1. Kapitel. Untergang des Gaonats und erstes rabbinisches Zeitalter, Epoche des Ibn-Nagrela und Ibn-G'ebirols. (1027-1070.)

R. Haï Gaon, sein Charakter und seine Bildung; Samuel ben Chofni; Chiskija, der letzte Gaon. Die Afrikaner Gemeinde, R. Chananel und R. Nissim, ihre Leistungen und Schriften. Der Staatsmann, Dichter und Rabbiner Samuel Ibn-Nagrela. – Der Grammatiker Jona Ibn-G'anach und seine Bedeutung.


Die arabische Kultur, von Osten nach dem äußersten Westen, von Damaskus und Bagdad nach der pyrenäischen Halbinsel verpflanzt, hatte bereits die Mittagslinie überschritten. Mit dem Untergang des omejadischen Kalifats in Cordova und mit der Zersplitterung desselben in kleine Königreiche (Emirate) neigte sie sich dem Untergange zu. Die jüdische Kultur dagegen, gleicherweise vom Osten hierher versetzt, begann in demselben Lande erst ihre zunehmende Bewegung von der Dämmerung zur Mittagshöhe. Ihr Aufgang war hell und sonnig. Während das Karäertum folgerichtig einem Versteinerungsprozeß verfiel, entwickelte sich das auf den Talmud begründete rabbanitische Judentum immer mehr zum Selbstbewußtsein und zur Reife, sog neue Säfte ein und entfaltete neue Blüten. Das jüdische Andalusien konzentrierte in sich alle Seiten des religiös-wissenschaftlichen Lebens und wurde, nachdem das Gaonat vollständig erlosch, einigender Mittelpunkt des Judentums. Es trat in diesem halben Jahrhundert eine lange Reihe so bedeutender Persönlichkeiten auf, daß jede derselben für sich allein dem Zeitalter ihren Namen aufzudrücken vermocht hätte. Die Namen der Fürsten Samuel und Joseph, des Dichters Ibn-G'ebirol, und des tiefen Bibelforschers Ibn-G'anach haben einen Klang, der über den jüdischen Kreis hinaustönt. Babylonien erzeugte zwar in dieser Zeit zwei Männer von hoher Bedeutung: R. Haï und Samuel ben Chofni, aber sie verklärten nur das untergehende Gaonat mit farbigem Abendglanze. [1] Auch die Zahl der Männer zweiten Ranges, deren Leistungen nicht unbedeutend waren, ist in diesem Zeitabschnitte nicht klein. Das erste rabbinische Geschlecht, wie diese Zeitepoche genannt wird, hat klassische Bedeutung; es wirkte nach allen Seiten hin schöpferisch und originell und überstrahlte seine Vorgänger. Die hebräische Sprachwissenschaft wurde zur Vollendung gebracht, die neuhebräische Poesie erreichte ihre Meisterschaft, das Talmudstudium schuf sich eine Methodologie, welche das Vereinzelte und Unzusammenhängende unter Regeln brachte. Die Philosophie, bis dahin unter Juden und Arabern in niedriger Sphäre gehalten, erhob sich zu einer Gedankenhöhe, von der aus die Welt in einem anderen Lichte erschien. An dem Höhen- und Breitenmesser der Kultur nahmen die rabbanitischen Juden dieser Zeit den höchsten Grad ein, die Mohammedaner den zweiten und die christliche Bevölkerung erst den dritten oder sie stand vielmehr auf Nullgrad. Alles Erhabene, Edle und Befreiende, das im menschlichen Geiste liegt, wurde in dieser Zeitepoche von jüdischen Denkern ans Licht gefördert. Die Gedankenklarheit, welche selbst die Vertreter des Talmuds in den babylonischen Schulen offenbarten, sucht man vergebens bei ihren hervorragenden Zeitgenossen in der christlichen und islamitischen Welt.

R. Haï (oder Haja, geb. 969, gest. 1038), im achtzehnten Lebensjahre zum höchsten Rang nächst dem Gaon erhoben, als Dreißiger Nachfolger seines Vaters Scherira mit der Gaonwürde von Pumbadita bekleidet, dessen Name beim Amtsantritt in öffentlicher Vorlesung aus den Propheten genannt und der mit dem König Salomo verglichen wurde (B. V4 S. 368f.), verdiente den hohen Vorzug, den ihm die auswärtigen Gemeinden wie die babylonischen einräumten. Er war ein ebenso edler, strengsittlicher Charakter wie selbständiger Denker, in allen Fächern der Wissenschaft, wie sie damals gelehrt wurden, heimisch und nach vielen Seiten hin schriftstellerisch tätig. R. Haï erinnert an Saadia, den er als Ideal verehrte und gegen Angriffe in Schutz nahm, nur war er mehr Talmudist, Saadia dagegen mehr Religionsphilosoph. Gleich ihm verstand Haï das Arabische so meisterhaft, daß er viele rechtsgutachtliche Anfragen in dieser Sprache beantwortete und wissenschaftliche Gegenstände darin behandelte. In dieser Sprache schrieb er ein Verzeichnis der hebräischen Wurzeln (Chawi, Meassef), das von einem späteren Kenner (Ibn-Esra)1 sehr gerühmt wurde. In diesem Wörterbuche erklärte er manche dunkle Schriftverse, aber ein exegetisches Werk hat er wohl nicht verfaßt. Gleich dem Gaon aus Fajûm war Haï frei von jener engherzigen [2] Ausschließlichheit, welche die Wahrheit nur im eigenen Religionskreise finden will und außerhalb desselben nur Unwahrheit sieht. Er war mit dem geistlichen Oberhaupt der morgenländischen Christen von Bagdad befreundet, und als er in seinen exegetischen Vorträgen auf eine Schwierigkeit stieß, scheute er sich nicht, bei dem damaligen Katholikos (Mar-Elia I.) anzufragen, der ihm auch bereitwillig aus seiner syrischen Übersetzung Auskunft erteilte. Einer seiner Zuhörer, der aus Sizilien nach Pumbadita gekommen war, um an der Quelle talmudische Weisheit zu schöpfen, Mazliach Ibn-Al-Bazak, konnte sein Erstaunen über diesen freundlichen Verkehr zwischen dem Gaon und dem Katholikos und über die Autorität, welche jener diesem einräumte, nicht zurückhalten. Darauf bedeutete ihn R. Haï, nach der talmudischen Lehre sei der Jude verpflichtet, die Wahrheit von jedermann anzunehmen2. Zur Erklärung seltener und veralteter Wörter in der Bibel nahm R. Haï ohne Scheu den Koran und die alten Traditionen der Mohammedaner zu Hilfe, um ihre Bedeutung festzustellen3. Er war überhaupt ein vorurteilsloser Weiser, der das Licht und nicht die Finsternis liebte. Er disputierte öfter mit mohammedanischen Theologen über das Verhältnis des Judentums zum Islam und soll sie vermöge seiner Rednergabe zum Schweigen gebracht haben4. Seine starke Seite war indessen der Talmud und darin glich er seinem Vater Scherira, nur hat er darin mehr geleistet als sein Vorgänger. Er verfaßte einen ganz knappen worterklärenden Kommentar zu dem schwierigsten Teil der Mischna und des Talmuds. Das talmudische Zivilrecht über Verträge, Darlehn, Grenzbestimmungen, Eide behandelt R. Haï mit systematischem Geiste5, wie noch keiner vor ihm, und er wurde dadurch Muster und Autorität für Spätere.

Metaphysische Forschung war aber seine Sache nicht, obwohl er auch für die Gotteseinheit geschrieben hat6. Aber obwohl R. Haï nicht Philosoph von Fach war, hatte er doch gesunde Ansichten über den Wert des mystischen Wahnglaubens, dessen verdüsternder Nebelschleier, mit [3] dem Nimbus der Religion gefärbt, den Schwachköpfigen als eine Sonne erschien, ihm aber als ein Irrlicht galt.

