[71] Verhältnis des Christentums zum Judentume. Sektenwesen; Judenchristen, Heidenchristen, Ebioniten, Nazaräer. Trennung der Judenchristen von der jüdischen Gemeinde. Gnostiker. Maßregeln des Synhedrions gegen den Einfluß des Christentums. Proselyten. Akylas.
Aus der kleinen Zahl von 120 oder 500 Personen,1 welche die einzigen Anhänger Jesu nach seinem Tode waren, hatte sich, befördert vom Eifer seiner Hauptjünger und namentlich des Paulus, eine christliche Gemeinde gebildet. Paulus, der einen fruchtbaren und praktisch ausführbaren Gedanken hinzugebracht hatte, war außerordentlich rührig, die Heiden durch den Glauben an den auferstandenen Christus für die jüdische Sittenlehre und die Juden durch den Glauben an den erschienenen Messias für die Überzeugung von der Unwirksamkeit des jüdischen Gesetzes zu gewinnen. Das junge Christentum war als Glückskind in die Welt getreten. Es war schon ein glücklicher Wurf, daß eben dieser feuereifrige, unruhige, leidenschaftliche Saulus von Tarsus aus einem Verächter nicht nur Anhänger, sondern auch Hauptbegründer geworden war. Denn er hatte ihm erst die rechte Bahn geöffnet, »in die Fülle der Heiden einzugehen;« ohne ihn hätte sich die Jesuslehre als Bekenntnis einer unfertigen, halbessäischen, aus unwissenden Jüngern und zweideutigen Jüngerinnen bestehenden Sekte schwerlich lange behaupten können. Aber auch andere glückliche Umstände sind dem Christentume zustatten gekommen. Einerseits die Lauheit und Gleichgültigkeit griechisch gebildeter Juden in Alexandrien, Antiochien und Kleinasien gegen die Riten und Satzungen des Judentums und anderseits der Ekel sittlich denkender Griechen und Römer vor dem unheiligen und götzendienerischen Heidentum und ihre Geneigtheit, sich die auf einem erhebenden Gottesbewußtsein beruhende Sittenlehre des Judentums anzueignen.
[71] Diese beiden Klassen, gebildete Juden und sittliche Heiden, fanden an dem paulinischen Christentum, das sie von der Beobachtung der jüdischen Religionsvorschriften wie Sabbat, Speisegesetze und namentlich Beschneidung, entbunden hatte, ihre volle Befriedigung. Jene nahmen vielleicht den schwer begreiflichen Glauben an den gekreuzigten Messias, als Gottmensch und Sohn Gottes, als etwas Unwesentliches in den Kauf; für diese bildete dieser Glaube gerade den rechten Übergang von der Vielgötterei des Heidentums zur strengen Gotteinheitslehre des Judentums. Besonders günstig für das Christentum wirkte die Tempelzerstörung und der scheinbare Untergang der jüdischen Nationalität. Die Verzweifelten, Schwachen und Versöhnungsbedürftigen unter den palästinensischen und auswärtigen Juden, die durch diesen tragischen Fall einen Riß in ihrem Herzen fühlten, gaben sich dem Glauben an die Sündenvergebung und Rechtfertigung (Gerechtigkeit, Zechút) durch den Tod des Messias um so williger hin, als jener Glaube ihnen wenig Opfer auferlegte und sie mit der Heidenwelt versöhnte. Der ganze Essäerorden und die Jünger Johannes des Täufers scheinen sich während des bittern Krieges mit den Römern und nach dem Fall des Tempels den Jesusjüngern völlig angeschlossen zu haben. Noch besonders zu statten kam dem Christentum eine politische Maßregel, die infolge der Besiegung Judäas getroffen wurde. Jeder Jude war durch ein Gesetz Vespasians gezwungen, die ehemalige Tempelsteuer als eine Art Leibzoll an die römischen Behörden abzuliefern, und diese erste Judensteuer kam den Juden in Rom, Griechenland, Kleinasien, Ägypten und überhaupt der Diaspora um so drückender vor, als sie der erste Schritt war, ihre Gleichstellung im römischen Reiche als Vollbürger zu verkümmern. Manche, denen diese Abgabe als eine Last oder als eine Zurücksetzung verhaßt war, suchten sich ihr durch Verleugnung ihrer jüdischen Abstammung zu entziehen. Das half aber für die Dauer nicht; denn der dritte flavianische Kaiser, der habgierige und zugleich grausame Domitian, ließ diese Steuer mit aller Strenge eintreiben und diejenigen untersuchen, die ihr jüdisches Bekenntnis verheimlichen wollten. Die Not machte erfinderisch; so manche wandten ein Mittel an, um der lästigen Judensteuer zu entgehen. Sie machten das Bundeszeichen an ihrem Leibe unkenntlich, indem sie sich eine künstliche Vorhaut machten (Epiplasmos, meschichat Orlah). Von der gesetzgebenden Behörde in Palästina, von Jabne aus, tadelte man natürlich dieses Verfahren aufs Strengste, als eine Verleugnung des Abrahambundes. Eine palästinensische Autorität, Eleasar aus Modiim, erklärte, derjenige, welcher sich eine künstliche Vorhaut mache, verwirke hiermit seine Seligkeit oder seinen Anteil an der zukünftigen Welt (Olam ha Ba), selbst wenn er unterrichtet im Gesetze sei und [72] einen frommen Lebenswandel führe. Einige waren sogar der Ansicht, daß eine nochmalige Beschneidung notwendig sei.2
Nun traten Paulus, seine Jünger Timotheus, Titus und andere, wie überhaupt seine Schule auf und lehrten, die Beschneidung sei, wie das ganze Gesetz, durch Jesu Ankunft und Tod aufgehoben. Die unbeschnittenen Juden seien, wenn sie nur den rechten Glauben [73] hätten, die wahren Nachkommen Abrahams, sie seien »Auserwählte, Priester, Könige«. Diese Lehre, welche zugleich Vorteil gewährte, fand ohne Zweifel Anklang unter römischen und kleinasiatischen Juden und zog sie zum Christentume hinüber.
Solchergestalt hatte es sich in den ersten Jahrzehnten nach der Tempelzerstörung nicht nur vermehrt und verstärkt, sondern auch gehoben. Seine Anhänger bestanden nicht mehr aus der unwissenden und verachteten Klasse, aus Zöllnern und Weibern, sondern es hatte einen bedeutenden Zuwachs aus wohlhabenden, gebildeten und ehrbaren Kreisen erhalten. In allen großen Städten des römischen Reiches und ganz besonders in Rom gab es christliche Gemeinden, welche sich halb und halb zu den Juden zählten, jedenfalls aber von den Römern als solche angesehen wurden. Das Christentum konnte in der öffentlichen Meinung nicht mehr wie bis dahin verächtlich übersehen werden, sondern fing an, als ein neues Element in der Geschichte mitzuwirken.
Indessen wurde der Segen, den es der Heidenwelt brachte, und die günstige Rückwirkung, die es auf das Judentum hätte haben können, durch die Spaltung gehemmt, die alsbald eintrat und es in falsche und verderbliche Bahnen leitete. Denn die paulinische Lehre von der Überflüssigkeit des jüdischen Gesetzes hatte in den Schoß des Urchristentums den Samen der Zwietracht geworfen, der die Anhänger Jesu in zwei große Parteien spaltete, die sich wiederum in kleinere Sekten mit eigenen Ansichten und eigener Lebensweise abzweigten. Das Sektenwesen entstand im Christentume nicht erst im zweiten Jahrhundert, sondern herrschte in dessen Urbeginn als eine notwendige Folge entgegengesetzter Grundlehren.3 Die zwei großen Parteien, die sich gleich am Anfange dieser Periode schroff gegenüberstanden, waren einerseits die Judenchristen, anderseits die Heidenchristen. Die Judenchristen als die Urgemeinde, die sich aus Juden ergänzte, hingen mit dem Judentume aufs engste zusammen. Sie beobachteten das jüdische Gesetz nach allen seinen Teilen und wiesen auf das Beispiel Jesu hin, der selbst den jüdischen Gesetzen gemäß gelebt habe. Sie legten dem Religionsstifter die Worte in den Mund: »Eher würde Himmel und Erde vergehen, ehe denn ein Jota oder ein Krönchen vom Gesetze vergehen sollte, daß es nicht erfüllt werde«; ferner: »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz Moses aufzulösen, sondern es zu erfüllen.«4 Mit geradezu feindlichem Sinne gegen die gesetzesverachtenden Heidenchristen machten sie den Ausspruch von Jesu geltend: »Wer auch nur [74] eines der geringsten Gesetze aufhebet und die Menschen also lehret, wird der Geringste im Himmelreiche, wer sie aber übet und lehret, wird groß genannt werden im Himmelreiche«. Selbst die Anhänglichkeit der Judenchristen an Jesus war auch nicht der Art, sie vom Judentume zu entfernen. Sie hielten ihn für einen heiligen, sittlich großen Menschen, der auf natürliche Weise von seinen Eltern Joseph und Maria aus dem Geschlechte Davids erzeugt wurde. Dieser Sohn Davids habe dadurch das Himmelreich gefördert, weil er die Menschen lehrte, arm und demütig zu leben, den Reichtum zu verachten und sich gegenseitig als Brüder, als Kinder Gottes, zu lieben und zu unterstützen, und weil er wie keiner vor ihm, das ganze Gesetz erfüllt habe. Ihr Wahlspruch war das Wort Jesu: »Glücklich sind die Armen, denn ihnen ist das Himmelreich.« Sie lebten daher ganz wie die Essener, aus deren Mitte das Christentum überhaupt hervorgegangen ist, gemeinschaftlich und hatten eine gemeinsame Kasse, zu der ein jeder sein Eigentum beisteuerte. Von dieser Nichtachtung des Reichtums und der Vorliebe für die Armut führten sie den Namen Ebioniten oder Ebionäer (Arme), der ihnen aber von ihren christlichen Gegnern als Spottname umgedeutet wurde, als wenn sie arm an Geist wären, weil sie Jesus nicht für den eingeborenen Sohn Gottes anerkennen mochten. Die Judenchristen hatten früher ihren Wohnsitz in Jerusalem; während des Krieges flüchteten sie sich nach Pella, einer der zehn von Griechen bewohnten Städte jenseits des Jordans (Dekapolis); doch gab es auch von ihnen einzelne oder kleine Gemeinden in Galiläa, namentlich in der Stadt Kapernaum und in Syrien, besonders in der Hauptstadt Antiochien, wo die Anhänger Jesu zuerst den Namen Christen (Christianer) als Messiasgläubige annahmen. Aus Furcht, von der andern Partei überflügelt zu werden, hatte die judenchristliche Urgemeinde auch ihrerseits Sendboten an die auswärtigen Gemeinden abgeordnet, um ihnen neben dem Glauben an Jesu Messianität die fortdauernde Verbindlichkeit des Gesetzes einzuprägen. So gründete auch sie Kolonien, aber judenchristliche; die wichtigste wurde mit der Zeit die in der Welthauptstadt Rom.
