatten, teils ordinierte Beisitzer, durch die Weihe des zeremoniellen Händeauflegens in den Rang der Weisen (Ordinierten) erhoben, aus deren Mitte sich das Kollegium zu ergänzen pflegte, teils endlich Jünger, welche auf der Erde »zu den Füßen ihrer Meister« als Zuhörer saßen.

Zu den hervorragenden Mitgliedern gehörten R. Tarphon oder Tryphon aus Lydda, reich und freigebig, heftig und ungestüm, ein zelotischer Feind der Judenchristen, der auch in der christlichen Welt bekannt war52; ferner R. Elieser aus Modin, eine Autorität in der hagadischen Auslegung, und R. José der Galiläer, von Gemüt weich und voller Menschenliebe. Ein einziger Zug mag diesen charakterisieren. Er war gezwungen, sich von seiner Frau wegen ihrer Tücke zu scheiden, die sich darauf mit einem Stadtwächter verheiratete, und als dieser erblindete, führte sie ihn in alle Straßen zu betteln, nur nicht in diejenige, wo R. José wohnte. Eines Tages aber hatte sie ihr Mann denn doch dazu gezwungen, aber es fiel ihr schwer, als Bettlerin die Schwelle zu betreten, wo sie als Hausfrau gewaltet hatte. Der blinde Mann [59] hatte sie aber durch Mißhandlungen zu diesem Schritte drängen wollen und ihr Wehklagen drang ins Ohr R. Josés. Hinauseilen, ihnen zureden und beide, seine ehemalige tückische Frau samt ihrem zweiten Gatten ins Haus nehmen und sie mit allem Nötigen zu versorgen53, war für R. José nur die einfache Erfüllung einer Pflicht, welche ihm vom Gesetz auferlegt schien. – Auch R. Isebab, Schriftführer im Synhedri on, R. Chuzpit, öffentlicher Sprecher und Ausleger (Meturgeman), R. Juda ben Baba, der Chasidäer (wahrscheinlich zu dem entsagenden Essenerorden gehörig), R. Chanania ben Teradion, der mit allen eben Genannten später den Märtyrertod erlitten hat, sind hierher zu zählen; ferner R. Eleasar Chasma und R. Jochanan ben Gudgada, beide bekannt wegen ihrer mathematischen Kenntnisse und ihrer Dürftigkeit, welche erst auf R. Josuas ausdrückliche Ermahnung vom Patriarchen mit einem Amte belohnt wurden; R. Jochanan ben Nuri aus Bet-Schearim (in Galiläa)54, ein warmer Anhänger R. Gamaliels; R. José ben Kisma, ein Lobredner der Römer, und endlich R. Ilai und R. Chalafta, beide mehr durch ihre Söhne als durch sich selbst berühmt geworden. – Aus der Klasse der Jüngergenossen haben vier tiefer in die Geschichte eingegriffen und werden von den Zeitgenossen mit Auszeichnung genannt, Samuel, der Jüngere, und drei mit dem Vornamen Simon. Jüngergenossen waren diejenigen, welche durch irgend einen zufälligen Umstand der ordinierenden Weihe (Semichah) entbehrten und eben dadurch von manchen Funktionen, wie z.B. der Synhedrialmitgliedschaft und gewisser Richterämter ausgeschlossen waren. Auch den Ehrentitel Rabbi erhielten Jüngergenossen nicht und standen daher nicht einem eigenen Lehrhause vor. Die Rabbiernennung war überhaupt erst seit der Tempel zerstörung in Gebrauch gekommen und höchstwahrscheinlich erst seit Jochanan ben Sakkaï eingeführt worden.55

Samuel, der Jüngere (Hakaton)56, besaß seltene Demut und Selbstverleugnung, so daß man ihn einen echten Jünger Hillels nannte. Bekannt ist er durch die Verwünschungsformel gegen die Judenchristen, die er verfaßt hat, und durch den prophetischen Blick, den er auf seinem Totenbette in die nächste düstere Zukunft tat. Er sprach die inhaltsschweren Worte: »Simon und Ismael sind dem Untergang geweiht, ihre Genossen dem Tode, das Volk der Plünderung, harte Verfolgungen werden eintreten«, die Anwesenden [60] wußten gar nicht, was er damit sagen wollte, fügt der Bericht hinzu. Samuel starb kinderlos und der Patriarch selbst hielt ihm die Gedächtnisrede. Von den drei Jüngergenossen namens Simon hatte Simon ben Nanos einen Namen wegen seiner tiefern Kenntnis des jüdischen Privatrechtes; R. Ismael empfahl daher allen Rechtsbeflissenen den Umgang mit ben Nanos.57 Simon ben Asaï war ein Feind der Ehe, und mit dem dritten, Simon ben Soma, vertiefte er sich in die theosophische Spekulation jener Zeit. Unter der großen Zahl der Gesetzeslehrer, von denen viele ihr Leben für die Lehre eingesetzt haben, wird nur ein einziger genannt, der von ihr abfiel und dadurch eine fluchwürdige Berühmtheit erlangte. Elisa ben Abuja, mehr bekannt unter seinem Apostatennamen Acher, wurde durch eine irregeleitete Richtung ein Verfolger des Gesetzes und seiner Treuen. – Außerhalb Judäas gab es in diesem Zeitalter hin und wieder Pflanzstätten für die geistige Tätigkeit, ganz besonders in demjenigen Lande, das später berufen war, Judäa abzulösen und die jüdische Geschichte in neue Bahnen zu leiten. Die zahlreichen Gemeinden in Babylonien und den parthischen Ländern hatten zwei Mittelpunkte für die Lehre: Nisibis, der Zankapfel zwischen Römern und Parthern, und Nahardea, die uralte Hauptstadt eines kleinen, fast unabhängigen jüdischen Staates. In Nisibis lehrte R. Juda ben Bathyra58, höchstwahrscheinlich ein Abkömmling der Familie Bene-Bathyra, welche unter dem Könige Herodes Leiter des Synhedrions war. In Nahardea wird als Lehrer der Tradition genannt Nehemia aus Bet-Deli.59 Von diesem Mittelpunkte aus scheint der hartnäckige Kampf, der gegen Trajan in der Euphratgegend gerichtet wurde, ausgegangen zu sein, wie später erzählt werden wird. Auch in Kleinasien hatte das Halachastudium seine Pfleger, wenn auch die Namen derselben nicht bekannt geworden sind. Cäsarea, die Hauptstadt der Kappadozier – auch Mazaca genannt – scheint der Hauptsitz dafür gewesen zu sein.60 R. Akiba fand auf seinen Reisen in Kleinasien in dieser Stadt einen Traditionskundigen, der mit ihm eine halachische Verhandlung führte. Die Juden Ägyptens, welche nach der Schließung ihres Oniastempels auf Vespasians Befehl ihre Kultusstätte eingebüßt hatten, scheinen ihre Halachalehrer in Alexandrien gehabt zu haben. Doch räumte man in Judäa diesen auswärtigen Schulen keine Autorität ein, und sie selbst betrachteten das Synhedrion in Judäa als die letztentscheidende Behörde.