Der Wunderglaube, der unter allen Zonen, in allen Religionsformen und zu allen Zeiten die gedankenlose Menge befangen macht und ihr den freien Blick in die Weltordnung und in die göttliche Weisheit raubt, hatte unter den Juden, von mannigfachen Elementen genährt, einen breiten Platz gefunden, ebenso wie in der christlichen und islamitischen Welt. Er war besonders heimisch in Palästina und Italien und machte auch in anderen Ländern Propaganda. Die Wahnbefangenen glaubten, der wahrhaft Fromme könne zu jeder Zeit Wunder tun, ebenso bedeutende und überraschende, wie ehemals die Propheten. Sie müßten sich aber dazu magischer Formeln, namentlich der Buchstabenversetzung des heiligen Namens bedienen. Schriebe man den Gottesnamen auf gewisse Blätter oder Scherben, so könne man damit Räuber bändigen, sich unsichtbar machen, große Räume im Nu durchlaufen, das stürmische Meer besänftigen, einem Menschen augenblicklich den Tod geben und noch andere Wunder verrichten. Ältere mystische Schriften, welche Mittel für Wundertätigkeit angaben und als Spiel einer ausschweifenden Phantasie verfaßt wurden, galten den Späteren als unfehlbare Weisheit. R. Haïs wahre Religiosität sah dagegen in solchem Wahnglauben eine Schändung und Entweihung der Religion und sprach sich mit Entrüstung darüber aus, obwohl sein Vater, für ihn eine Autorität, nicht frei davon war. Ein Jünger des Jakob ben Nissim aus Kairuan hatte bei R. Haï einst angefragt, was von der magischen Wunderkraft der Gottesnamen, deren sich manche rühmten, zu halten sei, und er antwortete darauf bündig und einsichtsvoll, all das sei Wahn und Aberwitz. Aber die Kairuaner fühlten sich von dieser Antwort nicht befriedigt, zumal sie von palästinensischen und römischen Weisen gehört hatten, daß diese selbst Wundertaten vermittelst der mystischen Formeln des Gottesnamens erlebt hätten. Sie baten daher R. Haï wiederholt, ihnen gründlichen Bescheid darüber und über manches andere zu geben, wie über die Bedeutung von Träumen und Zaubereien. Sie wünschten besonders, daß er ihren Zweifel löse, da sie auch im Talmud die Wunder-Wirksamkeit von aufgeschriebenen Gottesnamen bestätigt fänden.

Auf diese zwei Anfragen schrieb R. Haï eine ausführliche, kernige, einschneidende Antwort, die wegen ihrer vernünftig nüchternen Haltung um so mehr inhaltlich bekannt zu werden verdient, als Spätere R. Haï zum Parteigänger der Mystik gemacht haben. »Wenn es jedermann möglich wäre, durch Formeln (Nusschim) Wunder zu tun und die Naturordnung aufzuheben, wodurch wären dann die Propheten bevorzugt [4] gewesen?« – so lautete seine Antwort. Einige Autoritäten haben sogar behauptet, daß nicht einmal fromme Männer, wie die Talmudisten, Wunder zu tun vermocht hätten. Denn die Macht, in den Naturgesetzen zeitweise eine Störung hervorzubringen, habe die Gottheit nur den Propheten eingeräumt, damit sie sich dadurch als wahre Gottgesandte bewähren könnten. Wenn nun jeder Fromme dasselbe zu tun vermöchte, und wenn ihrer gar sehr viele wären, so würden sie das Wunderbare zu einer ganz gewöhnlichen Erscheinung machen, es zu einer Alltäglichkeit herabdrücken, und die Bewegung der Sonne von West nach Ost würde nicht mehr Eindruck machen als die umgekehrte oder gewöhnliche Bewegung, kurz das Wunder höre dann auf, Wunder zu sein. Es sei sogar sündhaft, bemerkt R. Haï, sich des Gottesnamens zum Zwecke der Wundertuerei zu bedienen. Er machte sich ferner in diesem Sendschreiben lustig über das vorgebliche Sichunsichtbarmachen vermittelst des Gottesnamens; das sei ebenso unmöglich wie lächerlich. Die Erzählungen, auf welche sich die Fragesteller beriefen, daß der Gaon R. Natronaï, den Raum überspringend, von Babylonien nach Frankreich gewissermaßen geflogen sei, erklärte er für erfunden und von einem Betrüger ausgesprengt. In seiner Gegend selbst wisse man davon nichts. Man erzähle sich zwar, daß der Gaon R. Mose sich mit Amuletten und Beschwörungen abgegeben; aber einiges davon halte er für erlogen und anderes sei auf Rechnung des Umstandes zu setzen, daß dieser R. Mose in Sura gelebt habe, wo wegen der Nähe des alten Babylon dergleichen Aberglauben sich aus dem Altertume fortgepflanzt haben möge; Pumbadita dagegen, das entfernt von jenem Ursitze des Wahnglaubens sei, sei ganz frei von solchen Vorstellungen. R. Haï warnte endlich die Kairuaner, solchem Wahngebilde Raum zu geben; es sei in diesen Dingen viel Zweifel und wenig Wahrheit, und »ein Tor ist, der alles gläubig annimmt«7.

In demselben Sinne sprach er sich auch über einen anderen Aberglauben aus. Es wurde bei ihm angefragt, warum man im Anfange der astronomischen Jahreszeiten sich scheue, Wasser zu trinken. Die Personen, welche diese Frage an ihn richteten, erwarteten vielleicht eine mystische Auskunft. Er aber erwiderte, es sei ein lächerlicher Brauch, um den Beginn der Jahreszeiten nicht mit Wassergenuß, sondern mit etwas Schmackhaftem einzuleiten, »ich aber sage, süß ist das Jahr des Arbeiters, sei es viel oder wenig, er genießt es«8. – Anstößige Talmudstellen deutete R. Haï nur, um ihnen einen zusagenderen Sinn zu geben. Er [5] wurde einst gefragt, wie es mit dem talmudischen Ausspruche zu halten sei, daß ein des Gesetzes Unkundiger (Am-ha-Arez) kein Fleisch genießen dürfe, daß sein Vermögen herrenlos und er selbst als vogel frei zu betrachten sei. Manche hielten sich ernstlich an diesen Ausspruch und machten sich kein Gewissen daraus, sich das Vermögen solcher Ungebildeten widerrechtlich anzueignen. R. Haï erwiderte darauf sehr scharf und entschieden, daß diejenigen, welche den Talmud in diesem Sinne auffaßten, selbst als vogelfrei erklärt zu werden verdienten9. – In seiner freieren Auffassung des Judentums gestattete er den Umgang mit Karäern10 und erlaubte sogar, daß sie ihre Kinder am Sabbat beschneiden.

R. Haï hatte sich auch in der Dichtkunst versucht, aber die Überbleibsel seiner Muse zeugen nicht von bedeutender poetischer Begabung. Er hat zwar den jüdisch-spanischen Dichtern die Anwendung des Versmaßes entlehnt und es für ein liturgisches Stück benutzt; aber der regelrechte Versbau verdeckt nicht die poetischen Blößen. Indessen wenngleich die poetischen Erzeugnisse R. Haïs von seiten der Form verfehlt erscheinen, so sind sie inhaltlich um so bedeutender. Sein hundertneunundachtzig Verse enthaltendes Sinngedicht (Mussar haskel) ist eine Perlenschnur von kernigen Sittenregeln, die er aus der Schrift, dem Talmud und dem eigenen Herzen geschöpft und epigrammatisch zugespitzt hat. Es erinnert an die Salomonischen Sprüche und an das phokylideische Mahngedicht (B. III5, 2. Hälfte, S. 377). Dieser gediegen sittliche Inhalt des Gedichtes ist würdig befunden worden, ins Lateinische übersetzt zu werden11.