Diesen entgegengesetzt waren die Heidenchristen, die von Paulus und seinen Jüngern Timotheus und Titus für den Glauben an Jesus gewonnen worden waren. Diese Religionspartei hatte eine ganz andere Auffassungsweise vom Christentum. Da für die Heidenwelt ein erlösender Messias, in der Sprache der Propheten Sohn Gottes genannt, ein ganz unbekannter Begriff war und der Sohn Davids sie auch nicht begeistern konnte, so verdolmetschten sie sich diese Tatsache in ihre Denkweise als einen wirklichen Gottessohn, dessen Vorstellung den Heiden ebenso geläufig war, als sie [75] den Juden fremd und anstößig erscheinen mußte. War der Begriff Gottessohn einmal aufgenommen, so mußten notwendig alle diejenigen Erscheinungen und Vorgänge aus dem Leben Jesu beseitigt werden, die ihm als Menschen anhafteten. Die natürliche Geburt von Eltern war den Heiden zumeist anstößig, und wie von selbst schlich sich der verklärende Zug ein, dieser Gottessohn sei von einer Jung frau durch den heiligen Geist geboren. Der erste wesentliche Differenzpunkt zwischen Ebioniten und Heidenchristen betraf demnach die Ansicht über das Wesen Jesu; die einen verehrten ihn als Sohn Davids, die andern beteten ihn als Gottessohn an. Der zweite Punkt drehte sich um die Gültigkeit der gesetzlichen Teile des Judentums; die Heidenchristen verwarfen nach Paulus' Beispiel Beschneidung, Speisegesetze, Sabbat und Festfeier, behielten also vom Judentum nur die Sittenlehre, die Anerkennung der Thora und der Propheten als heilige Schriften und die eigentümliche Vorstellungsweise bei, die sich aus der Bekanntschaft mit den Dokumenten des Judentums von selbst ergibt. Auf die Gütergemeinschaft und Verachtung des Reichtums, den wesentlichsten Zweck des ebionitischen Christentums, legte die heidenchristliche Partei wenig Gewicht, da ja auch ihre Autorität Paulus dieses nur für eine Nebensache angesehen hatte und erst nachdrücklichst von den Judenaposteln ermahnt werden mußte »der Armen zu gedenken«.5 Die Heidenchristen führten den Namen Hellenen, weil die ersten Bekenner Griechen waren. Sie hatten ihren Hauptsitz in Kleinasien, namentlich in den sieben Städten Ephesus, Smyrna, Pergamus, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodicea, die in der symbolischen Sprache der damaligen Zeit »die sieben Sterne und die sieben goldenen Leuchter genannt wurden.6 Ephesus war das Haupt dieser heidenchristlichen Gemeinden; außerdem aber waren solche Gemeinden auch in Griechenland, Mazedonien, Thessalien und anderwärts sehr verbreitet. Zwischen den ebionitischen und hellenischen Gemeinden, die eigentlich nur den Namen des Stifters gemeinsam hatten, hingegen in der Auffassung seines Wesens und in dem religiösen Tun weit auseinandergingen, herrschte eine gegenseitige Spannung und Abneigung, welche mit der Zeit sich immer mehr verschärfte. Paulus, seine Jünger und die auch von ihnen auf Verachtung des Gesetzes gegründeten Gemeinden wurden von den Judenchristen ingrimmig gehaßt. Sie konnten nicht genug Schmähungen und Verunglimpfungen gegen den Apostel »der Vorhaut«, auch lange nach dessen Tode häufen, weil er Irrtümer verbreitet und das Christentum gegen Sinn und [76] Absicht seines Stifters gelehrt habe. Mit einer Art Bewunderung vor der Einheit und Einmütigkeit, die innerhalb der vom jamnensischen Synhedrion geleiteten Judenheit herrschte, im Gegensatz zu der Zerfahrenheit innerhalb der christlichen Gemeinde, schrieb einer der judenchristlichen Partei: »Die überall wohnenden (jüdischen) Stammgenossen befolgen (bis auf den heutigen Tag) dasselbe Gesetz von der Einheit Gottes und der Lebensweise, und können auch keineswegs eine abweichende Ansicht haben oder von dem Sinn der vieldeutigen Schrift ab geführt werden. Denn nur nach einer überlieferten Regel versuchen sie das nicht Stimmende in der Schrift umzudeuten. ... Deswegen gestatten sie keinem zu lehren, der nicht vorher gelernt hätte, wie er die heiligen Schriften behandeln soll. Darum ist bei ihnen ein Gott, ein Gesetz, eine Hoffnung ... Wenn solches nicht bei uns auch geschehe, so wird unser Wort der Wahrheit in viele Meinungen zerklüftet werden. Das weiß ich nicht als Prophet, sondern weil ich die Wurzel des Übels sehe. Denn einige von den Heiden haben meine mit dem Gesetze übereinstimmende Verkündigung verworfen, indem sie der gesetzlosen und possenhaften Lehre eines feindlichen Menschen (Paulus) folgten.« Diese Worte werden dem zweiten Hauptapostel, Simon Kephas (Petrus) in den Mund gelegt.7 – Doch die Judenchristen nannten nicht bloß Paulus' Verkündigungen und Belehrungen, auf die er sich so viel zugute tat, gesetzwidrig und possenhaft, sondern gaben ihm auch einen Spitznamen, der ihn und seinen ganzen Anhang brandmarken sollte. Simon Magus nannten sie ihn, einen halbjüdischen (samaritischen) Zauberer, welcher alle Welt mit seinen Worten bezaubert habe. Er sei zwar auch getauft gewesen, habe aber das Apostelamt nicht von Jesu Nachfolgern durch den heiligen Geist empfangen, sondern habe es sich durch Geldspenden (für die ebionitische Gemeinde) erkaufen wollen. Es sei ihm aber nicht nur rundweg abgeschlagen worden, sondern Simon Petrus habe die Verdammnis über ihn ausgesprochen; denn sein Herz sei voll Tücke gewesen, voll bittrer Galle und Ungerechtigkeit. »Wie kann Jesus dem Heidenapostel erschienen sein,« so sagten die Judenchristen einander und sagten es auch den Gläubigen, »da er doch das seiner Lehre Entgegengesetzte verkündete?«8 Die von Paulus ausgegangene Befreiung vom jüdischen Gesetze bezeichneten die Gegner als Zügellosigkeit, als die [77] Lehre Bileams, die dazu verführe, Götzenopfer zu genießen und Unzucht zu treiben. Die Stimmführer der Heidenchristen blieben die Antwort nicht schuldig, vergalten ihnen mit gleichem Hasse und vielleicht mit noch viel größerem, da zur Gegensätzlichkeit des religiösen Bekenntnisses noch der Haß der Griechen und Römer gegen die Juden, wenn auch Anhänger Jesu, hinzukam. In den größeren christlichen Gemeinden spalteten sie sich öfter in einzelne Gruppen und sperrten sich gegen einander ab. Der eine sprach: »Ich bin ein Christ nach Paulus Lehre;« der andere: »Ich nach Apollos Bekenntnis (eines alexandrinisch-jüdischen Sendboten), der dritte: »Ich bin Kephisch« (Petrinisch), ein vierter: »ich bin Chrestisch«.9 In den Sendschreiben, welche die Vorsteher der verschiedenen christlichen Parteien an die Gemeinden zu richten pflegten, brachten sie gewöhnlich spitzige oder verdammende Äußerungen gegen die Widersacher ihres allein für wahr gehaltenen Bekenntnisses an; es waren meistens Streitschriften. Selbst der Erzählung von Jesu Geburt, Wirken, Leiden, Tod und Auferstehung, die in dem ersten Viertel des zweiten Jahrhunderts unter dem Namen Evangelien zuerst niedergeschrieben wurden, gaben die zwei Parteien die Färbung und den Ton ihres Bekenntnisses, und legten dem Stifter des Christentums Lehren und Sentenzen in den Mund, wie sie ihrer eigenen Ansicht entsprachen. Sie lauteten günstig für das Gesetz des Judentums und für die Juden, wenn sie von seiten der Ebioniten, feindlich und gehässig gegen beide, wenn sie von seiten der paulinischen oder Heidenchristen ausgingen. Die Evangelien waren ebenfalls Parteischriften.
Die Spaltung zwischen Ebioniten und Heidenchristen beschränkte sich aber keineswegs auf Streitigkeiten über Glaubensmeinungen und Dogmen, ob Jesus ein hehrer Messias oder Gottes Sohn gewesen, ob das Gesetz des Judentums aufgehoben sei oder noch Gültigkeit habe, sondern hatte auch einen politischen Hintergrund. Die Judenchristen haßten Rom, die Römer, die Kaiser und ihre feilen Beamten nicht [78] weniger als die Juden. Einer ihrer Propheten, der die erste christliche Offenbarung verfaßt hat (angeblich Johannes, eine Nachbildung der Danielschen Visionen) atmete glühenden Ingrimm gegen die Siebenhügelstadt, die große Hure Babylon ... »Ich sah das Weib (mit welcher gebuhlt haben die Könige auf Erden) sitzen auf einem hellen Tiere, voll von Namen der Gotteslästerung, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern. Es hatte einen Becher in der Hand voll Gräuels und Unreinheit seiner Buhlerei, und auf ihrer Stirn geschrieben Geheimnis. Das große Babylon, die Mutter der Unzüchtigkeit und Gräuel. Ich sah das Weib trunken vom Blute der Heiligen und vom Blute der Blutzeugen Jesu.« Alles Unheil der Welt, alle grausige Verwüstung und Plage, alle Schmach und Demütigung verkündet und wünscht diese erste christliche »Offenbarung« dem sündhaften Rom,10 ohne zu ahnen, daß es einst die Welthauptstadt der Christenheit werden sollte. Dagegen empfahl das paulinische Christentum nicht nur die Unterwerfung unter die römische Macht, sondern erklärte sie noch dazu als von Gott eingesetzt. »Jede Person soll sich den herrschenden Gewalten unterwerfen; denn es gibt keine Macht, die nicht von Gott wäre; sie ist von Gott angeordnet. Wer also der (römischen) Gewalt widersteht, der widersetzt sich Gottes Ordnung«.11 Diese christliche Partei ermahnte fortwährend ohne jenes Bedauern, das die von Freiheitsgefühl beseelten Stammjuden erfüllte, Zoll, Abgabe und Steuer an die Römer zu liefern.12 Dieses Zugeständnis an die bestehende Staatsmacht, dieses Liebäugeln mit dem sündhaften Rom, welches das Judenchristentum in der Hölle Pfuhl verwünschte, war ein Grund mehr, die Christen verschiedenen Bekenntnisses voneinander abzustoßen. Es gab eigentlich nur wenige Punkte, in denen sie einig waren.
Allein wie sehr auch die von Paulus mit seinen Gesinnungsgenossen gegründete Gemeinde das Gesetz, als eine Knechtschaft des Geistes gründlich verachtete und verwarf und sich den Eingebungen einer durch den Glauben an Jesu Auferstehung und Göttlichkeit gekräftigten Gesinnung, als einer neuen Religion der Freiheit, überließ, die gewissenhaften Gemeindeführer mußten doch bald darauf [79] kommen, daß ohne bindende Regel das religiöse, sittliche und gesellschaftliche Verhalten der Gemeindeglieder schrankenloser Willkür anheim gegeben sei. Wenn jeder selbst über sein Tun und Lassen Richter sein soll, wenn er bloß von einem Fürwahrhalten einer vergangenen Tatsache geleitet, entscheiden soll, was ihm erlaubt sei, dann ist dem individuellen Meinen, der Leidenschaft und Laune Tür und Tor geöffnet und der Zügellosigkeit Vorschub geleistet. So manche unter den Heidenchristen überließen sich daher in der nachapostolischen Zeit mit Berufung auf die evangelische Freiheit und Entbundenheit vom Gesetze groben Lastern und Ausschweifungen der Unzucht, vor denen die Stimmführer warnen mußten,13 aber weil sie die Schranke des Gesetzes niedergerissen hatten, konnten sie keinen rechten Anhaltepunkt angeben und mußten sich mit der nichtssagenden Phrase behelfen: »Alles ist mir gestattet, aber nicht alles frommt mir.« Aber auch religiöse Fragen, die mit dem Judentume im Zusammenhange standen, traten an die heidenchristlichen Lehrer heran und setzten sie in Verlegenheit. Wenn alles zu genießen erlaubt ist, darf dann ein Christ auch Götzen opfern, und darf Wein, welcher für die falschen Heidengötter ausgegossen worden, gebraucht werden?14 Das war den in der Gotteinheitslehre erzogenen Judenchristen ein besonderer Gräuel und daher durften sich die Heidenchristen nicht ohne weiteres darüber hinwegsetzen. Selbst der jüdischen Sitte, daß die Frau nicht entblößten Hauptes und öffentlich, wie z.B. im Bethause, erscheinen soll, mußten sie Zugeständnisse machen.15 So sehr sie sich auch gegen das Judentum abschließen wollten, so fand doch mancher jüdische Gebrauch Eingang bei ihnen. Ihre Gemeindeeinrichtung und ihr öffentlicher Kultus hatte einen jüdischen Zuschnitt; sie kannten keine andere Form. An der Spitze des Gottesdienstes und der Gemeinde stand der Episkopus (Aufseher, Bischof), welcher dem jüdischen Chasan (ha kneset) nachgebildet war. Neben und mit ihm fungierten solche Gemeindeglieder, die durch ein größeres Maß von biblischer Kenntnis oder durch eine andere Fähigkeit in Ansehen standen; sie wurden Presbytere (Priester) genannt und entsprachen den Sekenim (Ältesten) der jüdischen Gemeindeverfassung. Sie erhielten wie diese ihre Funktion und ihre Weihe durch Händeauflegen, nur daß innerhalb des Christentums dabei an ein Überleiten des heiligen Geistes, der von Jesus auf die Apostel und ihre Jünger übergegangen sei, gedacht wurde. Die Presbytere hatten wohl zugleich das Lehr- und Richteramt in der Gemeinde.