Fußnoten

1 Genesis Rabba c. 42. Abot de R. Nathan, c. 6. Pirke de R. Elieser c. 1.


2 Schir-ha-Schirim Rabba edit. Frankf. 6, d zu Vers Lereach.


3 Sabbat 130, verglichen mit Jeruschalmi Terumot V, 43 c und an mehreren Stellen; siehe Heilperin Seder ha-Dorot zum betreffenden Artikel.


4 [Vergl. Frankel, Hodegetica in Misch., S. 83].


5 Sukka 28 a.


6 Siehe Note 5.


7 Taanit 25 b.


8 [In Jer. Moed. 81 d heißt es: רזעילא 'ר) דיפקה אל (scil. וינפב ויתורהט ופרשש לע אלא. Welche Quelle der Verf. im Auge hat, weiß ich nicht].


9 Plinius des Jüngern Briefe. Buch X, Brief 97, 98.


10 Aboda Sarah 16 b ff. und besonders Midrasch Kohelet 84 d ff. zum Vers Kol Hadebarim.


11 Abot II, 15.


12 Synhedrin 68 a und 101 a. Jeruschalmi Sabbat II, 5 b. Sota Ende.


13 [Vergl. Frankel, a.a.O., S. 77 a, 1].


14 Synhedrin, 101 a. [Nach dem Zusammenhang scheint eine solche Anspielung nicht vorzuliegen.]


15 Erachin 11 b.


16 Taanit 7 a.


17 Horajot 10 a.


18 Tosifta Sota, c. 15; b. Baba Batra 60 b.


19 S. Band III, Note 26.


20 [Die Autorschaft R. Josuas inbezug auf diesen Ausspruch ist zweifelhaft].


21 Siehe Note 6.


22 [Vergl. Brüll, Jahrb. II, S. 155].


23 Ketubbot 62 b. Nedarim 50.


24 Pesachim 49 b.


25 Jeruschalmi Sabbat VI, p. 7 d und Sota Ende.


26 Jeruschalmi Pesachim VI, p. 33 b.


27 Siehe Note 7.


28 Sifri Parascha Behalotecha, Nr. 75.

29 Sota 27 b.


30 Sifri Parascha Ekeb, Nr 48.


31 Pesikta Rabbati Parascha 14. Numeri Rabba, c. 19.


32 Menachot 29 b.


33 Siehe Note 8.


34 Abot de R. Nathan, c. 18. Gittin 67 a.


35 Epiphanius contra Hæreses, s. Note 2.


36 Siehe Note 8.


37 Nedarim 50 a. Ketubbot 62 b.


38 Jeruschalmi Sabbat, IV, 7 d. Sota Ende und Nedarim das.


39 Schwarz, Tebuot ha-Erez 77 b.


40 Reland, Palaestina 615 und 623, nach Eusebius' Onomasticon.


41 Midrasch Chasith oder Canticum edit. Frankf., 6 d, 1, 20. [Es ist die Rede vom Lehrhaus des R. Elieser].


42 S. B. III, 5. Aufl., p. 443.


43 Gittin, 58 a.

44 Vergl. Frankels Monatsschrift, Jahrg. 1852, Nr. 8, S. 320.


45 Ketubot 64 b.


46 Kilaim VI, 4


47 Nedarim 66 a.


48 Siehe Note 7.


49 Siehe Frankels Monatsschrift, Jahrgang 1852, Nr. 4, S. 157 ff., und Frankel, Darke ha-Mischna, p. 49.


50 b. Baba Batra 28 a, b.


51 Mechilta Parascha Mischpatim, 18.


52 Sabbat, 116 a. Justinus Martyr hat wohl deswegen in seinem fingierten Dialog den Gegner des Christentums Tryphon genannt.


53 Jeruschalmi Ketubot XI, 3, 34 b. Numeri Rabba, c. 34.


54 Frankel, Darke ha-Mischna, p. 124.


55 Siehe Note 9.


56 Synhedrin 11 a. Berachot 28 b, 29 a. Jeruschalmi Sota Ende. Vergl. Frankels Monatsschrift, 1852, S. 320.


57 Baba Batra 175 b.

58 Synhedrin 32 b und viele andere Stellen.


59 Jebamot 122 a.


60 Das., 121 a und besonders Jerus. Jebamot XV, p. 15 d.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 62.
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