Durch R. Haïs Verdienste hatte sich die pumbaditanische Hochschule wieder ein wenig gehoben. Er wurde von vielen Seiten als Autorität anerkannt. Die großen Lehrer R. Nissim und R. Chananel aus Kairuan, R. Abraham Kabasi (aus Kabes in Nordafrika), die Gemeinde von Fez, der Wesir R. Samuel Nagid, R. Gerschom aus Mainz und noch andere Autoritäten und Gemeinden dreier Weltteile wendeten sich an ihn mit Anfragen und huldigten ihm, als dem Hauptvertreter des Judentums. Man nannte ihn »den Vater Israels«. Da das Exilarchat seit dem Tode [6] des Enkels von David ben Sakkaï erloschen war (V4 Seite 314), so bildete R. Haï die Spitze des Judentums, und es konnte durch keinen Besseren vertreten werden. Ungleich den früheren pumbaditanischen Gaonen, die mit schelen Augen auf das Bestehen der Schwesterakademie blickten, ungleich seinem Vater, der eine Art Schadenfreude darüber empfand, daß Sura ohne Oberhaupt war, trug R. Haï, wie es scheint, selbst dazu bei, ihr einen gaonischen Vertreter zu geben. In Sura fungierte nämlich während dessen Gaonat R. Samuel ben Chofni,12 R. Haïs Schwiegervater und ihm ebenbürtig an Kenntnissen und Tugenden. Er verfaßte mehrere Werke über Ritualien in systematischer Ordnung, kommentierte den Pentateuch und philosophierte gleich den Mutaziliten über die Einheit Gottes. Sein pentateuchischer Kommentar wird zwar nicht sehr gerühmt; er war nach Art der karäischen Erläuterungen weitläufig angelegt und enthielt Untersuchungen über Gegenstände, die gar nicht zur Sache gehören. Aber mag auch seine exegetische Leistung keinen Fortschritt bezeichnen, so ist doch die Tatsache nicht gering anzuschlagen, daß die Gaonen die von Saadia vorgezeichnete Bahn, das Judentum in wissenschaftliche Form zu bringen, verfolgten. Samuel ben Chofni blieb der vernunftgemäßen Richtung treu, das scheinbar Übernatürliche in der biblischen Erzählung in den Kreis des Natürlichen zu ziehen, sogar im Widerspruche mit der talmudischen Auffassung. Die Erscheinung des Propheten Samuel, durch die Zauberin von Endor heraufbeschworen, und die Erzählung von Bileams Eselin erklärte er als eine Traumerscheinung13. Auch gegen das Karäertum richtete er Angriffe, wie Saadia es getan, wie denn überhaupt in der letzten Stunde des Gaonats noch ein heftiger Federkrieg zwischen Rabbaniten und Karäern ausbrach. Der Inhalt seiner Polemik ist nicht bekannt. Gegen Samuel schleuderte ein zeitgenössischer Karäer Israel ben Daniel Iskandri (Dajan) hebräische Epigramme, welche aber ohne poetischen Reiz und überhaupt ohne Wert sind14. – Von Samuel ben Chofnis Wirksamkeit ist sonst nichts bekannt; er starb vier Jahre vor seinem Schwiegersohne R. Haï (1034)15 und schloß die Reihe der suranischen Gaonen.

Die Hochschule scheint nach seinem Tod nicht einmal den Versuch gemacht zu haben, sich fortzusetzen. Die Zeiten waren dem Gaonate [7] nach allen Seiten hin ungünstig, und es vermochte sich mit aller Kraftanstrengung nicht zu behaupten. Als R. Haï starb (20. Nissan = 28. März 1038)16, von der Gesamtjudenheit betrauert und von dem größten Dichter der Zeit Ibn-G'ebirol sowie von seinem afrikanischen Verehrer R. Chananel in Versen verherrlicht17, hatte auch die letzte Stunde der pumbaditanischen Hochschule geschlagen. Zwar wählte das Kollegium sofort einen Nachfolger in einem Manne, welcher beide Würden, das Gaonat und Exilarchat, in sich vereinigte, aber gewissermaßen nur damit beide in einer Person zu Grabe getragen werden sollten. Chiskija18, Urenkel jenes streitsüchtigen Exilarchen David ben Sakkaï, wurde zum Schulhaupte ernannt. Aber der Glanz, den man sich von ihm versprochen haben mochte, konnte sich nicht zeigen. Chiskija hatte boshafte Feinde, die ihm seine Rangerhöhung mißgönnten. Sie verleumdeten ihn bei Hofe, man weiß nicht aus welchem Grunde oder unter welchem Vorwande. Der Inhaber der politischen Gewalt im morgenländischen Kalifate war damals der Bujide G'elal Addaulah, der dem Schattenkalifen den Titel »König der Könige« und die Einnahmen von Christen und Juden abgetrotzt hatte. Dieser Großsultan mochte die gerechte oder ungerechte Anklage gegen Chiskija benutzt haben, um sich zu bereichern. Der letzte Exilsfürst wurde in den Kerker geworfen, gefoltert, wahrscheinlich um seine Schätze anzugeben, aller Güter beraubt und zuletzt hingerichtet (1040)19. Das Gaonat starb unter der Folterqual von seiten des ohnmächtigen Kalifats. Babylonien hatte seine Rolle in der jüdischen Geschichte hiermit ausgespielt und sank eine Zeitlang zur völligen Bedeutungslosigkeit herab. Chiskijas zwei Söhne, auf die ebenfalls gefahndet wurde, entflohen, irrten lange umher und fanden erst Rast in Spanien, wo sie als die letzten Sprößlinge des Davidschen Hauses geehrt wurden und sich unter dem Namen Ibn-Daudi der friedlichen Beschäftigung mit den Musen hingaben20.

Auch Nordafrika, das unter Isaak Israeli, Dunasch ben Tamim und dem eingewanderten R. Chuschiel eine kurze Blütezeit feierte, hatte in der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts seine letzten Autoritäten und fiel dann ebenfalls der Vergessenheit anheim. Diese zwei Autoritäten waren, wie schon erwähnt, R. Chananel ben Chuschiel und R. [8] Nissim ben Jakob Ibn-Schahin (blühten um 1015 bis 1055)21. Obwohl diese zwei Rabbinen an einem Orte lebten und so oft zusammen genannt wurden, daß sie wie ein unzertrennliches Zwillingspaar auftreten, scheinen sie doch keineswegs miteinander befreundet gewesen zu sein. Es scheint vielmehr zwischen beiden dieselbe Eifersüchtelei geherrscht zu haben, wie zwischen R. Chanoch und Ibn-Abitur, indem R. Nissim ein Eingeborener und R. Chananel der Sohn eines Eingewanderten war. Man weiß auch nicht einmal recht, welcher von beiden offizieller Rabbiner von Kairuan war. Beide standen aber dem Lehrhause vor. R. Chananel betrieb dabei ein großartiges Geschäft, R. Nissim dagegen war so arm, daß er von dem zeitgenössischen jüdischen Minister in Granada unterstützt werden mußte22. In beiden zeigt sich indes eine auffallende Ideengleichheit, so daß beide fast denselben Gedankengang hatten, dieselben Studien pflegten und Werke fast desselben Inhalts und in derselben Form schrieben, nur daß R. Chananel sich der hebräischen, R. Nissim aber der arabischen Sprache bediente. Beide brachten ein neues Element zum Talmudstudium hinzu und machten es daher gründlicher, als es selbst die Gaonen zu betreiben vermocht hatten. – Der jerusalemische Talmud, obwohl an der Quelle der Überlieferung geboren und älter als der babylonische, litt an der Ungunst des Geschickes, dem Bücher wie Menschen ausgesetzt sind. Während der babylonische Talmud im Osten bis nach Chorasan und Indien und im Westen bis an das Ende der alten Welt bekannt war, blieb sein Zwillingsbruder außerhalb seiner Geburtsstätte lange unbekannt. Während der erstere zahlreiche Ausleger und Erklärer fand, die ihn bis in die innersten Falten untersuchten, wird von dem jerusalemischen nur ein einziger Kommentator aus älterer Zeit namhaft gemacht, der noch dazu unbekannt ist23. Erst infolge der Eroberung Palästinas durch die fatimidischen Kalifen trat Nordafrika in Verbindung mit dem heiligen Lande, und palästinensische Weise kamen nach Kairuan24. Diese brachten wohl den jerusalemischen Talmud dahin. Die zwei Rabbinen Kairuans beschäftigten sich nun zuerst eingehend mit ihm und zogen ihn in den Kreis des Talmudstudiums25. R. Nissim verfaßte einen Schlüssel zum Talmud (Maftéach)26, [9] worin er kurze und dunkle Stellen im babylonischen Talmud teils aus dem jerusalemischen und teils aus Parallelstellen ergänzte und erläuterte. Nach den im »Schlüssel« aufgestellten Grundsätzen stellte er auch Entscheidungen für das Ritual-und Zivilrecht zusammen in einem anderen Werke (Megillat Setarim). Ganz ähnliche Werke verfaßte auch R. Chananel: eine Wort- und Sacherklärung zum Talmud (Perusch) mit Rücksichtnahme auf den jerusalemischen und praktische Entscheidungen (Mikzoot, verf. 1038).