[80] Die zeremoniellen Weihen, wie die Taufe und das Abendmahl, die charakteristischen Zeremonien des christlichen Lebens, hatten ebenso einen jüdischen Ursprung. Das Abendmahl war weiter nichts als eine Erinnerung an die Feier am ersten Abend des Passahfestes, die nach der Tempelzerstörung bloß im Genuß des ungesäuerten Brotes und des Weines bestand; daher fehlte in dem Abendmahle der Genuß vom Opferlamme. Um jedoch von dieser Zeremonie den jüdischen Charakter zu verwischen, gab man ihr eine Beziehung auf Christus, als wenn das Brot seinen Leib und der Wein sein Blut bedeutete.16
Gegen die paulinische Theorie der Heidenchristen, gegen die Gesetzesverächter, herrschte unter den Juden eine so tiefe Abneigung, daß es in vielen Gemeinden Kleinasiens und Griechenlands zu Reibungen kam. In den Städten Antiochien (der Hauptstadt Pisidiens), Iconium, Thessalonica und Korinth wurden sie von jüdischen Einwohnern beschimpft, gesteinigt und verwiesen. Zwischen Judenchristen und Juden hingegen bestand ein leidliches Verhältnis; es lag nichts in dem ebionitischen Bekenntnisse, was gegen das jüdische Bewußtsein verstieß und es verletzte. Höchstens hätten die Wunderkuren und die Austreibungen der Dämonen aus besessenen Personen, die Ebioniten wie hellenische Christen im Namen Jesu ausübten, bei den Juden Anstoß erregen können! Denn eben diese Macht über die bösen Geister wollten die Christen beider Parteien von Jesus vermittelst der Apostel erhalten haben, und es gehörte mehrere Jahrhunderte hindurch mit zu den Hauptfunktionen der christlichen Lehrer, Teufel zu bannen, böse Krankheiten zu beschwören (exorzieren) und überhaupt Wunder zu tun.17 Allein durch das bloße Nennen des Namens Jesu bei wundertätigen Übungen legten die Judenchristen ihm noch keine Göttlichkeit bei, da ja auch manche Juden vermittelst Salomos Namen Gewalt über die bösen Geister zu haben glaubten.18 Weil eben die Ebioniten sich von den Juden im religiösen Leben durch nichts unterschieden, verkehrten Tannaiten und ebionitische Lehrer ohne Scheu miteinander. Es ist bereits erwähnt, daß der strenge R. Elieser, der den Heiden allesamt den Anteil am ewigen Leben absprach, mit einem Judenchristen Jacobus Unterredungen hatte und Auslegungen, im Namen Jesu mitgeteilt, harmlos anhörte. Als ben Dama, ein Schwestersohn R. Ismaels, einst von einer Schlange gebissen wurde, war er im Begriffe, sich von demselben Jacobus durch eine Besprechungsformel im Namen Jesu heilen zu lassen.19 [81] Der Übergang von der jüdischen Gemeinschaft zur christlichen war kein auffallender, anstößiger Schritt; es mochten wohl einige Glieder jüdischer Familien dem judenchristlichen Bekentnisse angehangen haben, ohne dadurch ein Ärgernis zu geben und den Hausfrieden zu stören. Von Chananiah, einem Neffen R. Josuas, wird erzählt, er habe sich der Christengemeinde zu Kapernaum angeschlossen, sein Onkel jedoch, der diesen Schritt gemißbilligt, habe ihn mit Gewalt diesem Umgange entzogen und ihn nach Babylonien gesandt, um ihn dem christlichen Einflusse zu entrücken.20
Dieses Einvernehmen zwischen Juden und den jüdischen Anhängern Jesu dauerte jedoch nicht lange. Es liegt in der Natur des Menschen, den Gegenstand seiner Verehrung immer mehr zu idealisieren, und die Begeisterung für ihn nimmt in dem Maße zu, je mehr dessen wahres Wesen dem Gesichtskreise entrückt ist. Im Verlaufe der Zeit erscheinen dem begeisterungstrunkenen Herzen die Fehler als wesentliche Vorzüge, die störenden Male erglänzen in der täuschenden Ferne als ebenso viele Lichtpunkte. Je mehr die jüdischen Anhänger das unbegreifliche Leben ihres Messias ergründen wollten, desto mehr vertieften sie sich in die Propheten, um sich von da aus Aufschluß über das Befremdende seiner Erscheinung zu holen, und glaubten darin Beziehungen und Winke zu finden. Zuletzt mußte alles so geschehen sein, damit dieser und jener Ausspruch der Propheten vom Messias erfüllt werde. – Die Judenchristen blieben daher auch nicht bei der einfachen Anerkennung Jesu als Messias stehen, sondern neigten sich allmählich, ohne es zu wissen, dem Bekenntnisse der Heidenchristen zu, indem sie ihm göttliche Eigenschaften und Wunderkräfte beilegten.
Der Untergang des Tempels war auch für die Entwicklung des Christentums ein Wendepunkt. Das Aufhören der Opfer erweckte in ihnen den Gedanken, es habe das jüdische Gesetz einen empfindlichen Stoß erlitten; es habe, sobald einige Teile des Gesetzes nicht mehr ausführbar wären, das Ganze seine Bedeutung verloren. Allmählich bildete sich die Sage aus, Jesus habe den Untergang des Tempels vorher verkündet und daß nicht ein Stein auf dem andern bleiben, daß aber auch durch ihn ein neuer Tempel erbaut werden würde. Daran knüpfte sich das Dogma von der sühnenden Kraft des Messias und seinem Hohenpriesteramte, daß er also auch die sündentilgenden Institutionen, wie den Versöhnungstag, überflüssig gemacht hätte. Überhaupt übertrug man auf Jesus alle diejenigen Herrlichkeiten, die durch den Untergang des Staates verloren gegangen waren. Man legte ihm also die drei höchsten Würden, [82] das Königs-, Priester-und Prophetenamt, bei. Je mehr die judenchristliche Anschauung die Persönlichkeit Jesu durch solche Übertragung idealisierte, desto mehr entfernte sie sich vom Judentume, mit dem sie noch immer eins zu sein glaubte. Es entstanden gemischte Sekten aus Ebioniten und Hellenen, und man kann einen abwärts führenden Stufengang bemerken, von den gesetzesstrengen Ebioniten bis zu den gesetzesverhöhnenden Antitakten. Den Ebioniten zunächst standen die Nazaräer. Die Verbindlichkeit des ganzen jüdischen Gesetzes ließen auch sie wie jene unangetastet, aber sie erklärten sich doch schon die Geburt Jesu auf übernatürliche Weise durch die Jungfrau und den heiligen Geist, und legten ihm überhaupt göttliche Attribute bei.21 Andere Judenchristen gingen noch über die Nazaräer hinaus und gaben das Gesetz teilweise oder ganz auf. Man nennt als solche die Meristen (von dem griechischen Worte μέρος, Teil), die ihren Namen wohl von dem Umstande hatten, daß sie nur einzelne Teile des Gesetzes beobachteten; ferner die Masbotäer (vom Worte Sabbat), die nur noch den jüdischen Sabbat streng feierten, freilich dabei auch den Sonntag, als Herrentag. Endlich gab es eine Sekte Genisten (von γένος, Geschlecht), die nur noch der Abstammung nach Juden waren.22
Nach solchen Vorgängen war ein völliger Bruch zwischen Juden und Judenchristen unvermeidlich; es mußte endlich ein Zeitpunkt eintreten, in welchem die letztern selbst fühlten, daß sie nicht mehr zur jüdischen Gemeinschaft gehörten und daher sich ganz von ihr lossagten. Der Scheidebrief, den das Judenchristentum der Muttergemeinde zuschickte, ist noch vorhanden; er fordert die jüdischen Anhänger Jesu auf, sich von den Stammgenossen völlig loszulösen. In der agadischen Weise jener Zeit setzt der »Brief an die Hebräer« auseinander, daß der gekreuzigte Messias zugleich sühnendes Opfer und versöhnender Priester gewesen. Er beweist aus dem Gesetze, daß diejenigen Opfer als die heiligsten gelten, von deren Blut im Allerheiligsten gesprengt und deren Leib außerhalb des Lagers (Tempels) verbrannt wurde. »Daher«, so fährt der judenchristliche Ermahner fort, »litt auch Jesus den Tod außerhalb der Tore (Jerusalems), damit das Volk durch sein Blut gesühnt werde. So laßt uns denn zu ihm hinausziehen außerhalb des Lagers (der jüdischen Gemeinschaft) und seine Schmach tragen; denn wir haben hier nicht die bleibende Stadt (Jerusalem als Symbol der jüdischen Gesamtheit), sondern wir suchen die zukünftige Stadt.«23 War [83] einmal der erste Schritt einer entschiedenen Trennung der Nazaräer und der verwandten Sekten von der jüdischen Gemeinschaft erfolgt, so stellte sich auch bei ihnen ein leidenschaftlicher Haß gegen Juden und Judentum ein. Gleich den Heidenchristen schmähten und lästerten die Nazaräer die Juden und ihr Wesen, und da das schriftliche Gesetz auch für sie Heiligkeit hatte, so richteten sie ihre Pfeile gegen das Halachastudium der Tannaiten, den Lebenspunkt des Judentums in diesem Zeitalter. Man war in judenchristlichen Kreisen wie in jüdischen gewöhnt, alle Verhältnisse der Gegenwart aus dem Gesichtspunkte der heiligen Schrift anzuschauen und für sie Belege und Andeutungen aus dem Prophetenworte herbeizuziehen; es war dies die eindringlichste Art, gewisse Stimmungen zu erwecken und Überzeugungen beizubringen. Die Nazaräer wendeten daher auf die Tannaiten, die bei ihnen Deuteroten hießen, ganz besonders auf die zwei Schulen Hillels und Schammaïs, einen rügenden, drohenden Vers des Propheten Jesaias an (8, 14.): »Es wird sein zum Stein des Anstoßes und zum Sturze für die zwei Häuser Israels.« »Unter den zwei Häusern meint der Prophet die zwei Lehrsekten Schammaï und Hillel, aus denen die Schriftgelehrten und Pharisäer entstanden sind, deren Nachfolger Akiba, Jochanan, der Sohn Sakkaïs, dann Elieser und Delphon (Tarphon) und dann wieder Joseph der Galiläer und Josua waren. Dieses sind die zwei Häuser, welche den Heiland nicht anerkennen, und dies wird ihnen zum Sturz und zum Anstoß gereichen.« Auch einen andern Vers desselben Propheten, welcher lautet: »Sie verspotten die Menschen durch das Wort« (Jesaias 29. 21.), deuteten die Nazaräer auf die Mischna-Lehrer, »die durch ihre schlechten Traditionen das Volk verhöhnten.«24 Sie legten Jesus Schmähungen gegen die Gesetzeslehrer in den Mund, welche vielleicht auf den einen oder den andern paßten, aber auf den ganzen Stand angewendet, gewiß eine Verleumdung waren. Sie lassen ihn sprechen: »Auf Moses Stühlen (Synhedrion) sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles was sie euch sagen, daß ihr befolgen sollet, befolget und tuet, aber ihre Werke tuet nicht; denn sie sprechen und handeln nicht (danach) ... Alle ihre Werke tun sie, um von den Leuten gesehen zu werden. Sie machen sich breite Denkzeichen (Tefillin, φυλακτῄρια) und große Saumquasten (Zizit, κράσπεδα) an ihren Gewändern. Sie lieben das Obenanliegen bei den Mahlen, das Obenansitzen in den Synagogen, gegrüßt zu werden auf den Plätzen und von den Menschen Rabbi, Rabbi genannt zu werden ... Wehe euch, ihr heuchlerischen Schriftgelehrten und Pharisäer, daß ihr die Häuser der [84] Witwen verzehret unter dem Vorwand, daß ihr lange betet; darum werdet ihr ein Strafgericht empfangen ... Wehe euch ... daß ihr verzehntet die Gartenminze, den Dill und den Kümmel25 und lasset das Schwerere26 des Gesetzes fahren, das Recht, die Barmherzigkeit und die Treue. Das eine muß man tun, aber das andere nicht lassen. Ihr verblendeten Seelen, die ihr Mücken seihet und Kamele verschlucket ... die ihr von außen die Becher und Schüsseln reinigt und inwendig sind sie voll Raub und Verdorbenheit.«
So feindeten die Judenchristen die Führer des gesetzlichen Judentums und damit auch dieses selbst an, für dessen Bestand sie doch anfänglich einstehen wollten, und arbeiteten, ohne es zu wollen, den Hellenen in die Hände. Die paulinische Lehre gewann daher immer mehr Boden und konnte sich nach und nach als das wahre und einzige Christentum, als das katholische (umfassende, allgemeine), behaupten. Es war daher natürlich, daß alle diese Sekten, Ebioniten, Nazaräer, Masbotäer nach und nach teils in der immermehr wachsenden Gemeinschaft der Heidenchristen untergingen, teils in geringer Zahl und in verkümmerter Gestalt zurückblieben, ein Gegenstand der Verachtung für Juden und Christen. Die Juden haßten sie auch ihrerseits unter dem Namen Minäer (Minim), worunter sie alle Sekten verstanden, welche, dem Judentume entsprossen, es ganz oder teilweise verleugneten. Die Christen betrachteten sie nicht als die Urgemeinde, aus welcher sie selbst mit Abstreifung des Judentümlichen hervorgegangen waren, sondern als später entstandene Sektierer.27 Eine eigentümliche Erscheinung bot sich in diesem Meinungskampfe dar, daß die Hellenen in dem Maße sich dem Gesetze näherten, wie die Judenchristen sich von ihm entfernten. In den Sendschreiben und Briefen, die die christlichen Lehrer an die Gemeinden oder an einzelne Vertreter richteten, können sie nicht genug vor den Bestrebungen derer warnen, welche dem Gesetze und der jüdischen Lehre Eingang zu verschaffen bemüht sind.
Indessen entwickelten sich aus dem Christentume eine Menge Sekten von der absonderlichsten Benennung und der wunderlichsten [85] Richtung. In dem halben Jahrhundert nach der Tempelzerstörung, in welchem die beiden Religionsformen der alten Welt, das Judentum und Heidentum, eine Verwandlung und teilweise Verschmelzung erlitten: das Judentum sich ohne Staat und politischen Stützpunkt zu befestigen, das Heidentum sich in der Vollkraft seiner staatlichen Existenz zu lockern begann, entstand eine Gärung in den Geistern der Menschen, welche die seltsamsten und abenteuerlichsten Geburten zutage förderte. Zu den zwei Elementen, die dem Judentume und dem Heidentume entlehnt waren, gesellten sich noch andere aus dem jüdisch-alexandrinischen Systeme Philos, aus der griechischen Philosophie, überhaupt aus allen Winkeln und Enden, – Elemente, deren Ursprung und Quellen kaum bestimmt werden können. Es war ein Gewirre von entgegengesetzten Gedankenbegriffen und Lehren, Jüdisches und Heidnisches, Altes und Neues, Wahres und Falsches, Erhabenes und Niedriges in innigster Durchdringung und Verschmelzung. Es schien, als ob bei dem Eintritt des Christentums in die Welt alle ausgeprägten Lehren des Altertums ihm etwas von ihrem Inhalte mitgeben wollten, um dadurch Wichtigkeit und Fortdauer zu erhalten. Die Paarung von unnatürlichen Elementen brachte Mißgestalten und Zerrbilder hervor, ähnlich dem Traum eines Wahnwitzigen, sie läßt aber auch den Drang der Zeit nicht verkennen, das Streben, die ewigen Rätsel zu lösen, die der Menschengeist immer von neuem aufwirft, ohne eine befriedigende Antwort zu erhalten. Die alte Frage, woher denn das Übel in der Welt seinen Ursprung habe, und wie es sich mit dem Begriffe von einer gütigen und gerechten Vorsehung vereinigen lasse, beschäftigte die Gemüter derjenigen auf das lebhafteste, die durch die christlichen Sendboten Bekanntschaft mit der jüdischen Gedankenwelt gemacht hatten. Nur durch ein neues Gottesbewußtsein glaubte man die Frage lösen zu können, und man stellte sich ein solches aus den verschiedensten Religionssystemen zusammen. Die höhere Erkenntnis von Gott, seinem Verhältnis zur Welt und dem religiösen und sittlichen Leben nannte man Gnosis, und diejenigen, die in ihrem Besitz zu sein glaubten, legten sich selbst den Namen Gnostiker28 bei, und verstanden darunter höher begabte Naturen, welche – der Gottheit näher stehend – in das Geheimnis der Weltordnung eingedrungen seien. Die Gnostiker oder richtiger Theosophen, zwischen Judentum, Christentum und Heidentum [86] schwebend, wie sie aus diesen drei Kreisen Vorstellungen und Gedankenformungen aufnahmen, gingen auch aus den Anhängern der drei Religionen hervor. Von ihrem Lehrbegriffe sind bisher nur unzusammenhängende Bruchstücke, einzelne Fäden aus einem fremdartigen Gewebe, bekannt geworden, welche lediglich durch die Schriften ihrer christlich-jüdischen Gegner erhalten sind. So mächtig muß aber der Reiz der gnostischen Lehren gewesen sein, daß die Autoritäten der Synagoge und Kirche nicht genug Gesetze und Verordnungen gegen sie erlassen konnten und dessenungeachtet nicht zu verhindern imstande waren, daß hin und wieder gnostische Lehren und Formeln in das Bewußtsein der Juden und Christen Eingang finden. Verbreitet war die Gnosis in Judäa, Ägypten, Syrien, Kleinasien und ganz besonders in der Weltstadt Rom, wo alle Religionsmeinungen und Anschauungsweisen auf Anhänger zählen durften. Die Sprache der Gnostiker war mystisch-allegorischer Art, oft aus jüdischen und christlichen Bekenntnisschriften entlehnt, aber in einem ganz andern Sinne ausgelegt. Von den Urhebern und Trägern des gnostischen Lehrsystems sind nur wenige Namen, einige abgerissene Aussprüche und zu dürftige lebensgeschichtliche Nachrichten bekannt, als daß sie einen tiefern Einblick in dieses sonderbare Gedankengewebe gestatten könnten. Die berühmtesten Namen der Gnostiker waren Saturnin, Basilides und Valentinus, wohl Juden der Abstammung nach; ferner des letztern Schüler Markos und Bardesanes, ersterer ein Jude, letzterer ein Christ aus der Euphratgegend; dann Kerinth, Kerdon mit seinem sophistischen Schüler Marcion, endlich Karpokrates, der fleischliche Kommunist und Tatian, der Urheber strenger Enthaltsamkeit, der Vorläufer der Mönche.
Fast jeder der hier genannten und viele ungenannte Gnostiker hatten eine eigene Richtung, eine originelle Seite, welche nach dem Namen ihres Urhebers benannt wurde. Man hört daher aus jener Zeit eine so unzählige Menge von Sektennamen erklingen, daß man sich beinahe wundert, wo sie denn alle ihre Anhänger hergenommen haben. Die geläufigsten Namen waren Basilidianer, Valentinianer, Karpokratianer, Marcioniten; andere leiteten ihre Benennung von dem Inhalte einer Hauptrichtung ab, wie die Balamiten, Nicolaiten und Enkratiten, deren Bedeutung weiter unten entwickelt werden soll. Einige gnostische Sekten veranschaulichen die ganze Wunderlichkeit und Seltsamkeit dieser Zeitrichtung. Eine Sekte nannte sich z. B. Kainiten, aus keinem andern Grunde, als weil deren Anhänger den Brudermörder Kain, der biblischen Erzählung zum Trotz, höher achteten als Abel. Auch die entarteten Sodomiter, den wilden Esau, den ehrgeizigen Aufwiegler Korah [87] brachten die Kainiten zu Ehren und behaupteten, Kain und seine Ebenbilder seien aus einer höhern, mächtigern Kraft entsprungen, als Abel und andere Lieblinge der Bibel. Es ist überhaupt den Sektierern eigen – und wiederholte sich zu verschiedenen Zeiten – gerade diejenigen geschichtlichen Figuren in Schutz zu nehmen, die bei ihren Gegnern mißliebig und verrufen sind, und wiederum gegen diejenigen eine feindliche Stimmung zu hegen, die andern als Vorbilder dienten. – Von demselben Widerspruchsgeiste gegen die Darstellung der Bibel waren auch die Ophiten oder Naasiten29 beseelt, nur daß sie für ihr Verhalten einen bessern Grund anzugeben wußten. Sie hatten ihren Namen von dem griechischen Worte Ophis und dem hebräischen Nachasch (Naas, Schlange) und sollen diesem Tiere eine hohe Verehrung zugewendet haben, weil die Schlange in der Bibel als Urheberin der ersten Sünde gilt und in der Anschauung jener Zeit als das Urbild des Übels, als die Hülle des Satans angesehen wurde. Die Ophiten wußten es der Schlange Dank, daß sie das erste Menschenpaar zum Ungehorsam gegen Gott verleitet hatte, weil dadurch die Erkenntnis des Guten und Bösen, das Bewußtsein überhaupt, geweckt wurde. Die Schlange spielt in diesem Systeme eine sehr wichtige Rolle; selbst Christus wurde in demselben als die Wiedererscheinung der Urschlange dargestellt. Die Schlange, welche Moses in der Wüste aus Erz aufrichten ließ, zogen die Ophiten gleicherweise in ihr System hinein.
Allein so verschieden und einander widersprechend die Richtungen der gnostischen Sekten waren, so hatten sie doch einige gemeinschaftliche Lehren, in welchen sie alle zusammentrafen. Die gnostischen Grundgedanken betrafen das eigentümliche Gottesbewußtsein, das die Gnostiker im Widerspruche mit dem Gottesbegriffe des Judentums entwickelten. Diese höchst wunderliche Lehre darf in der jüdischen Geschichte um so weniger übergangen werden, als sie auch auf das Judentum von einigem Einflusse war. Die Gnostiker dachten sich das göttliche Wesen in zwei einander untergeordnete Prinzipien geteilt, in einen höchsten Gott und einen Weltschöpfer. Den höchsten Gott nannten sie das Schweigen oder die Ruhe und ließen ihn in höchster Höhe ohne die geringste Beziehung zur Welt thronen. Sein Grundwesen ist Güte, Liebe, Gnade. Aus ihm gehen Ausstrahlungen aus, welche einen Teil seines Wesens zur Offenbarung bringen; solche Ausstrahlungen nannten sie Äonen (Welten), auch Himmel und Engel. Über die Zahl der Äonen herrschte unter ihnen Verschiedenheit, [88] doch zählten die meisten Geist, Einsicht, Weisheit, Liebe, Wahrheit, Frieden und Macht als Äonen auf. Es ist kaum mehr zu ermitteln, ob sich die Gnostiker die Äonen als selbständige Wesen oder lediglich als wesentliche Eigenschaften des höchsten Gottes gedacht haben. Unter das höchste Wesen setzten sie den Weltschöpfer (Demiurg), den sie auch Herrscher nannten; einige betrachteten ihn als bloßen Äon. Ihm teilten sie das Geschäft der Weltschöpfung zu, er leitet die Ordnung der Welt; er hat das Volk Israel erlöst und ihm Gesetze gegeben. Wie dem höchsten Gotte die Liebe und Gnade eigen ist, die mit Freiheit schalten, so besteht das Grundwesen des Weltschöpfers in Gerechtigkeit und Strenge, die er durch Gesetze und Gebundenheit überhaupt geltend macht. Wie für alles, so hatte man auch für dieses Verhältnis des gerechten Gottes zum Gotte der Güte einen Prophetenvers gefunden. Man wendet darauf den Vers (Jesaias 7. 6) an: »Wir wollen gen Juda hinaufziehen und einen andern König einsetzen, den Sohn des guten Gottes (Tobel)«.30 Sie lassen den Schöpfer die Welt aus einem von Ewigkeit her vorhandenen Urstoffe vermittelst der Weisheit (Achamot) in der Weise erschaffen, daß sich die Weisheit, wie ihre allegorische Redeweise es ausdrückt, in den Schoß des Urstoffes versenkte, eine Mannigfaltigkeit der Formen hervorbrachte, aber auch dadurch selbstgetrübt und verdunkelt wurde. Nach dieser Voraussetzung nahmen die Gnostiker drei Urwesen an: den höchsten Gott, den Weltschöpfer und den Urstoff und leiteten von diesen die verschiedenen Verhältnisse und Abstufungen in der Geister- und Körperwelt ab. Alles Gute und Edle sei ein Ausfluß des höchsten Gottes, das Gesetz und die Gerechtigkeit stamme vom Weltschöpfer ab, endlich alles Mangelhafte, Schlechte, Verkrüppelte in der Welt sei eine Wirkung des beschränkenden, niederdrückenden Urstoffes.
Nach dieser gnostischen Einteilung der drei Weltmächte gibt es auch unter den Menschen drei Klassen oder Kasten, die im Dienste eines dieser drei Prinzipien stehen. Es gibt geistige Menschen (Pneumatiker), die von dem höchsten Gott begeistert sind und für ihn streben, frei von dem Joche des Gesetzes, entbunden der Fesseln der irdischen Natur; sie sind sich selbst Gesetz und Regel und bedürfen der Leitung und Bevormundung nicht; zu ihnen gehören die Propheten und die Inhaber der wahren Gnosis. Es gibt ferner fleischliche Menschen (Psychiker) im Dienste der gesetzgebenden Demiurgen; sie stehen unter dem Joche des Gesetzes, vermittelst dessen sie sich einigermaßen von der Gewalt des Irdischen freihalten können, ohne jedoch [89] die Höhe der Geistesmenschen erschwingen zu können. Endlich gibt es irdische Menschen (Choiker), die den Tieren gleich in den Banden der Erde und des Stoffes gefesselt sind, sich weder zum freien Schwung der Geistesmenschen erheben, noch sich von den Vorschriften des Gesetzes regieren lassen können. Als Typen dieser drei Menschenklassen galten den Gnostikern die drei Adamssöhne: Seth war das Urbild der Pneumatiker, Abel der Typus der Gesetzesmenschen, endlich Kain das Bild der irdischen Menschen. Auch die drei Religionen pflegten einige Gnostiker nach diesem Schema zu klassifizieren: das Christentum sei ein Erzeugnis des höchsten Gottes, das Judentum das Produkt des Demiurgos, endlich das Heidentum eine Schöpfung des niedern Urstoffes. Dieses ist ungefähr der Hauptinhalt der gnostischen Theorie, so viel durch Mitteilung ihrer Gegner bekannt geworden ist. Wiewohl sie den Ausgang ihrer Lehren aus den jüdischen Schriften nahmen, so richteten die Gnostiker dennoch mit einer leidenschaftlichen Wut feindliche Angriffe gegen das mosaische Gesetz, das sie als Werk des Demiurgos verachten zu müssen glaubten. War ihnen das Gesetz überhaupt ein beschränkter Standpunkt gegen die Freiheit der Gnosis, so erschienen ihnen die Strafgesetze der mosaischen Gesetzgebung mit allen Maßregeln, welche auf ein vernünftiges, sittliches Staatsverhältnis berechnet waren, als die härteste Tyrannei. Die gnostische Schule des Kerdon und Marcion trieb diese Verachtung des jüdischen Gesetzes am weitesten. Sie stellten einander gegenüber die Milde des Christentums und die scheinbare Härte des Judentums aus Beispielen des alten Testaments und den Lehren der Menschenliebe, trotzdem diese durch Jesus nur verbreitet, nicht neu eingeführt worden waren. Diese Sammlung von Parallelen nannte Marcion Gegensätze.31 Die marcionitische Schule trieb es so arg mit der Verdächtigung des Judentums, daß selbst die orthodoxen Kirchenlehrer eingedenk, daß jenes die Hauptsäule ihres Bekenntnisses bildet, gegen diese Auffassung ernstlich ankämpften. »Meide,« so warnt ein Sendschreiben angeblich von Paulus an Thimotheus, »das unheilige Geschwätz und die Gegensätze der falschen Gnosis, die einige verkünden, aber des Glaubens verfehlen«.32 Es gab eine gnostische Sekte, deren Anhänger sich förmlich darauf verlegten, gerade dasjenige zu tun, was in Moses Gesetz verboten ist; sie nannten sich Antitakten (von ἀντίταξις, gegen das Gesetz handeln).33
[90] Aus dieser Theorie entwickelte sich eine Praxis, die, wiewohl von derselben Grundidee ausgehend, in einer ganz entgegengesetzten Richtung verlief. Ein Zweig der Gnostiker, ergriffen von dem Gedanken, daß die höhere Erkenntnis der göttlichen Natur die Haupttugend sei, verachtete jede andere menschliche Tätigkeit und betrachtete sie als ein Übel, als ein Versinken in den Schlamm der irdischen Natur, in die Gewalt des Satans. Ganz besonders war diesen das eheliche Leben ein Stein des Anstoßes, das sie nicht genug anfeinden konnten. Die Ehe galt ihnen als eine Verdunkelung der Gnosis; es war eine ihrer Hauptanklagen gegen den Weltschöpfer, daß er die Menschheit in zwei Geschlechter getrennt und dadurch die Ehe gleichsam zum Notübel gemacht habe.34 Der Fleischspeisen, überhaupt der tierischen Nahrung, enthielten sie sich, um sich auf der Höhe des Geistes erhalten zu können. Von dem Gnostiker Bardesanes erzählt man, er habe sich aller Speisen enthalten und »wie eine Schlange gefastet.« Man nennt diesen Zweig der Gnostiker Asketen, auch Severianer und Enkratiten (von dem griechischen Worte ἐγκρατἠς, enthaltsam). Als Hauptträger dieser Richtung nennt man Saturnin, Marcion, Tatian und Bardesanes. Das Mönchsleben und die Ehelosigkeit der christlichen Priester waren die späteren Folgen dieser Lehre.