Beide verfaßten auch Kommentarien zum Pentateuch, R. Chananel auch zu den übrigen heiligen Schriften. Beide huldigten jener von Saadia angebahnten Richtung der vernunftgemäßen Auffassung, vermöge welcher sie allzuderbe Wunder und anstößige agadische Aussprüche umdeuteten27. Diese zwei Autoritäten standen mit Babylonien und Spanien in lebhafter Verbindung, bildeten die Mittelglieder zwischen beiden und erlebten das völlige Erlöschen des Gaonats und den aufgehenden Glanz der andalusischen Gemeinden. R. Chananel starb ohne männliche Nachkommen und hinterließ sein reiches Vermögen neun Töchtern. Auch R. Nissim hatte keinen Sohn, der sein Amt hätte fortsetzen können, aber mehrere Jünger, sogar aus Spanien28, die zu seinen Füßen saßen. Nach dem Tode dieser beiden afrikanischen Autoritäten war die kairuanische Schule ganz bedeutungslos29. Einer ihrer Jünger aus der neuerbauten zanatischen Hauptstadt Kalah Ibn-Hammad30 wurde später eine talmudische Größe, verdankte aber seinen Ruhm lediglich seiner Übersiedelung nach Spanien.

Das jüdische Spanien übernahm also die ganze Erbschaft von Judaä, Babylonien und Nordafrika und mehrte das ererbte Gut für die kommenden Geschlechter vielfältig. Als wenn Andalusien ein jüdischer Staat [10] wäre, suchten die flüchtigen Söhne des jüdisch-chazarischen Fürsten und die Söhne des letzten Exilarchensprößlings dort Zuflucht und Ruhe. An der Spitze der spanischen Gemeinden stand ein Mann, der durch Weisheit, Tugend und Stellung den Vorrang verdiente, Samuel Ibn-Nagrela (oder Nagdela), der erste in der Reihe der nachgaonäischen Lehrautoritäten. Er hat das Rabbinentum zu einem idealen Glanze gebracht; einen würdigeren Vertreter konnte es nicht finden. Samuel Ibn-Nagrela vereinigte in seiner Person allein die verschiedenen Eigenschaften des Triumvirats, welches den Ruhm des jüdischen Spanien begründet hat. Er war zugleich Chasdaï, der hochherzige, wissensfördernde Fürst, Mose ben Chanoch, der tiefe Talmudkundige, und Dunasch ben Labrat, der Dichter und Grammatiker.

Der Lebensgang des Samuel (Ismael) Halevi Ibn-Nagrela war eigentümlich. Geboren in Cordova (993)31, wohin sein Vater Joseph aus Merida übersiedelt war, wurde er im Lehrhause des R. Chanoch mit dem reichen und schwierigen Stoff des Talmuds vertraut. In die Feinheiten der hebräischen Sprache weihte ihn Jehuda Chajuǵ, der Begründer der hebräischen Sprachkunde, ein. Für andere Wissensfächer und namentlich für das Arabische, das er sich mit großer Meisterschaft aneignete, bot ihm die andalusische Hauptstadt, welche damals auf dem Höhepunkt der Kultur stand, Gelegenheit genug. Als zwanzigjähriger Jüngling mußte Samuel mit vielen anderen wegen des erbitterten Bürgerkrieges Cordova verlassen. Der berberische Häuptling Sulaimann, der im Kampfe mit den Arabern und der sklavonischen Leibwache der Kalifen Sieger über dieselben geblieben war, zerstörte mit afrikanischer Wut die Prachtgebäude der Hauptstadt, ließ Frauen und Töchter schänden und brachte die reichsten Familien an den Bettelstab (April 1013). Die angesehenen jüdischen Familien wanderten wegen solcher Drangsale nach Granada, Toledo und sogar nach dem entfernten Saragossa aus. Samuel Ibn-Nagrela ließ sich in der Hafenstadt Malaga nieder, man weiß nicht, ob mit oder ohne seine Eltern. Er lebte von einem kleinen Kram und betrieb dabei Talmud- und Sprachstudien. Er verstand außer dem Hebräischen, Arabischen und Chaldäischen noch vier Sprachen, wohl Lateinisch, Kastilianisch und Berberisch. Ungleich den übrigen Juden, welche das Arabische meistens mit hebräischen Schriftzügen schrieben, war Ibn-Nagrela in der arabischen Schönschrift [11] Meister32, worauf die Araber damals einen besonderen Wert legten. Seiner Sprachkenntnis und Kalligraphie verdankte er eine so hohe Stellung, wie sie kein Jude bis dahin seit dem Untergange des jüdischen Staates inne hatte.

Bürgerkriege und der Ehrgeiz der Statthalter (Emire) hatten den von den omejadischen Kalifen geschaffenen Organismus des andalusisch-mohammedanischen Reiches in kleine Gebietsteile zerstückelt. Es entstand in Andalusien nach dem Untergange der letzten Omejaden eine Kleinstaaterei ähnlich wie ehemals in Deutschland und Italien; die arabischen Geschichtsschreiber nennen daher die Regenten dieser Zeit »die Könige der Zerrissenheit«. Ein Stamm der Berber33, die Sinhaǵah, gründeten unter einem Häuptling Maksen aus der Familie der Ziriden im südlichen Spanien ein eigenes Königreich (1020). Das von Juden reich bevölkerte Granada wurde Hauptstadt dieses Königsreichs und Malaga gehörte ebenfalls dazu. In Malaga hatte der Wesir des zweiten granadischen Königs Habus, mit Namen Abulkasim Ibn-Alarif, einen Palast neben Samuels Kramladen. Diese Nachbarschaft brachte dem kümmerlich lebenden jungen Gelehrten Glück, enthob ihn den beengenden Nahrungssorgen und stellte ihn auf eine Höhe, die seiner Bedeutung entsprach. Eine vertraute Sklavin des Wesirs, welche ihrem Herrn Bericht zu erstatten hatte, ließ sich nämlich regelmäßig die Briefe von ihrem Nachbar, dem jüdischen Krämer, schreiben. Die Briefe verrieten aber so viel sprachliche und kalligraphische Gewandtheit, daß der Wesir Ibn-Alarif begierig war, den Schreiber kennen zu lernen. Als er seinen Namen erfuhr, ließ er Samuel zu sich rufen und bewog ihn, in seinen Dienst als Geheimschreiber zu treten (um 1025). Bald gewahrte Habus' Wesir, daß Ibn-Nagrela eben so tiefe politische Einsicht besaß wie geschmackvollen arabischen Stil und zog ihn bei wichtigen Staatsangelegenheiten zu Rate. Da nun Samuels Ratschläge sich durch glückliche Erfolge als treffend bewährten, so unternahm der arabische Staatsminister nichts ohne dessen Zustimmung. Samuel sollte bald noch höher steigen.

Ibn-Alarif war erkrankt und der König Habus war in Verzweiflung, was er ohne ihn in den verwickelten Verhältnissen, in denen er zu den [12] Nachbarstaaten stand, anfangen sollte. Der sterbende Wesir verwies ihn aber auf seinen jüdischen Geheimschreiber, gestand ihm, daß er seine gelungenen Operationen lediglich dessen weisen Eingebungen verdankte, und empfahl ihn Habus dringend zu seinem Ratgeber. Der granadische König, der als Berber weniger Vorurteile gegen Juden hatte als die arabischen Muselmänner, nahm keinen Anstand, Samuel Ibn-Nagrela mit der höchsten Würde als seinen Staatsminister (Katib)34 zu bekleiden und ihm die Leitung der diplomatischen und militärischen Angelegenheiten anzuvertrauen (1027). Der Krämer von Malaga wohnte seitdem im königlichen Palaste und der Talmudjünger R. Chanochs hatte eine gewichtige Stimme in der Politik der pyrenäischen Halbinsel. Denn ein mohammedanischer König, der sich einen Wesir wählte, herrschte wohl und hatte despotische Launen, aber regierte nicht. Das war Sache seines Hauptministers, der ihm dafür mit seinem Kopfe verantwortlich war. Samuel hatte also sein Glück zunächst seiner Feder zu verdanken und er feierte sie auch durch ein Sinngedicht35. Habus hatte seine Wahl nicht zu bereuen. Sein Königreich gedieh unter der Hand des einsichtsvollen und tätigen jüdischen Staatsmannes. Die Launen des berberischen Königs wußte Samuel zu beschäftigen und ihn für sich einzunehmen Er verfaßte auf ihn ein Lobgedicht in sieben Sprachen36, und nichts war einem mohammedanischen Herrscher schmeichelhafter, als sich in kunstreichen Versen verherrlicht zu sehen. Bei der moslemischen Bevölkerung machte er sich durch sein bescheidenes Auftreten beliebt. Mit Geduld ertrug er Widerwärtigkeiten. Er verband mit einem hellen überlegenen Geiste, mit sanften einnehmenden Manieren einen festen Charakter. Gewandt, klug, immer Herr seiner selbst, war Ibn-Nagrela stets von ausgesuchtester Höflichkeit, verstand die Umstände zu benutzen und besaß die Gabe, seine Gegner zu entwaffnen. Ungeachtet seines lebhaften Geistes sprach er wenig, dachte dafür aber viel37. Ibn-Nagrela entwarf selbst mit Meisterhand das Bild eines würdigen Herrschers, das sein Leitstern gewesen zu sein scheint. »Wessen Rat lauter ist gleich dem Sonnenlicht, wer rein ist von der Lüfte Flecken, wessen Augen sich nicht dem Schlafe schließen, wessen Gedanke fest wie Türme, wen die Würde [13] gleich Waffenglanz umstrahlt, wer den Willen anderer sich untertan zu machen weiß und sich fern hält von dem, was Schande bringt, der ist der Herrschaft würdig«38. Seine Weisheit und Frömmigkeit bewahrten ihn vor jenem Hochmut, der Emporkömmlingen so eigen ist und sie verhaßt macht. Daher konnte sich Samuel fast drei Jahrzehnte in seiner hohen Stellung als Regent des Königreichs Granada behaupten.