Eine entgegengesetzte Richtung, obwohl von denselben Grundgedanken ausgehend, lehrte die bodenloseste Sittenlosigkeit. Daß die Erkenntnis das Höchste sei, stellt diese Schule ebenfalls auf, folgert aber daraus, daß alles irdische Treiben gleichgültig, an sich weder gut, noch schlecht sei. Der sittliche Unterschied von guten und bösen Handlungen habe für den Gnostiker keinen Sinn, nur Gedanken und Gesinnungen seien diesem Unterschiede unterworfen. Dieser Grundsatz findet sich bei den Schöpfern dieser Schule, Karpokrates und seinem Sohn Epiphanes, deutlich ausgesprochen: »Außer der höheren Erkenntnis,« so lehrten sie, »ist alles übrige gleichgültig; nur nach der Meinung der Menschen ist das eine gut, das andere schlecht, von Natur aber gibt es nichts Schlechtes«.35 Einstimmig berichten jüdische und christliche Quellen, daß die Anhänger dieser Theorie Unkeuschheit, wilden Geschlechtsumgang, Gemeinschaft der Frauen, sogar blutschänderische Umarmungen empfohlen und geübt hätten. Der Schimpfname für diese gnostische Schule war Nikolaiten oder Balamiten, von dem Zauberer Balam (hellenisiert Nikolaos), der den Moabitern geraten, die Israeliten durch Frauenreiz zum Götzendienste zu verlocken. Christlicherseits erzählte man sich von Nikolaus, [91] dem angeblichen Stifter der Nikolaiten, folgendes: Als er einst von den Aposteln wegen allzuheftiger Eifersucht gegen seine Frau getadelt wurde, gab er sie jedermann preis, und durch dieses Beispiel ergaben sich seine Schüler allen fleischlichen Lüsten.36 Die Apokalypse macht der kleinasiatischen Gemeinde von Pergamus den Vorwurf, daß sich Mitglieder unter ihnen befinden, »die an der Lehre Balam halten, welcher den Balak lehrte, ein Ärgernis zu geben vor den Kindern Israel, zu essen der Götzen Opfer und Unzucht zu treiben. Also hast auch du solche, welche an der Lehre der Nikolaiten halten, die ich hasse«.37 Jüdischerseits wird von einem Schüler R. Jonathans erzählt, welcher in die Gemeinschaft einer solchen Sekte geraten war. Als sein Lehrer ihn aufsuchte, fand er die Sektierer, die aus Juden bestanden, mit einem Mädchen beschäftigt; sie forderten ihn auf, »der Braut den Liebesdienst« zu erweisen. Mit Entrüstung fragte er sie: »Und so etwas darf unter Juden vorkommen?« Darauf antworteten sie ihm: »Es heißt ja in der Schrift, dein Los wirf unter uns, ein Beutel sei für uns alle«.38 Solche übereinstimmende Zeugnisse aus jüdischen und christlichen Quellen lassen an der Tatsache nicht zweifeln, daß es eine unsittliche Sekte gegeben hat, welche der Fleischeslust aus Prinzip huldigte.
Dieses schwärmende Gesumme von Irrlehren und Sekten durchschwirrte und durchkreuzte sich in wirrem Durcheinander, jede von ihnen jagte nach Jüngern und Anhängern, wie denn überhaupt das Christentum und was damit zusammenhing, vom Urbeginne an sich nicht auf die stillwirkende Macht der Wahrheit verließ, sondern geradezu auf Proselyten ausging. Die Mittel, deren sich jene Sektierer zur Verbreitung ihrer Ansichten bedienten, waren Schriften in hebräischer, griechischer und syrischer Sprache, welche sich wie eine Flut über Judäa und die angrenzenden Länder bis Kleinasien und Rom ergossen. Die Schriftsteller dieser Literatur traten selten mit ihrem eigenen Namen auf, sondern legten zumeist ihre Gedanken alten Autoritäten der jüdischen Geschichte unter, deren Namen sie an die Spitze ihrer Schriften setzten. Man lieferte in dieser Zeit Schriften von Adam, Enoch, Prophezeiungen von Cham, Bücher von den Erzvätern, von Mose, Elias, Jesaias; man dichtetete Psalmen nach davidischem Muster, und kaum eine der biblischen Figuren blieb von den untergeschobenen Schriften verschont. Wo die Prophetennamen nicht ausreichten, erfand man neue von dem wunderlichsten Klange: Pachor, Barkor, Barkoph, Armagil, Barbelon, Balsamum, Abraxas, [92] Leusiboras und andere, in der Absicht, die Phantasie gefangen zu nehmen.39 Meistens legten die Urheber jener Schriften ihre Gedanken und Lehren dem Stifter des Christentums in den Mund, verarbeiteten in lebensgeschichtlichen Bildern Sagen und Mythen über seine Geburt, sein Leben, seine Wirksamkeit, seine Wundertätigkeit. Man zählt nahe an fünfzig solcher verschiedenen Evangelien, jede Sekte fast hatte ihr eigenes Evangelium und verwarf das der andern. Es gab ein Evangelium der Ebioniten, der Hebräer, der Gnostiker, der Enkratiten, des Kerinth, Basilides, Valentinus, Marcion, Tatian, der Ägypter, Syrer und anderer mehr. Zur Gewähr der Wahrheit des Erzählten schrieb man jedem der unmittelbaren Jünger Jesu die Abfassung eines Evangeliums zu.40 Bruchstücke aus dem Ägypterevangelium, welche noch vorhanden sind, veranschaulichen auf das Deutlichste, wie wenig sich die Sektierer scheuten, Stichwörter ihrer Partei Jesus in den Mund zu legen, und machen daher alles verdächtig, was in dieser ganzen Literatur über sein Leben erzählt wird. In diesem Evangelium kommen Äußerungen vom Stifter vor, welche die einen für ein Verbot der Ehe, die andern für eine Entfesselung des Geschlechtstriebes nahmen. Jesus wird darin in Unterredung mit einer Frau Salome eingeführt, welche ihn fragt, wann denn alles dasjenige werde erkannt werden, was er verheißen. Jesus antwortet ihr: »Dann wenn ihr den Schleier der Scham werdet zerreißen, und wenn die zwei (Geschlechter) eins sein werden, und das Männliche mit dem Weiblichen, weder Männliches noch Weibliches.41
Dem Judentum waren solche evangelische Schriften, welche zum Teil von Juden und für Juden geschrieben waren, nicht gleichgültig; sie berührten sein innerstes Wesen, da sie darauf hinzielten, den Bestand des Judentums zu unterwühlen und die Treue seiner Bekenner wankend zu machen. Gewiß war die Zahl derer nicht gering, die sich von diesem Dämmerlichte neuer Lehren, in welchen Wahres und Falsches wunderbar vermischt war, blenden und zum Abfall von der Muttergemeinde verlocken haben lassen. Die Abtrünnigkeit eines einzigen, des schon erwähnten Elisa ben Abuja, hatte späterhin traurige Folgen. Die Beweggründe, welche diesen Gesetzeslehrer, der sei nen Genossen an Kenntnis nicht nachstand, zum Abfall gebracht haben, sind in den Quellen nicht undeutlich angegeben und lassen den nicht unbedeutenden Einfluß der theosophischen Irrlehren auf den jüdischen Kreis erkennen. Die Sage hat aber Züge hinzugefügt, um sich die [93] seltene Erscheinung zu erklären, daß ein mit dem Gesetze Vertrauter einen solchen Schritt tun konnte, das Gesetz zu verhöhnen. Man erzählt sich, Elisas Vater Abuja sei einer der Reichen Jerusalems gewesen und habe zur Geburtstagsfeier seines Sohnes die angesehensten Männer der Lehre, darunter auch R. Elieser und Josua, eingeladen. Als diese sich von dem Gesetz unterredet, habe sie ein himmlisches Feuer umflossen. Der Vater, über diesen Anblick erstaunt, habe sich vorgenommen, seinen Sohn für das Gesetzesstudium zu erziehen; weil aber der Beweggrund dazu die Eitelkeit gewesen, darum habe die Lehre keine tiefen Wurzeln in dem Gemüte des Sohnes geschlagen. Es ist nicht zweifelhaft, daß Elisa ben Abuja mit der gnostischen Literatur jener Zeit vertraut war; dahin deuten die Nachrichten, daß griechische Gesänge nicht aus seinem Mund gewichen, daß Schriften der Minäer ihn stets begleitet haben. Sicher ist ferner, daß er sich den Grundgedanken der Gnosis von einem Doppelwesen in der Gottheit angeeignet und dadurch gleich den Gnostikern ein Verächter des jüdischen Gesetzes geworden war. Auch praktisch soll er der schlechten gnostischen Moral gehuldigt und sich einem zügellosen Leben überlassen haben. Von seinem Abfalle vom Judentume erhielt er den Apostatennamen Acher (ein anderer), als wenn er durch den Übertritt zu einem andern Prinzipe ein anderer geworden wäre. Acher gilt daher in jüdischen Kreisen als der vollendete Ausdruck der Abtrünnigkeit, welche die erlangte Kenntnis des Gesetzes dazu mißbraucht, dieses mit Nachdruck zu verfolgen.42
Diesen Wühlereien gegenüber, welche vom Christentume aus gegen das jüdische Wesen gerichtet wurden, mußte das Judentum sich selbst schützen und auf seine Selbsterhaltung und seinen Fortbestand bedacht sein. Feindliche Mächte drangen in seinen Tempel, entweihten seine Heiligtümer, trübten seinen reinen Gottesbegriff, verfälschten und mißdeuteten seine Lehren, machten seine Anhänger abtrünnig und bewaffneten sie mit Haß und Verachtung gegen den Gegenstand ihrer frühern Verehrung; es durfte dieses Treiben nicht gleichgültig und müßig mit ansehen. Die Zeit der Hellenisten in der makkabäischen Periode, die zuerst die Zwietracht in das Haus Israel gebracht, schien in erschreckender Gestalt wiedergekehrt; abermals verschworen sich die eigenen Söhne gegen ihre Mutter. Der enge Kreis der Tannaiten empfand die von dort her drohende Gefahr aufs Lebhafteste; er erwartete nichts Gutes für die Lehre von seiten der Minäer und erkannte, daß ihre Schriften eine verführerische Wirkung auf die urteilsunfähige Masse ausübten. R. Tarphon (Tryphon) sprach von diesem gefahrdrohenden Einflusse mit vollster Überzeugung:[94] Die Evangelien (Gilion) und sämtliche Schriften der Minäer verdienten verbrannt zu werden mitsamt den heiligen Gottesnamen, die darin vorkommen; denn das Heidentum ist minder gefährdend, als die judenchristlichen Sekten, weil jenes die Wahrheiten des Judentums aus Unkenntnis nicht anerkenne, diese hingegen sie mit klarer Erkenntnis verleugneten. Er würde daher sich lieber in einen Heidentempel flüchten, als in die Versammlungshäuser der Minäer.« R. Ismael, von Charakter minder heftig als R. Tarphon, äußerte dieselbe Stimmung gegen das seinem Ursprunge entartete Judenchristentum; man dürfe sich nicht scheuen, die Gottesnamen in den Evangelien zu verbrennen, denn sie schürten nur Haß und Widerwillen zwischen dem jüdischen Volke und seinem Gotte.43 Man warf jüdischerseits den zum Christentum haltenden Juden ganz besonders vor, daß sie ihre Stammgenossen bei den römischen Behörden durch Angebereien und Anschuldigungen anzuschwärzen suchen. Vielleicht wollten die Judenchristen durch solche Mittel sich bei den Machthabern in Gunst setzen und dadurch dartun, daß sie keine Solidarität mit den Juden hätten; die Zeitgenossen nennen daher stets Minäer und Angeber als gleichbedeutend. Die Gerüchte, welche von dem sittlichen Verhalten der Christen im Umlauf waren, trugen das Ihrige dazu bei, die Abneigung gegen sie zu steigern. Man beschuldigte jüdischerseits die Christen, daß sie bei ihren gottesdienstlichen Versammlungen, wo in der Regel Personen beiderlei Geschlechts anwesend waren, plötzlich die Lichter verlöschen und in der Dunkelheit einem unzüchtigen Treiben fröhnen. Mag dieses Gerücht durch die zügellosen gnostisch-christlichen Sekten, oder von dem Bruderkusse, den die Gläubigen einander bei ihren Zusammenkünften ohne Unterschied des Geschlechts zu erteilen pflegten, oder von dem engen Zusammenleben eheloser Christen mit Jungfrauen,44 den sogenannten Schwestern, seine Nahrung erhalten haben – genug man hegte gegen das Christentum ein sehr ungünstiges Vorurteil und warf ihm vielerlei Entartung vor.45
Das jamnensische Synhedrion mußte sich mit der Frage beschäftigen, welche Stellung den Judenchristen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft anzuweisen sei und ob man sie überhaupt noch als Juden zu betrachten habe. Es wird zwar kein förmlicher Synhedrialbeschluß in bezug auf die Minäer namhaft gemacht, allein die Maßregeln, welche gegen sie eingeführt wurden, zeugen vom Vorhandensein [95] eines solchen. Es wurde eine förmliche Scheidewand zwischen Juden und Judenchristen gezogen; man stellte die letztern noch tief unter die Sekte der Samaritaner und in mancher Beziehung auch unter die Heiden. Man verbot, von den Judenchristen Fleisch, Brot und Wein zu genießen, wie man es kurz vor der Tempelzerstörung in bezug auf Heiden untersagt hatte, um einen vertrauten Umgang mit diesen zu erschweren. Über die christlichen Bekenntnisschriften wurde das Verdammungsurteil gesprochen; man stellte sie den Zauberbüchern gleich. Selbst jeder geschäftliche Verkehr, jede Dienstleistung wurde aufs strengste untersagt, namentlich war es verpönt, sich der Wunderkuren zu bedienen, welche die Christen im Namen Jesu bei leidenden Menschen oder Tieren auszuüben pflegten. Eine solche Strenge, wie gegen den Gebrauch der Heilmittel von Christen bestand nicht einmal in betreff der Heiden; man befürchtete, wie ausdrücklich erwähnt wird, von deren Zulassung einen verführerischen Einfluß auf die urteilsunfähige Menge.46 Außerdem wurde in das tägliche Gebet eine Verwünschungsformel gegen die Minäer und Angeber eingefügt (sie führte den Namen Birchat ha-Minim). Der Patriarch R. Gamaliel hatte die Abfassung derselben Samuel dem Jüngern aufgetragen. Dieser Umstand bestätigt die Vermutung, daß auch die andern Maßregeln gegen die Judenchristen, wenn sie auch nicht direkt vom Patriarchen ausgegangen waren, doch seine Billigung erhalten hatten. Die Verwünschungsformel scheint übrigens eine Art Gesinnungsprüfung gewesen zu sein, um diejenigen zu erkennen, welche heimlich dem Judenchristentume anhingen. Denn es wurde dabei bestimmt, wer sie oder den Wunsch zur Wiederherstellung des jüdischen Staates beim öffentlichen Vorbeten verschweige, solle vom Betpulte hinweggewiesen werden.47 Alle Beschlüsse gegen die judenchristlichen Sekten ließ das Synhedrion durch Sendschreiben den Gemeinden bekannt machen.48 Von christlicher Seite ist infolge dessen den Juden zum Vorwurf gemacht worden, daß sie dreimal des Tages d.h. in dem Morgen-, Mittags- und Abendgebet, Christus verfluchen.49 Indessen ist dieser Vorwurf eben so ungerecht, wie vieles gegen die Juden vorgebrachte und beruht auf einem Mißverständnisse. Nicht der Person des christlichen Religionsstifters, nicht einmal sämtlichen Christen galt die Verwünschungsformel im Gebete, sondern lediglich den Minäern, worunter, wie schon erwähnt, sämtliche dem Christentum zugefallenen, vom Judentume abtrünnig gewordenen Juden begriffen waren, [96] welche sich von ihrem Hasse gegen ihre Stammgenossen zu Angebereien bei den römischen Behörden hinreißen ließen. Die Heidenchristen dagegen lagen außer dem Bereiche der jüdischen Gesetzgebung. Indessen mochten sich die Nazaräer und die andern dem Judentume abgeneigten Sekten von diesen Ausschließungsmaßregeln nicht so sehr getroffen gefühlt haben, da sie sich ja ihrerseits von dem jüdischen Verbande losgesagt hatten. Judentum und Christentum stießen sich also gegenseitig ab und behandelten einander mit derselben Feindseligkeit, die sie beide gegen das Heidentum empfanden. Je mehr sich das Christentum von seinem Ursprunge entfernte, desto mehr vergaß es oder machte sich vergessen, nicht nur woher es gekommen war, sondern auch von wem es den wesentlichsten Teil seiner herzengewinnenden Lehren genommen habe. Der erste Schritt zur Entfremdung der Christen von ihrem Urquell führte sie allmählich zu fanatischer Gehässigkeit gegen die Juden.