Seine Sanftmut, mit der er seine Gegner zu entwaffnen wußte, vergegenwärtigt eine Anekdote. In der Nähe von Habus' Palaste hatte ein muselmännischer Gewürzkrämer einen Laden, und so oft dieser den jüdischen Minister in Begleitung des Königs sah, überhäufte er ihn mit Schimpfwörtern und Flüchen. Habus, darob erzürnt, befahl einst Samuel, den lästigen Fanatiker zu züchtigen und zwar ihm die Zunge ausschneiden zu lassen. Der jüdische Wesir kannte aber ein anderes Mittel, den Fluchenden stumm zu machen. Er gab ihm Geld und dieses verwandelte sein Fluchen in Segen für ihn. Als Habus einst den Gewürzkrämer wieder bemerkte, war er darüber erstaunt und stellte Samuel zur Rede. Dieser antwortete: »Ich habe ihm die böse Zunge ausgerissen und ihm dafür eine gute gegeben«39. Übrigens war dieser Gewürzkrämer nicht sein einziger Feind, er hatte deren manche und sehr gefährliche. Fanatische Mohammedaner sahen in der Erhebung eines »Ungläubigen« zu einem so hohen Range, der ihm die vollziehende Regierungsgewalt in die Hände gab, eine Verhöhnung ihrer Religion. Es erregte ihren Unwillen, daß die zahlreiche jüdische Bevölkerung des Königreichs Granada das Haupt erhob und sich den Moslemin ebenbürtig fühlte.

Das Glück war aber auch diesem jüdischen Wesir günstig, obwohl er nahe daran war, seine Stellung und vielleicht auch sein Leben zu verlieren. Als der König Habus gestorben war (1037), entstanden in Granada zwei Parteien, die sich um zwei Prinzen scharten. Die meisten berberischen Großen und auch einige einflußreiche Juden, Joseph-Ibn-Migasch, Isaak ben Leon und Nehemia Eskafa waren für den jüngern Sohn Balkin (oder Bologgin)40. Eine kleinere [14] Partei und darunter auch Samuel wünschten den älteren Sohn, namens Badis, zum Nachfolger. Schon war die zahlreichere Partei bereit, Balkin zu huldigen, als dieser selbst zugunsten seines älteren Bruders abdankte. Badis wurde König (Oktober 1037), und Samuel behielt nicht nur seine bisherige Stellung, sondern war der Tat nach König von Granada, da sich der den Lüsten ergebene Badis noch weniger als sein Vater um Regierungsgeschäfte kümmerte. Später bereute Balkin seine Großmut gegen seinen Bruder und legte dessen Regierung Hindernisse in den Weg. Badis gab infolgedessen Balkins Leibarzt einen Wink, ihm während einer Krankheit keine Arzneimittel zu reichen, was seinen Tod herbeiführte. Nach dessen Tode blieben Badis' Regierung und Ibn-Nagrelas Stellung unangefochten. Balkins Anhänger mußten Granada verlassen, darunter auch die drei eben genannten Juden. Sie wanderten nach Sevilla aus und wurden freundlich von dem dortigen Könige, dem Abbadiden Mohammed Alǵafer aufgenommen, der ein Gegner des Königs von Granada war. Einer der drei Flüchtlinge, Joseph Ibn-Migasch I., von dem König von Sevilla zu einem hohen Posten erhoben41, wurde der Ahn eines bedeutenden Mannes. Das Glück oder Gottes Beistand wendete von Ibn-Nagrela eine höchst drohende Gefahr ab, die über seinem Haupte und den Gemeinden des Fürstentums Granada schwebte. Um sich gegen die feindliche arabische Bevölkerung und deren Häupter in Sevilla und Cordova zu halten, mußte sich der berberische Fürst mit dem sklavonischen Fürsten Zohair verbünden, welcher sich des Gebietes von Almeria am Meer bemächtigt hatte. Dieses Bündnis sollte nach Habus' Tod mit seinem Nachfolger Badis erneuert werden. Zohairs Minister Ibn-Abbas, ein hochmütiger und fanatischer Mohammedaner, suchte es aber zu vereiteln, so lange der jüdische Minister Samuel Badis' Ratgeber bliebe. Ibn-Abbas und sein Gesinnungsgenosse Ibn-Bekanna, Statthalter von Malaga, arbeiteten gemeinschaftlich auf Samuels Sturz hin, zuerst mit Verleumdung bei Badis und, als diese fehlschlug, mit Herausforderung. Zohair traf plötzlich mit seinem Minister und zahlreichem Gefolge in Granada ein, stellte freche, harte Bedingungen für die Erneuerung des Bündnisses und verlangte in erster Linie Samuels Entfernung vom Amte. Wäre Badis darauf eingegangen, so wäre es um Samuels Leben geschehen gewesen, und auch seine Stammesgenossen wären in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber gerade die übermütige Frechheit, mit der Ibn-Abbas diese Forderung ertrotzen wollte, erbitterte den Fürsten und die [15] berberische Kriegspartei gegen ihn und seinen Herrn. Als diese mit ihrem Gefolge von Granada abgezogen, lauerten ihnen berberische Scharen an den Engpässen auf und brachen die Brücke bei Alpuente ab, welche nach Almeria führte. Diese Kriegslist gelang. Zohairs Truppen wurden zum Teil aufgerieben, zum Teil in die Flucht gejagt, zum Teil gingen sie zum Feinde über. Ibn-Abbas wurde gefangen, in den Kerker geworfen und nach mehrwöchentlicher Kerkerhaft erstochen, gerade an dem letzten Tage des Hüttenfestes, an dem Freudentage. Samuel Ibn-Nagrela mit der jüdischen Gemeinde zu Granada jubelte und dankte Gott für diese unerwartete Rettung. Er dichtete ein schwungvolles Danklied auf dieses Ereignis und wollte den Tag der Errettung zum ewigen Andenken gefeiert wissen gleich der Purimfeier. Er stieg nach diesem Vorfall noch mehr in Gunst bei Badis. Zur selben Zeit hatte Samuel einen bedeutsamen Traum in Versen:


»Untergegangen ist Ibn-Abbas,

Und mit ihm seine Freunde und Genossen.

Auch der andere Fürst wird bald vergehen«42.


In der Tat erlitt Ibn-Bekanna später einen schmählichen Tod43.

Ibn-Nagrela hatte indes auch warme Anhänger unter den Arabern. Ein Dichter Montafil pries ihn mit überschwenglichen Versen:


»Statt Gott in Mekka zu suchen

Und dort den schwarzen Stein zu küssen,

Würden die Menschen, wüßten sie Wahrheit von Wahn zu scheiden –

Dir, o Ismael, die Hände küssen,

Die den Segen spenden.

Ich bekenne mich in deinem Hause

Offen zum Gotte, der den Sabbat eingesetzt;

Unter meinem Volke bekenne ich ihn heimlich44


Interessant ist es von einem zeitgenössischen Geschichtsschreiber zu erfahren, wie der jüdische Minister an die mohammedanische Bevölkerung Regierungserlasse formulierte. Samuel, oder wie ihn die Araber nannten, Ismael Ibn-Nagrela gebrauchte ohne Skrupel in den Zirkularen die den moslemitischen Regenten eigenen Formeln. Er eröffnete die Erlasse mit den Worten: Chamdu-l-Illahi (Gott Lob), fügte, wenn er Mohammeds Namen zu nennen hatte, den Beisatz hinzu: »Gott möge über ihn beten und ihn segnen«. Er mahnte diejenigen, an welche die Regierungsschreiben gerichtet waren, ferner nach der Vorschrift des Islam [16] zu leben; kurz seine Erlasse waren ganz und gar in mohammedanischem Stile gehalten45.

Ohne Zweifel haben Habus und später Badis dem jüdischen Wesir auch eine gewisse Macht über die jüdischen Gemeinden des granadischen Königreichs eingeräumt, wie sie vor ihm Chasdaï und Ibn-G'au in Cordova besaßen. Samuel war nämlich Oberhaupt und »Fürst« (Nagid) der Juden; diesen Titel führt er bei jüdischen Schriftstellern. Der Staatsminister war zugleich Rabbiner, stand einem Lehrhause vor, hielt Vorträge vor Jüngern über den Talmud46, erließ gutachtliche Bescheide47 auf religiöse Anfragen, kurz er fungierte vollständig wie ein Rabbiner jener Zeit. Mit derselben Feder, mit der er Regierungserlasse ausfertigte, schrieb er auch Gutachten und Abhandlungen über den Talmud. Samuel Nagid stellte zuerst eine Methodologie des Talmuds (Mebo-ha-Talmud)48 auf, worin er die technischen Ausdrücke klar und faßlich erläuterte. Als Eingang dazu fügte er die Traditionskette zusammen, die Reihenfolge der mit Autorität bekleideten Träger des Judentums von den Männern der großen Versammlung durch die Tannaiten, Amoräer, Saburäer und Gaonen hindurch bis auf R. Mose und R. Chanoch, seine Lehrer. Er verfaßte auch einen Kommentar zum ganzen Talmud für die religiöse Praxis, der von den Späteren sehr geschätzt und als Norm anerkannt wurde (Hilcheta Gabriata)49.

Samuel Ibn-Nagrela war auch neuhebräischer Dichter und verstand Reim und Versmaß gewandt zu handhaben. Er verfaßte Gebete nach Psalmenart mit voller Glaubensinnigkeit und Hingebung und nannte die Sammlung den jungen Psalter (Ben Tehillim). Er komponierte gedankenreiche Sentenzen und Parabeln, eine Frucht seiner tiefen Beobachtung der Menschen und Verhältnisse und nannte diese Komposition das junge Spruchbuch (Ben Mischlé). Endlich stellte er eine Lebensphilosophie nach dem Muster des »Predigers« zusammen (Ben Kohelet). Da er das letztere in reifem Alter verfaßte, so war es das gelungenste [17] seiner schriftstellerischen Werke, voll Erhabenheit und Beredsamkeit50. Er dichtete auch Epigramme und Lobgedichte, aber seine dichterischen Kompositionen, die weltlichen und geistlichen, sind schwunglos, schwerfällig und dunkel, gedankenreich, aber ohne schöne Form. Man urteilte schon vor Alters von ihnen: »Kalt wie der Schnee des Hermon oder wie die Lieder des Leviten Samuel«51.

Kein Wunder, daß ein solcher Mann von lauterem Seelenadel und tiefem Sinn für die Weisheit und Religion überall Segen verbreitete, Wissenschaft und Poesie förderte und die Pfleger des Geistes mit fürstlicher Freigebigkeit unterstützte. Samuel stand mit den bedeutenden Männern seiner Zeit in Irak, Ägypten und Afrika in brieflicher Verbindung, namentlich mit dem letzten großen Gaon R. Haï und mit Nissim, spendete ihnen von seinen Reichtümern, ließ Bücher kopieren und verschenkte sie an arme Studierende, munterte schlummernde Talente auf und war der Schutzgeist seiner Stammesgenossen in der Nähe und Ferne. Den größten Dichter der Zeit Ibn-G'ebirol tröstete er mit herzgewinnender Freundlichkeit in seinem Trübsinn. Mit Recht schildert ihn ein Schriftsteller der nachfolgenden Generation mit den Worten: »Zu Samuels Zeit erhob sich das Reich der Wissenschaft aus seiner Niedrigkeit und die Gestirne der Erkenntnis erglänzten wieder. Gott hat ihm einen hohen Geist verliehen, der die Sphären erreichte und den Himmel berührte, auf daß er die Wissenschaft und ihre Pfleger liebe und die Religion und ihre Träger verherrliche«52.

Die Stellung der Juden in dem Königreich Granada, dessen Zügel ihr Glaubensgenosse leitete, war gehoben. Sie hatten Anteil an den Staatsämtern und dienten sogar im Heere53. In keinem Lande der Welt genossen sie damals eine so durchgreifende Gleichstellung, wie in dem ziridischen Staate. Es war ein freundlicher Sonnenblick nach vielen düsteren Tagen. Sie waren bei dem herrschenden Stamm, den Berbern, noch beliebter als die stockarabische Bevölkerung, welche mit stillem Ingrimm [18] die Herrschaft der Sinhaǵiten ertrug und ihren Blick auf den Nachbarstaat Sevilla richtete, wo ein König aus arabischem Vollblute regierte.

Der Staatsminister und Rabbiner Ibn-Nagrela beschäftigte sich auch mit der Erforschung des Baues der heiligen Sprache, aber das war seine schwache Seite. Er war über die von Chajuǵ aufgestellten Regeln nicht hinaus gekommen. Für die Verdienste seines Meisters war er aber so sehr eingenommen, daß er für neue Leistungen kein Verständnis hatte. Samuel verfaßte zweiundzwanzig Schriften über die hebräische Grammatik. Indessen wird nur eine einzige, »das Buch des Reichtums« (Sefer ha-Oscher)54, als nennenswert angeführt. Die übrigen waren wohl nur gelegentliche Streitschriften, die er gegen den größten hebräischen Sprachforscher Ibn-G'anach geschleudert hatte. Denn mit diesem lebte Samuel in Unfrieden. Dieser tiefste Kenner der hebräischen Sprache in alter Zeit, der nicht weniger eine Zierde der spanischen Judenheit war als der Wesir Ibn-Nagrela, verdient ein besonderes Blatt in der jüdischen Geschichte, zumal er eine lange Zeit unbekannt und verkannt blieb.

Jona Marinus (mit dem arabischen Namen Abul walid Merwan Ibn-G'anach, geb. um 995, gest. um 1050)55 verdankte seine Heranbildung ebenfalls Cordova in der nachchasdaïschen Zeit, als der Enthusiasmus für Kenntnisse und die schwärmerische Liebe für die heilige Sprache die Herzen entzündet hatten. Sein Lehrer in der hebräischen Grammatik war der Menahemist Isaak Ibn G'ikatilla und in der Poetik Isaak Ibn-Sahal (B. V4 S. 373). Die Arzneikunde erlernte er wohl an der Hochschule von Cordova, die der Kalife Alhakem ins Leben gerufen hatte. In seiner Jugend machte Ibn-G'anach wie alle Welt damals hebräische Verse, von denen ihm einige selbst später, als er einen besseren Geschmack und Urteil hatte, nicht ganz schlecht vorkamen. Aber er gab die Reimerei auf, um sich ganz und gar in die hebräische Sprache zu vertiefen und ihr feinstes Geäder zu erkennen. Er lebte ganz in der Erforschung der heiligen Schrift und erlangte eine Meisterschaft darin, die bis auf den heutigen Tag noch nicht übertroffen ist. Vieles hat die Nachwelt von Ibn-G'anach gelernt, aber noch viel [19] mehr können die hebräischen Sprachforscher und Bibelkundigen von ihm lernen. – Auch er mußte, wie sein Gegner Ibn-Nagrela, Cordova wegen der Zerrüttung unter dem Berber Sulaiman (1013) verlassen und ließ sich in Saragossa nieder. Hier, im spanischen Norden, wo eine ganz andere Luft weht, war die Naivität der Unkultur heimisch. Die Juden Saragossas oder der größte Teil von ihnen waren noch in dem Vorurteil befangen, daß das Judentum, das rabbinische Judentum, durch Forschung und namentlich durch grammatische Untersuchungen gefährdet werden könnte. In Nordspanien gab es nämlich karäische Gemeinden, wenn auch in winziger Zahl. Und darum galten im rabbanitischen Kreise hebräische Grammatik und tiefere Bibelforschung nicht als harmlose Studien, sondern als Weg zur karäischen Ketzerei und wurden beargwöhnt. Aber diese Ketzerriecherei hinderte Ibn-G'anach nicht, sich immer tiefer in den Bau der hebräischen Sprache und in die Erforschung des einfachen Bibelwortes zu versenken. Er betrieb zwar auch die Arzneikunde praktisch und theoretisch, schrieb einige Werke über Medizin56, aber sein Hauptaugenmerk war auf eine gründliche Bibelexegese gerichtet und der grammatische Apparat war ihm nicht Hauptsache, sondern lediglich Mittel zum sinngemäßen Verständnis der heiligen Schrift57.