Durch die Ausscheidung der judenchristlichen Sekten aus der jüdischen Gemeinschaft waren indessen noch nicht alle Folgen des eine Zeitlang geübten Einflusses auf die Juden verwischt. Gewisse gnostische, d.h. halbchristliche Anschauungen hatten sich auch in jüdischen Kreisen Eingang zu verschaffen gewußt. Die Begriffe vom Urstoffe der Welt, von den Äonen, von den vorausbestimmten Klassenunterschieden der Menschen, selbst die Lehre von dem Doppelwesen der Gottheit, als eines Gottes der Güte und eines andern der Gerechtigkeit, hatten bei manchen Anklang gefunden und sich so fest in ihrem Bewußtsein eingenistet, daß sie selbst im Gebete Ausdruck erhalten hatten. Diese erlaubten sich gewisse Wendungen beim Gebete, welche an gnostische oder christliche Vorstellungen erinnerten. Gebetformeln, wie: »Dich, Gott, loben die Guten,« oder »dein Name werde zum Guten genannt,« die Wiederholung der Formel »Dich, Gott, loben wir,« der Gebrauch zweierlei Gottesnamen alles dieses galt als eine Anspielung auf die Anschauungsweise der theosophischen Irrlehre, welche die Güte Gottes auf Kosten seiner Gerechtigkeit scharf betonte und damit den Grundbegriff des Judentums in Frage stellte. Vorschub leistete dieser Gedankenrichtung die Vertiefung in die Erzählung von der Weltschöpfung im ersten Buch Mosis und vom Thronwagen Gottes im Propheten Ezechiel (Maa'sse Bereschit, Maa'sse Merkaba); die Phantasie hatte auf diesem, dem Verständnisse so schwierigen Gebiete, freien Spielraum, und mancher befremdliche Ausdruck in diesem Texte mochte mit dem Zubehelf der agadischen Manier jener Zeit an dieses und jenes erinnern, so sehr es auch dem wahren Sinn desselben fern liegt. Untersuchungen über dieses Thema waren daher eine Lieblingsbeschäftigung geworden und je dunkler, desto anziehender; man nannte solche Vertiefung in[97] der mystisch-bildlichen Sprache »eingehen ins Paradies«, mit Anspielung auf den Baum der Erkenntnis, der nach der biblischen Erzählung im Garten Eden oder dem Paradiese für das erste Menschenpaar einen so verlockenden Reiz hatte. Es werden mehrere Gesetzeslehrer namhaft gemacht, welche sich in diese höhere Weisheit einweihen ließen; doch verkannte man nicht, daß diese Beschäftigung vielfache Gefahren für das jüdische Bekenntnis im Gefolge habe. Diese Gefahren werden in der Quelle angedeutet durch die Angabe, daß von den beiden Jüngergenossen Ben-Soma und Ben Asaï der eine sich dadurch eine Verstandeszerrüttung, der andere den frühzeitigen Tod zugezogen, Acher infolgedessen mit dem Judentum zerfallen, ein Verächter und Verfolger desselben geworden sei. Nur R. Akiba sei glücklich der Gefahr entronnen, d.h. er sei bei seinen theosophischen Forschungen doch immer auf dem Boden des Judentums geblieben. In der Tat zeigt R. Akiba auch die geläutertsten Begriffe von Gott, seiner Weltwaltung und der Aufgabe des Menschen hinieden, was einen scharfen Kontrast gegen die Zerfahrenheit der Gnostiker bildet. Er stellte einen Satz auf, welcher durch seinen Inhalt und seine Kürze ein vollgültiges Zeugnis ablegt, daß er in der höhern Agada eben so bedeutend war, wie in der Halacha. Er lehrte: »Es gibt für alles eine Vorsehung, die Willensfreiheit ist den Menschen gewährt, die Welt wird durch Güte regiert, und das Verdienst des Menschen besteht in der Fülle von Taten« (d.h. nicht in der bloßen Erkenntnis.50 Jedes Wort in diesem Kernspruche hat eine Spitze gegen Irrlehren jener Zeit.
Wie die tieferblickenden Tannaiten die Gefahren nicht verkannten, die aus der Freiheit der Forschung den höchsten Wahrheiten des Judentums erwachsen konnten, so trafen sie Vorkehrungen, sie zu beseitigen. R. Akiba drang am meisten darauf, der Maßlosigkeit derjenigen Theorie, welche zum Abfall vom Judentum und zu zügelloser Unsittlichkeit führte, eine Schranke zu setzen. Er war der Meinung, daß man den Text über die Schöpfungsgeschichte und den Ezechielschen Thronwagen Gottes nicht vor dem Volke auslegen, sondern dessen Verständnis nur wenigen Auserwählten eröffnen sollte. Diejenigen, welche in die höhere Weisheit eingeweiht sein wollten, müßten hinlängliche Vorkenntnisse besitzen, um Winke und Andeutungen zu verstehen, vor allem aber sollten sie das dreißigste Lebensjahr überschritten haben.51
Die Beschäftigung mit der judenfeindlichen Literatur jener Zeit wollte R. Akiba dadurch bannen, daß er denjenigen, welche [98] sich mit ihr befaßten, den Anteil an der zukünftigen Welt absprach, gleich denen, welche die Auferstehung und die Göttlichkeit des jüdischen Gesetzes leugneten.52 Die Einschaltung zweideutiger Gebetformeln, welche an die Lehre der Minäer anklangen, unterdrückte man ganz und gar. Diese Maßregeln gegen das Eindringen gnostisch-christli cher Theorien trugen ihre Früchte; die reinen Begriffe des Judentums von Gott, seinem Verhältnisse zur Welt und dem sittlichen Verhalten des Menschen blieben in jüdischen Kreisen ungetrübt als befruchtende Gedanken für die Zukunft. Den Tannaiten dieses Zeitalters gebührt das Verdienst, daß sie in ihrer Zeit, wie die Propheten in der götzendienerischen Umgebung, das Judentum vor Verfälschung und Verflüchtigung durch hereinbrechende Irrlehren geschützt haben. Indem sie, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, einerseits die judenchristlichen Sekten aus der jüdischen Gemeinschaft ausschlossen, anderseits der Berührung mit deren Theorien den Weg versperrten, kräftigten sie das Judentum und rüsteten es mit einer unverwüstlichen Widerstandskraft aus, den Stürmen, welche so viele Jahrhunderte hindurch von vielen Seiten über dasselbe hereinbrachen, nicht zu erliegen.
Durch diese Kräftigung und Konzentrierung war das Judentum imstande, auch nach außen hin einen nicht ganz unbeträchtlichen Einfluß zu üben. War das aus unscheinbaren Elementen hervorgegangene Christentum nicht wenig stolz darauf, in kaum zwei Menschenaltern einen so massenhaften Anhang unter den Heiden gefunden zu haben, die durch die Aufnahme der neuen Lehre ihre Nationalgötter mit einem unbekannten Gotte vertauschten, so hatte das Judentum weit mehr Grund, sich etwas darauf zugute zu tun, daß auch ihm Bekenner aus dem Heidentume zufielen. Ohnehin gebührte ja ein großer Teil des Sieges, welchen das Christentum über die Heidenwelt errang, der jüdischen Religion, deren Grundwahrheiten und Sittenlehre bei den Bekehrungen der Heiden oft den Ausschlag gaben. Kämpften doch die heidenbekehrenden Apostel nur aus dem Bewußtsein des Judentums heraus gegen die mythologische Verkehrtheit der Griechen und Römer und bedienten sich hierbei des treffenden Spottes, den die Propheten gegen den Götzendienst, die daraus erwachsende Sittenlosigkeit und Trostlosigkeit mit so einschneidender Schärfe gerichtet hatten. Aber das Judentum feierte auf selbständige Weise seine Triumphe über das Heidentum, die um so glänzender erscheinen, wenn man bedenkt, daß ihm alle Mittel und Vorteile abgingen, welche den Übertritt der Heiden zur Christuslehre so sehr erleichterten. Das Christentum schickte seine eifrigen [99] Sendboten aus, die, nach Paulus' Beispiel, durch Beredsamkeit und angebliche Wunderkuren zum Übertritte verlockten. Es legte den Neubekehrten keine schweren Pflichten auf, ja es war nachsichtig genug, ihnen ihre alte Lebensgewohnheit und teilweise auch ihre alte Anschauungsweise zu lassen, ohne sie aus dem Kreise der Familie, der Verwandtschaft und des liebgewonnenen Umganges zu reißen. Es lehrte sie geradezu: »So ein Bruder ein ungläubig (heidnisches) Weib hat, und dieselbige läßt es sich gefallen, bei ihm zu wohnen, der scheide sich nicht von ihr. Und so ein Weib einen ungläubigen Mann hat, und er läßt es sich gefallen, bei ihr zu wohnen, die scheide sich nicht von ihm«.53 – »So aber jemand von den Ungläubigen euch ladet, und ihr wollt hingehen, so esset alles, was euch vorgetragen wird, und forschet nicht (ob es Götzenopfer sei). So aber jemand würde zu euch sagen, das ist Götzenopfer, so esset nicht um des willen, der es anzeigt, auf daß ihr des Gewissens verschonet«.54
Nicht so das Judentum; es hatte keine bekehrungseifrigen, überredungsfertigen Apostel, im Gegenteil, es wies die zum Übertritt Geneigten mit Hinweisung auf die schwere Praxis, der sie sich unterziehen müßten, geradezu ab.55 Jüdische Proselyten hatten unendliche Schwierigkeiten zu überwinden, wenn sie sich zu diesem Schritte entschlossen. Abgesehen von der Operation der Beschneidung, mußten sie sich von ihrem Familienkreise trennen und sich von ihren Jugendfreunden in Speise und Trank, im alltäglichen Lebensverkehr absondern. So lange noch die politische Selbständigkeit der Juden bestand, bot der Übertritt zum Judentum doch etwas, was einigermaßen für das Aufgeben liebgewordener Gewohnheiten entschädigen konnte; damals war das Erscheinen von Proselyten erklärlich. Aber nach der Zerstörung fanden Proselyten nur drückende Ausnahmegesetze, welche sie mit ihren neuen Glaubensgenossen zu teilen hatten. Es bleibt demnach eine höchst merkwürdige Tatsache, daß sich Beispiele von Bekehrung der Heiden zum Judentume im Morgenlande, Kleinasien und am häufigsten in Rom während des halben Jahrhunderts nach dem Untergang des jüdischen Staates finden.
Die Zahl der Proselyten muß nicht unbedeutend gewesen sein, da die jüdische Gesetzgebung sich mit Halachas rücksichtlich derselben beschäftigt hat. Es wurde ein Gesetz erlassen, das Proselyten in Ermangelung des Tempels eine Geldsumme zum Ankaufe des pflichtmäßigen [100] Opfers weihend bei Seite legen sollten für den Fall, daß der Tempel wieder hergestellt werden würde.56 Jüdische Neubekehrte mußten nämlich ihren Eintritt durch Beschneidung, Taufe und ein Opfer betätigen.57 Es kamen ferner Fragen vor, ob man Ammoniter ohne weiteres aufnehmen sollte, oder ob das biblische Verbot noch bestände, daß Moabiter und Ammoniter nie zur Gottesgemeinde zulässig seien.58 Endlich bestand eine Streitfrage, ob man Proselyten aus Palmyra (Tadmor) und aus Corduene, gegen welche gehässige Vorurteile herrschten, aufnehmen dürfe.59 Ein ganzer Traktat des Gesetzes handelte lediglich von Proselyten (Massechet Gerim), und in das tägliche Gebet wurden die vollkommenen Proselyten (Gere ha-zedek) eingeschlossen.60 Manche zu dem Judentume übergegangene Heiden hatten sich halachische Kenntnisse angeeignet; R. Akiba hatte zwei Proselyten unter seinen Jüngern, einen Ägypter mit Namen Menjamin (Benjamin) und einen Ammoniter namens Juda.61
Am meisten Anhänger fand das jüdische Bekenntnis in der Weltstadt Rom, trotz der Vorurteile und des Hasses, welche die Römer gegen die Juden hegten. Der einsichtsvolle Geschichtsschreiber Tacitus konnte sich die Tatsache gar nicht erklären, wie die Römer seiner Zeit sich der Beschneidung und den andern jüdischen Religionsübungen unterziehen, ihre Götter verachten, ihr Vaterland aufgeben, Eltern, Kinder und Geschwister für nichts achten konnten, um sich dem Judentume anzuschließen.62 Aus den strengen Gesetzen des Kaisers Domitian gegen die Proselyten63 läßt sich ein Schluß auf deren zahlreiches Vorkommen ziehen. Es ist möglich, daß die Menge jüdischer Kriegsgefangener, welche in alle Enden des römischen Reiches verkauft, verschenkt und vererbt wurden, ihren Herren eine gewisse Achtung vor der jüdischen Lehre beigebracht hat, wie es ja nicht selten vorkam, daß Sklaven durch Bildung und Tugend ihre Herren zu einer besseren Überzeugung brachten. Der satirische Dichter Juvenal, welcher sich über die Laster und Torheiten seiner Zeitgenossen lustig macht, verspottet unter anderm die römischen Väter, welche jüdische Bräuche heilig hielten und dadurch ihre Kin der dem Judentume ganz und gar zuführten.
[101] »Wenn den Kindern zum Los ein Vater, der Sabbate feiert,
Bald dann werden sie nur verehren die Himmel und Wolken,
Meiden des Schweines Genuß, als gelt' es vom Menschen zu essen.
Weil auch der Vater es mied; bald legen sie ab auch die Vorhaut.
Romas uraltes Gesetz, gewöhnt überhaupt zu verachten,
Lernen sie nun der Juden Gesetz, und haltens und fürchtens
Wie's einst Mose gelehrt in einem mystischen Buche,
Glaubensverwandten allein die rechten Wege zu weisen,
Und zum labenden Quell nur Beschnittene freundlich zu führen.
Schuld des Vaters allein; den siebenten Tag der Trägheit
Weihend, scheut von des Lebens Geschäften er auch das Kleinste.64
Von einer Proselytin wird erzählt, daß sie mit ihrem ganzen Sklavengefolge zum Judentum überging; einige Sklaven hatten die Proselytentaufe von ihrer Gebieterin empfangen und erhielten dadurch auf R. Gamaliels Ausspruch die Freiheit, weil ihre Herrin in jenem Augenblick noch im Stande des Heidentums war und ihr Anrecht hiermit auf die eben Juden gewordenen Sklaven verloren habe. Der Name dieser Proselytin lautete wahrscheinlich Veturia, kommt jedoch in der verstümmelten Form Veruzia oder gar Belurit vor.65 Sie scheint in der heiligen Schrift gut unterrichtet gewesen zu sein, denn sie unterhielt sich mit R. Gamaliel über einige Widersprüche in derselben.66 Vielleicht ist es dieselbe Proselytin Paulla Veturia, deren Grabstein man in Rom aufgefunden hat. Diese hatte sich im höheren Alter zum Judentum bekannt und lebte als Jüdin unter dem Namen Sara noch sechzehn Jahre. Auf ihrem Grabstein wird sie Mutter der Synagogen von Campus und Volumnus genannt, die wahrscheinlich von ihr erbaut worden waren.67 Indessen darf nicht verschwiegen werden, daß der maßlose Aberglaube der Römer und ihre überspannte Vorliebe für fremde Kulte an der Anhänglichkeit an jüdische Bräuche ebensoviel Anteil hatte, als der sittliche Einfluß des Judentums. Wie sich die entarteten und entnervten Römer zu dem Isistempel drängten, so mögen sie auch die Synagogen aufgesucht haben, um Orakel über ihre Zukunft zu erfahren. Man hielt in Rom die Juden für gute Traumdeuter, und die sittenlosen römischen Frauen suchten die jüdischen Bettler auf, um sich von ihnen wahrsagen zu lassen.68 Gleichwohl ist es eine unbestreitbare Tatsache, daß das Judentum selbst im Kreise der römischen Würdenträger Anhänger gefunden hat. Es ist außer Zweifel, [102] daß ein Blutsverwandter des Tempelzerstörers Titus, Mitkonsul des Kaisers Domitian, wenn nicht Proselyt, doch gewiß ein warmer Freund der Juden gewesen ist; sein Name war Flavius Clemens. Er und seine Gattin Flavia Domitilla haben später schwer dafür gebüßt.69 Der Stolz des Judentums war der Proselyte Akylas70 (Aquila Onkelos nach der aramäischen Aussprache), der in der jüdischen Geschichte Epoche machte. Er stammte aus der Landschaft Pontus, wo er reiche Besitzungen hatte; die Sage machte ihn gar zu einem Verwandten des Kaisers Hadrian, wofür aber die Geschichte keinen Anhaltspunkt hat. Mit der Kenntnis der griechischen Sprache und mit philosophischem Wissen ausgestattet, verließ R. Akylas in reifem Alter den heidnischen Kultus, um sich den Heidenchristen anzuschließen, die sich eines solchen Anhängers triumphierend rühmten. Doch gab er auch das Christentum auf, um es mit dem Judentume zu vertauschen. Dieser Austritt kränkte die Christen eben so sehr, wie seine frühere Bekehrung sie mit Freuden erfüllt hatte, und sie verbreiteten einen üblen Ruf über ihn. Bald soll Akylas von der Christengemeinde ausgestoßen worden sein, weil er sich mit der Astrologie beschäftigt hätte, bald soll er aus Liebe zu einem jüdischen Mädchen dem Judentum beigetreten sein. Als Jude verkehrte Akylas mit den Haupttannaiten, mit R. Gamaliel, Elieser und Josua und besonders mit R. Akiba, dessen Zuhörer er wurde. Des letzteren Lehrsystem scheint auf Akylas' Geistesrichtung nicht ohne Einfluß gewesen zu sein. Der Proselyte aus Pontus lebte sich so sehr in das Judentum hinein, daß er zum Bunde der Genossen gehörte und einen noch viel höheren Grad levitischer Reinheit beobachtete als der Patriarch. Als er nach dem Tode seines Vaters die Hinterlassenschaft mit seinen Brüdern teilte, mochte er für den Wert der Götzenbilder, welche seinen Brüdern zugefallen waren, nicht einmal das Äquivalent annehmen, sondern warf es ins Meer zur Vernichtung.
Berühmt machte sich Akylas durch seine neue griechische Übersetzung der heiligen Schrift. Die Willkür, mit der die Christen die ältere griechische Übersetzung behandelten, scheint ihm das Bedürfnis nach einer einfachen, treuen Übersetzung fühlbar gemacht zu haben. Da auch die Christen beim Gottesdienste die heilige Schrift lasen und zwar in der alexandrinischen Übersetzung der sogenannten Siebzig (Septuaginta), so lag ihnen viel daran, in diesem Texte recht viel Andeutungen und Beziehungen auf Christus hervorkehren zu können. Sie änderten daher, wie sie es brauchten, manche Stelle ab und fügten manche hinzu, um in dem für heilig [103] gehaltenen griechischen Texte bewährende Prophezeiungen auf Christus zu haben. Man findet daher manche Stelle, auf welche sich die Kirchenlehrer zur Bestätigung der Christuslehre berufen, weder im hebräischen Texte, noch in der Urgestalt der griechischen Übersetzung.71 Die gnostischen Sekten ermangelten auch nicht, Zusätze zu machen, um ihren Lehren die Autorität des Bibelwortes zu geben. Von der Schule eines gewissen Artemion wird ausdrücklich erwähnt, daß sie die alte griechische Übersetzung entstellt habe.72 Die Juden ihrerseits, über die Abänderung im christlichen Sinne betroffen, änderten nicht minder den griechischen Text, um jede Beziehung auf Christus zu verwischen. Die Septuaginta war ein Tummelplatz für heftige Ringer geworden, und die Spuren des Parteikampfes sind noch teilweise an ihr zu bemerken; sie wurde stellenweise verstümmelt und wimmelte von verdorbenen Lesarten.
Eine gute griechische Übertragung der Bibel war aber bei der Vorlesung aus der Thora und den Propheten ein Bedürfnis für die griechisch redenden Juden. Es war damals allgemeiner Brauch, die in den Synagogen vorgelesenen Abschnitte aus der Bibel in die verständliche Landessprache zu verdolmetschen. Von diesen Rücksichten geleitet, unternahm Akylas, ausgerüstet mit vollkommenem Verständnis des Hebräischen und Griechischen, eine neue Übersetzung zu liefern, welche der maßlosen Willkür entgegenarbeiten sollte. Er hielt sich zu diesem Zwecke beim Übersetzen streng an den hebräischen Originaltext, übertrug mit peinlicher Genauigkeit Wort für Wort, ohne Rücksicht darauf, daß dadurch den griechischen Lesern der Sinn unverständlich bleiben würde. Die Worttreue der Akylaschen Übersetzungsweise, die sprichwörtlich geworden ist, erstreckte sich bis auf diejenigen Partikeln, die im Hebräischen einen Doppelsinn zulassen, welche er auch in der Übertragung nicht verwischen mochte. Er wollte den Wortsinn des Hebräischen in dem griechischen Gefäße durchsichtig machen. Die sklavische Wörtlichkeit in seiner Übersetzung scheint er auch zugunsten des Lehrsystems von R. Akiba gebraucht zu haben, das, wie schon erwähnt, in jedem Wort eine Nebenbedeutung und einen Fingerzeig auf die mündliche Überlieferung erblickte. Akylas überarbeitete seine Übersetzung zum zweiten Male, und die zweite Version soll noch genauer den hebräischen Text und den halachischen Midrasch wiedergegeben haben. Man nannte diese zweite griechisch κατ᾽ ἀκριβείαν (die zutreffende).73 Seine vollendete Übersetzung legte er R. Elieser, R. Josua und R. Akiba vor, und sie konnten nicht umhin, ihn für seine Leistung zu loben; sie versprachen sich von ihr[104] einen wohltätigen Einfluß auf die Verbreitung des Judentums. Man wendete auf Akylas' Übersetzung den Schriftvers an, Gott hat Japhet (Typus des Griechentums) mit einer schönen Sprache begabt, und jetzt wird sie in dem Zelte Sems (Typus des Judentums) weilen«.74 – Waren die Frommen früher mit einer Übersetzung der heiligen Schrift überhaupt unzufrieden, weil man glaubte, daß der ursprüngliche Sinn dadurch getrübt werden könnte, hatte man sogar den Tag, an welchem die alexandrinische Übersetzung der Siebzig zu stande gekommen war, für einen Unglückstag gehalten, gleich jenem, an welchem das goldene Kalb in der Wüste angebetet wurde, und ihn gar als Fasttag eingesetzt,75 so hatte Akylas durch seine treue, wörtliche Übersetzung über jene Bedenklichkeiten hinweggeholfen und das Gewissen der Frommen beruhigt. Man legte daher dieser Übersetzung die Heiligkeit des hebräischen Urtextes bei und empfahl sie allgemein zum Zwecke öffentlicher Vorlesungen.76
Akylas' Übersetzung fand die allgemeinste Verbreitung.77 Viele Wörter aus ihr sind in der jüdischen Literatur aufbewahrt, was den Beweis gibt, daß sie auch in Judäa im Gebrauch war. Auch die Ebioniten, denen die Entstellungen in der älteren Übersetzung zugunsten der Andeutung auf die Göttlichkeit Jesu nicht minder anstößig war, bedienten sich ihrer beim Gottesdienste.78 Aus demselben Grund wurde sie gerade von den Heidenchristen und denjenigen judenchristlichen Sekten, welche den Standpunkt der Ebioniten aufgegeben hatten, verabscheut. Sie nahmen besonders an der Übersetzung des Verses Jesaia Anstoß, den Akylas mit den Worten wiedergegeben hatte: »Siehe, eine junge Frau ist schwanger, wird einen Sohn gebären und ihn Immanuel nennen.« Die Christen hatten sich diesen Vers durch »eine Jungfrau wird schwanger werden« zurecht gelegt und darin die Prophezeiung von der jungfräulichen Geburt Jesu gefunden.79 Akylas' Übersetzung, so wichtig für die Zeitgenossen, hat sich nach und nach verloren, und es sind von ihr nur einzelne Worte und Bruchstücke erhalten, welche jedoch zu einem richtigen Schlusse auf ihren ursprünglichen Charakter berechtigen.80 Es scheint, daß eine aramäische Übersetzung der Bibel sich Akylas' Einfachheit zum Muster genommen und daher den Namen Targum Onkelos (soviel wie Ankylos) geführt hat; diese ist noch jetzt unter diesem Namen in Gebrauch.81