In seinen gründlichen und mit Geist geführten Untersuchungen kam Ibn-G'anach auf ganz neue Resultate, welche von Chajuǵ nicht erkannt worden waren. Er mußte daher an dessen grammatischem System manche Ausstellungen machen. Er tat dies mit Bescheidenheit und mit voller Anerkennung von Chajuǵs Verdiensten und bemerkte dabei, daß er den ersten Begründer der hebräischen Sprachforschung zwar sehr hochschätze, indem »er selbst und viele andere an der Brust seiner Weisheit gesogen haben«, aber er müsse mit Aristoteles sagen, »seine Liebe zur Wahrheit sei noch größer, als die zu Plato«58. Noch vor seiner Auswanderung aus Cordova nach Saragossa, also noch in seiner Jugend, hatte er gegen Chajuǵs Gesichtspunkte in einem Schriftchen angekämpft. Sein selbständiges über Chajuǵ hinausgehendes Verhalten hatte aber dessen warme Anhänger, darunter Samuel Ibn-Nagrela, welcher einer der ersten war, tief verletzt. Es entstand daher ein heftiger Federkrieg zwischen Ibn-Gjanach und den Jüngern der Chajuǵschen Schule, der in leidenschaftliche persönliche Angriffe ausartete, ebenso wie der Streit [20] zwischen der Schule Menahems und Dunaschs. Samuel Ibn-Nagrela und Jona Ibn-G'anach drückten gegeneinander Pfeile des Witzes und der Ironie ab. Grammatische Streitschriften folgten aufeinander von der einen und der anderen Seite. Der letztere gibt einmal zu verstehen, daß ihn Samuel aus Neid verunglimpft und ausgesprengt habe, eine von ihm ursprünglich aufgestellte Bemerkung sei ein Plagiat an älteren orientalischen Grammatikern59. Die zwei Hauptträger der jüdischen Kultur in diesem Zeitabschnitte, der feinsinnige Fürst und das Genie der hebräischen Sprachforschung, waren bittere Gegner, und ihre Feindschaft scheint niemals zur Versöhnung gekommen zu sein. Persönliche Antipathie und die Zwischenträgerei geschäftiger Freunde mögen gleichen Anteil daran gehabt haben.

Im Gefühle des herannahenden Alters, das Ibn-G'anach mit Plato die »Mutter der Vergeßlichkeit« nennt, arbeitete er sein Hauptwerk aus, worin er die Summe seiner Forschungen und den ganzen Reichtum seines innern Lebens niederlegte. Er hat darin Grundsätze der hebräischen Grammatik entwickelt, die wegen ihrer Tiefe und Kühnheit teils nicht erfaßt und teils verdammt wurden. Ibn-G'anach war nicht bloß der Schöpfer der hebräischen Syntax, sondern hat sie auch der Vollendung nahe gebracht. Aber noch bedeutender als seine grammatischen Gesichtspunkte sind die lichtvollen exegetischen Grundsätze, die er in diesem Werke auseinandersetzte, wie die Bibel ausgelegt und wie sie verstanden sein soll. Keiner vor ihm und nur sehr wenige nach ihm bis auf den heutigen Tag haben die Kunstwerke der heiligen Literatur in allen ihren Feinheiten so richtig verstanden und so treffend zu beleuchten gewußt wie Ibn-G'anach. Von der Höhe, zu der er die Bibelforschung erhoben, erscheinen alle vorangegangenen Leistungen, von dem ersten karäischen Bibelforscher bis auf Saadia, Menahem, Dunasch und Chajuǵ nur als Schülerarbeiten. Die Karäer hatten zwar jedes Wort der heiligen Sprache auf die Goldwage gelegt, seine Bedeutungen durch Vergleichung zu erforschen gesucht und um Sinn und Zusammenhang sich vielfach abgemüht, aber sie hatten die Exegese in Dienst genommen, in den Dienst ihres talmudfeindlichen Bekenntnisses und sie blieb ihnen stets eine stumpfe Sklavin. Auch Saadia hatte die Exegese nur als Mittel gebraucht, um das Karäertum zu bekämpfen und gewisse philosophische Theorien biblisch zu färben. Andere wiederum gebrauchten sie lediglich als Stilmuster für elegante Prosa und Poesie. Erst Jona Ibn-G'anach erhob die Bibelforschung zu einer selbständigen Wissenschaft, die ihren Zweck [21] in sich selbst hat. Er wollte der heiligen Schrift zu ihrem eigenen göttlichen Inhalt verhelfen. Der verschrobenen Auslegungsweise, welche die heilige Schrift die Sprache der Kinder und Gedankenlosen reden läßt, setzt er eine einfache, tief in den Sinn eindringende Erklärungsweise entgegen, welche den Geist der heiligen Verfasser um so strahlender erscheinen läßt. Ibn-G'anach machte zuerst auf die Ellipse und auf die Wort- und Versversetzung in den heiligen Büchern aufmerksam und war kühn genug, manches Unverständliche, Rätselhafte und scheinbar Ungereimte darin auf Rechnung einer Laut- und Wortveränderung zu setzen. Über zweihundert dunkle Stellen erklärte er ganz einfach und sinngemäß durch die Annahme, daß dem betreffenden Schriftsteller ein ungehöriges Wort für ein passendes entfahren sei60. Durch die Angabe des rechten Wortes stellte Ibn-G'anach den richtigen Sinn in vielen Versen wieder her, welche bis dahin kindisch gedeutet worden waren. Er war der erste verständige Bibelkritiker. Obwohl er von der Göttlichkeit der heiligen Schrift ganz durchdrungen war, stellte er nicht wie andere ihre Redeweise so hoch, daß sie baren Unsinn aussagen dürfe, sondern nahm an, daß sie, wenn auch des göttlichen Geistes voll, sobald sie an Menschen gerichtet sei, den Regeln menschlicher Ausdrucksweise unterliege. Ibn-G'anach behauptete nicht geradezu, daß die Abschreiber und Punktatoren aus Mißverständnis Wörter oder Formen in der heiligen Literatur verändert oder verdorben hätten, sondern nur daß die heiligen Männer als Menschen auch den Tribut des Menschlichen gezahlt hätten. Mit Recht nannte er sein Hauptwerk (das er wie andere fünf Schriften in arabischer Sprache verfaßte), Kritik (Al-Tanchik) und teilte es in zwei Teile, in Grammatik mit Exegese verbunden (Al-Luhma', Rikmah, Buntgewirktes), und in Lexikon (Kitab al-Asswal)61.

Dieses großartige Werk, das nächst der religions-philosophischen Schrift Saadias die bedeutendste Erscheinung in der jüdischen Literatur des Mittelalters bis ins elfte Jahrhundert ist, zeugt nicht bloß von des Verfassers hohem, lichtvollem Geiste, sondern auch von seiner sittlichen und religiösen Größe. Ibn- G'anach bemerkt in der wissenschaftlich gehaltenen Einleitung: er habe sich der Mühe der Ausarbeitung unterzogen, nicht aus Eitelkeit und Ruhmsucht, sondern um ein tieferes Verständnis [22] der heiligen Schrift und dadurch wahre Frömmigkeit zu fördern. Er sei dazu von einem unwiderstehlichen Drange getrieben worden, und die Lust an der Arbeit habe ihm nicht Ruhe, nicht Erholung gelassen. In der ernsten Beschäftigung damit seien ihm die Gedanken wie durch höhere Eingebung prophetischer Art zugekommen. – Obwohl Ibn-G'anach vielfache Feinde hatte an solchen, welche sein Verdienst schmälerten, und an solchen, welche ihn wegen seiner wissenschaftlichen Auffassung der Bibel als Ketzer verdammten, so sprach er in seinem Werke durchaus nicht feindselig von ihnen, ja nannte sie nicht einmal beim Namen, und wenn es auf ihn angekommen wäre, so würde die Nachwelt von der Gegnerschaft des Ministers Samuel Ibn-Nagrela gegen ihn nichts erfahren haben. – Mit der Philosophie war Ibn-G'anach nicht unbekannt; er spricht von Plato und Aristoteles als Kenner62. Er schrieb auch ein Buch über Logik, wohl im aristotelischen Geiste. Aber metaphysischen Untersuchungen über das Verhältnis Gottes zur Welt und über die Urprinzipien, womit sich seine jüdischen Zeitgenossen und Landsleute und namentlich Ibn-G'ebirol beschäftigt haben, war er abhold und sprach sich darüber tadelnd aus, daß sie nicht zur Gewißheit führen, sondern den Glauben untergraben63. Ibn-G'anach war ein nüchterner Denker und Feind jeder schwärmerischen, exzentrischen Richtung. Darum blieb ihm auch die Poesie fern; er gestand ein, daß ihm im reifen Alter kein Vers gelingen wollte, obwohl er sich Mühe damit gegeben64. Er war der Gegenfüßler der dritten Größe im Triumvirate dieses Zeitabschnittes, des Ibn-G'ebirol, mit dem er, obwohl in einer und derselben Stadt lebend, nicht im besten Einvernehmen gestanden zu haben scheint65.