1 Darüber, sowie über die Entstehung des Christentums überhaupt ist im vorhergehenden Bande abgehandelt.
2 Diesen Punkt muß ich in ein helleres Licht rücken, da er ein kritisches Moment abgibt. In der oft zitierten Stelle Suetons (Domitian, c. 12) gibt die schon von Casaubonus festgehaltene Lesart das richtige Verständnis: Praeter caeteros Judaïcus fiscus acerbissime actus est, ad quem deferebantur qui vel uti professi Judaïcam intra urbem viverent vitam, vel dissimulata origine, imposita genti tributa non pependissent. Sie empfiehlt sich viel besser als jene: veluti professi oder gar vel improfessi; vel uti professi bildet einen Gegensatz zu dissimulata origine. Zur jüdischen Rentenkammer wurden geführt, sei es diejenigen, welche offen bekennend, jüdisch lebten, sei es diejenigen, welche ihre Abstammung verleugneten. Das Beispiel, welches Sueton weiter anführt: Interfuisse me adulescentulum memini, cum a procuratore, frequentissimoque concilio inspiceretur nonagenarius senex, an circumsectus esset, soll die acerbitas, die rücksichtslose Strenge erhärten. Es ist möglich, daß hier auch von Christen die Rede ist, wofür die kirchenhistorischen Handbücher die Stelle anzuführen pflegen, aber nicht notwendig. Juden haben gewiß auch, so weit es ging, ihre Abstammung verheimlicht, um dem φόρος τῶν σωμάτων, dem Leibzoll, zu entgehen. Das folgt aus der andern Tatsache aus der Anwendung des Epiplasmos. Wozu hätten ihn die Juden eingeführt, wenn nicht, um von dem Zoll befreit zu sein? Dieses Faktum ist konstatiert durch Tosifta Sabbat, c. 16: ךושמה אוהש ינפמ לומי אל ךושמ רמוא הדוהי 'ר לומיש ךירצ (הלרעב) אלו םינב םהל ויהו אביזוכ ןב ימיב ולמ הברה ול ורמא .ןכוסמ יתירב תא רמואו .םימעפ האמ וליפאו לומי לומה רמאנש ותמ ךושמה תא תוברל רפה (Auch zitiert in Jebamot, 72 a; Jerus. das., VIII, 17 a. Sabbat XIX, 17 a. Genesis Rabba, c. 46.) Daraus folgt, daß viele, die sich ein künstliches praeputium angebracht hatten, sich zuerst zu Bar-Kochbas Zeit wieder beschnitten haben. Sie hatten also vorher in Trajans und Domitians Zeit den Epiplasmos angewendet. Auch die Sentenz des Eleasar Modaï spielt darauf an (Abot III, 15): ותירב רפמה ןיא םיבוט םישעמו הרות ודיב שיש: יפ לע ףא וניבא םהרבא לש אבה םלועל קלח ול Zerstören oder Aufheben des Bundes ist nichts anderes als Epiplasmos. Vergl. den Vers im ersten Korintherbrief 7, 18: περιτετμƞμένος τὶς ἐκλἠϑƞ, μὴ ἐπισπάσϑω. Schwerlich hat sich jemand aus bloßer Laune oder gar aus rabiatem Eifer wider das Gesetz der nicht ganz schmerzlosen Operation unterzogen. Vielmehr scheint es der Bescheid auf eine schwebende Frage zu sein, ob sich Judenchristen, welche die Beschneidung nicht mehr so hoch stellen, das praeputium anschaffen dürfen, um nicht dem Fiscus Judaïcus zu verfallen; die Antwort lautet: »Nein, wer beschnitten berufen, mache sich nicht wieder unbeschnitten; wer in der Vorhaut berufen, beschneide sich nicht«. Es ist der Rat eines milden Pauliners, der nicht sogleich aus der Haut fuhr, wenn er die Satzungen des Judentums befolgt sah. Seine Milde, die nichts von Paulus' Säure hatte, zeigt sich auch in seinem Rate in betreff des Genusses der Götzenopfer 10, 15-28. Auch die Anspielung auf die Gnosis beweist, daß diese Epistel nicht von Paulus ist.
3 Siehe Hilgenfeld, Das nachapostolische Christentum.
4 Matthaeus 5, 17 ff. Sabbat 116 b.
5 Galaterbrief 2, 10.
6 Offenbarung Johannis, 1, 11 ff.
7 Clementis homiliae, ed. Dressel. Anfang.
8 Eines der geistvollsten und zugleich treffendsten Aperçus der Tübinger Schule und namentlich ihres Begründers C. F. Bauer, daß Simon Magus, das Haupt der Häretiker, lediglich eine tendenziöse Fiktion und ein Typus für Paulus ist. Diese Auffassung bestätigt sich von allen Seiten. Die einzige Schwierigkeit, welche noch im Wege stand, daß nämlich Simon Magus sich durch Geld das Apostelamt oder den heiligen Geist habe erschleichen wollen, hat Volkmar äußerst glücklich gelöst, vergl. Bauer und Zeller, theolog. Jahrbücher 1857. S. 297 ff.
9 I. Korintherbrief 1, 12 ff., 3, 4 u. 22. Ich glaube, daß man alle Schwierigkeiten, welche gegen die erste Stelle aufgeworfen wurden, heben kann, wenn man statt ἐγώ δὲ Χριστοῠ läse Χρἠστου = Chrestus als Eigenname eines Sendboten oder Lehrer gleich Apollos, vergl. Sueton, Claudius, c. 35: Judaeos, impulsore Chresto.. tumultuantes Roma expulit. In dem Vers 3, 22 des Korintherbriefes, wo Gegensätze entgegengestellt werden: Sei es Paulus, sei es Apollos, sei es Kephas, εἴτε κόσμος, εἴτε ζωὴ, εἴτε ϑάνατος, steht κόσμος vereinzelt. Sollte man nicht dafür auch lesen εἴτε Χριστὸς oder richtiger Χρῆστος? So scheint mir der Parallelismus richtig gegliedert.
10 Ich kann mich mit der Annahme, die auch die koptische Schule adoptiert, daß die Apokalypse vor der Tempelzerstörung verfaßt worden sei, etwa während der Regierung des ephemeren Kaisers Vitellius um 68, nicht befreunden, wenn auch die Zahl der Oberhäupter oder Kaiser, 17, 9 fg. dafür zu sprechen scheint. Jene Annahme setzt die Zerstörung voraus, da ein neues Jerusalem vom Himmel herab fahren soll, und hat auch eine anhaltendere Christenverfolgung zum Hintergrunde, als die unter Nero war.
11 Römerbrief 13, Anf.
12 Das. 13, 6, 7.
13 Römerbrief, 5, 1, fg., 7, Anf. I. Thimotheus 3, 6.
14 Das., c. 10.
15 Das. 11, 5, 13 fg.
16 Siehe Note 10.
17 I. Korintherbrief 12, 8 fg. Origines, contra Celsum, I, 6.
18 Josephus, Altertümer VIII, 7.
19 Jerus. Aboda Sara II, 40 d und Parallelstellen.
20 Midrasch Kohelet edit. Frankf. 85 b.
21 Origines, contra Celsum V, 61.
22 Siehe Note 11.
23 Hebräerbrief 13, 11 ff.
24 Siehe Note 11.
25 Matthäusevangelium, c. 23. Das Markusevangelium hat diese lange Schmährede nicht, was eben zum Beweise dient, daß es ein Zusatz aus der nachapostolischen Zeit ist. Das angeführte Verzehnten bedeutet den Zehnten von Kräutern = קרי רשעמ, das lediglich als rabbinisch gilt. Bemerkenswert ist der Schluß: Man müsse das wohl tun, was eben einen judenchristlichen Verfasser verrät, der solches Verzehnten auch für wichtig hielt.
26 Βαρύτερα τοῠ νόμου = gleich רמוח ,ארמוח, im Gegensatz zu לק, das Wichtigere τὴν κρίσιν demselben Satze bedeutet ןיד, neuhebräisch das Recht.
27 Siehe Note 11.
28 Monographien und Abhandlungen über die Gnosis sind Legion. Hauptquellenschriften sind Irenäus in Haereses, dann die neuaufgefundenen und von Emanuel Müller 1851 herausgegebene Schrift: Ὠριγένους φιλοσοφούμενα, welche Bunsen dem Hippolytus zuschrieb, ferner Epiphanius' Haereses und Schriften anderer Kirchenväter.
29 Von שחנ, Schlange abgeleitet.
30 Hieronymus in Esaiam, 7, 6.
31 Ἀντιϑέσεις oder nach Bunsen (Hippolytus und seine Zeit I, S. 75) Ἀντιπαραϑέσεις. Die Gegensätze in der Bergpredigt des Matthäusevangeliums zwischen Gesetz und Evangelium 5, 22 fg. stammen ohne Zweifel aus dieser Quelle.
32 Brief an Timotheus I, 6, 20.
33 Clemens Alexandrinus, Stromata III, p. 526.
34 Epiphanius, Haereses, Nr. 27.
35 Clemens Alexandr, Stromata, p. 512, 514.
36 Clemens Alexandr. Stromata III, 436.
37 Offenbarung Johannis 2, 14 ff.
38 Midrasch Kohelet 85, 6.
39 Hieronymus ad Theodorum III, 6 und Adversus Vigilantium.
40 Fabricius bibliotheca graeca IV, p. 284 ff. und dessen Codex Apocryphus.
41 Clemens Alexandrinus, Stromata, III, 465.
42 Graetz, Gnostizismus im Judentum 16, f., 62 ff.
43 Sabbat, p. 116 a, jer. das. c. XVI, p. 15, 3.
44 Korintherbrief 7, 36 ff., 9, 5.
45 Origenes, contra Celsum VI. 24, I, 1. Vergl. Justin, ed. Otto Apologia, I, c. 26, II, c. 12 und andere Schriftsteller.
46 Tosifta Chulin, C. 2. Aboda Sara 17 a, 27 b. Justin., Dialog. cum Tryphone, c. 38. Chulin 13, a, b.
47 Siehe Note 11.
48 Justin das., 17.
49 Note 11.
50 Abot III, 19, s. Graetz, Gnostizismus und Judentum, S. 48 f., 91 ff.
51 Chagiga 11 ff. Hieronymus, epistola ad Paulinum 2. ad Eustachium 33.
52 Synhedrin 90 a.
53 I. Korintherbrief 7, 12 ff.
54 Das. 10, 27 ff.
55 Jebamot 47 a. Was der Vers Matthäus 23, 15 zu bedeuten hat, welcher Jesus in den Mund gelegt wird: »Wehe euch Schriftgelehrten, die ihr Meer und Land durchstreichet, um einen Proselyten (oder einen zum Proselyten zu machen)« ist noch dunkel.
56 Keritot 8 b, f.
57 Daselbst.
58 Vergl. o. S. 37.
59 Jebamot 16 a. Jerus. das. I, Ende. Hier findet sich die richtige Lesart Tádmor anstatt des korrumpierten Tármod in Babli.
60 Im Gebete: םיקידצה לע.
61 Tosifta Kidduschin, c. 5. [Der zweite Name, R. Juda beruht auf einem Mißverständnis].
62 Tacitus historiae V, 5.
63 S. weiter unten.
64 Juvenal, Satyra XIV, V. 96-100.
65 Massechet Gerim. In der von Kirchheim besorgten Ausgabe (Frankfurt a.M. bei Kaufmann 1851) steht Beruzia, in der ältern Ausgabe Belurit.
66 Rosch ha-Schanah 17 b.
67 Siehe Levy, im Jahrbuche der Literaturvereins II, S. 311.
68 Juvenal, Satyra VI, V. 541-546.
69 Siehe Note 12.
70 Siehe Note 13.
71 Origenes, epistola ad Africanum und comment. in Matthaeum Hieronymus prologus galeatus.
72 Eusebius, historia eccles. V, 28.
73 Siehe Note 13.
74 Megilla 9 b
75 S. Band III, S. 37.
76 Megilla 9 a. [Man stellte die Übersetzung nicht in jeder Beziehung dem Urtext gleich].
77 Origines, epistola ad Africanum 2.
78 Irenaeus, adversus Haereses, c. 24. Eusebius, Kirchengeschichte V, 8.
79 Daselbst.
80 [In neuerer Zeit sind einzelne Bruchstücke wieder aufgefunden und herausgegeben worden].
81 Note 13,
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