Fußnoten

1 Ibn-Esra, Einleitung zu Mosnajim. Vgl. Note 1.


2 Sendschreiben des Mazliach an Samuel Nagid, zitiert von Mose Ibn-Esra in dessen (handschriftlicher) Poetik und von Joseph Ibn-Aknin in dessen Kommentar zum Hohenlied (ebenfalls Ms.), mitgeteilt in Ersch und Grubers Enzyklopädie Sec. II, Teil 31, S. 56, Note 86; vgl. Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft, Jahrg. 1858, S. 373.


3 Note 2.


4 Das.


5 Rapaport, Biographie des Haï Gaon in Bikkure ha-Ittim. Jahrg. X.


6 Vgl. die Notiz bei Munk, Guide des égarés I, p. 462.


7 Note 2.


8 Ibn-Esra, Iggeret ha-Schabbat ed. Livorno p. 61 b.


9 Responsa Gaonim Schaare Teschubah No. 23.


10 Maimuni responsum in der Briefsammlung ed. Amstel. p. 45 a, b und Responsa David Ibn-Abi-Simra II, No. 796, p. 37 d.

11 Das Gedicht ist abgedruckt in Dukes Ehrensäulen. Die lateinische Übersetzung von Jean Mercier cantica eruditionis intellectus auctore percelebri R. Haï (Paris 1561), zuletzt von Caspar Seidel: carmen morale στροφόρυϑμον elegantissimum R. Chaï, in dessen manipuli linguae sanctae (Leipzig 1638); vgl. Fürst, Bibliotheca judaica I, 356. Das Gedicht führte auch den arabischen Titel Arguzah (הזוגרא) von dem Versmaße.


12 Vgl. W. Bacher, Le commentaire de Samuel Ibn-Hofni. Revue des Études juives, T. XV, p. 277ff.; T. XVI, p. 106ff.


13 Vgl. darüber Rapaport, Biographie des R. Haï. Note 8.


14 Bei Pinsker, Likuté, Note XI, S. 174ff.


15 Abraham Ibn-Daud.


16 Abraham Ibn-Daud.


17 Die zwei Elegien auf R. Haï in Edelmanns Chemda Genusa, p. XVI, und Rapaport, Biographie des R. Chananel in Bikkure ha-Ittim, Jahrg. XI, p. 37f. Graetz, Hebr. Blumenlese S. 48.


18 Vgl. Bd. V4, S. 449f. Revue des Études juives VIII, 125.


19 Abraham Ibn-Daud.


20 Das.


21 Vgl. Note 3, I.


22 Abraham Ibn-Daud.


23 Der Kommentator des Jeruschalmi Jakob ben Ephraim wird von Salmon ben Jerucham zitiert in dessen arabischem Psalmenkommentar, mitgeteilt von Pinsker, Likuté S. 14, also vor dem Jahre 950.


24 Vgl. R. Haïs Responsum in Taam Sekenim, S. 54.


25 Daß sich R. Nissim mit Jeruschalmi beschäftigte, hat Rapaport in der Biographie nachgewiesen (Note 17). Aber auch R. Chananel tat dasselbe. Vgl. Orientalisches Literaturblatt, Jahrg. 1850, Nr. 16. Rapaports Untersuchungen über R. Chananel und Nissim liegen meiner Darstellung zugrunde. Nur zwei Resultate derselben haben sich nicht bestätigt. Das Sefer-Chefez gehört nicht R. Chananel, sondern einem R. Chefez an (Orient, Jahrg. 1849, S. 110, 247), und der kairuanische R. Nissim ist nicht der Verfasser der Maasziot, sondern ein späterer Enkel des Asketen R. Ascher ben Meschullam aus dem dreizehnten Jahrhundert. Reifmann, Orient, Jahrg. 1841, Literaturblatt S. 617.


26 Zum Teil herausgegeben von Goldenthal. Wien 1847.


27 Zu den von Rapaport gegebenen Belegen kommt noch hinzu R. Nissims Responsnm in Heilbergs Nité Naamanim S. 15f. Der mystische Schluß darin, der an Ibn-Esra und die Kabbalisten erinnert, ist sicherlich interpoliert.


28 R. Nissims Maftéach ed. Goldenthal p. 4 a und 25 a.


29 Abraham Ibn-Daud.


30 Vgl. über diese Stadt (erbaut 1007-1008) de Slane, Ibn-Khaldoun, Histoire des Berbères II, 43.


31 Die Hauptquellen über denselben sind Abraham Ibn-Daud und die interessanten Notizen von Munk in dessen Notice sur Aboulwalid (p. 87ff.), die ich hier zugrunde lege. Nur für neue Tatsachen gebe ich Belege. Vgl. darüber andere Quellen Note 3 I.


32 Jehuda Ibn-Tibbon, Mahnungsschreiben an seinen Sohn (ed. Berlin), S. 4.


33 Juden und Araber nannten die Berber Philister, weil sie glaubten, daß die von David geschlagenen Philister nach Afrika ausgewandert wären. Vgl. Abraham Ibn-Daud und Ibn-Alhakim bei de Slane, Histoire des Berbères, appendice I, S. 301.


34 Samuels Zeitgenosse Ibn-Chajan bemerkt ausdrücklich, daß jener den Titel Katib führte, bei Dozy, Histoire de l'Afrique et de l'Espagne intitulée al-Bajano-l-Maghrib par Ibn-Adhari I. introduction p. 84, 96. Vgl. daselbst Histoire des Musulmans d'Espagne IV, 35f.


35 Ibn-Tibbon a.a.O.


36 Saadia Ibn-Danan in Chemda Genusa.


37 So schildert ihn der mohammedanische Zeitgenosse Ibn-Chajan bei Dozy a.a.O. 97.


38 Samuels Ben-Mischle bei Dukes Blumenlese, S. 56, Graetz, Blumenlese S. 33.


39 Handschriftliche Anekdotensammlung in hebräischer Sprache im Besitz des Herrn Carmoly, der die Freundlichkeit hatte, mich davon Einsicht nehmen zu lassen.


40 de Slane, Munk und Dozy sprechen nach Ibn-Khaldun den Namen Bologgin aus. Gayangos weist aber nach (in seiner History of the mahometan dynasties II), daß diese Aussprache falsch ist. Auch Abr. Ibn-Dauds Orthographie spricht für die Aussprache Balkin.


41 Abraham Ibn-Daud.


42 Mose Ibn-Esra, Poetik, vgl. Graetz, Blumenlese 34, 6.


43 Dozy das. p. 58.


44 Das. p. 98 aus Ibn-Bassan.


45 Ibn-Chajan a.a.O., S. 96.


46 Folgt aus Abraham Ibn-Dauds Darstellung S. ha-Kabbalah ed. Amsterdam, 73 bis Ende, 74 a, und aus dem Lobgedichte des Dichters Joseph ben Chasdaï bei Dukes, Nachal Kedumim p. 20.


47 In der Gutachtensammlung Peer ha-Dor No. 185 und an anderen Stellen.


48 Ist zum Teil gedruckt in den Talmudausgaben; der historische Teil ist von Abraham Ibn-Daud und anderen benutzt. Fragmente daraus befinden sich im Besitze Carmolys handschriftlich.


49 Meïri Bet ha-Bechira ed. Stern, Einleitung S. 11. Vgl. Asulaï sub voce Samuel Nagid.


50 Munk, Notice, a.a.O. p. 107 und Dukes, Nachal Kedumim S. 31ff. Von den 432 Sentenzen des Ben Mischlé sind noch etwa 100 vorhanden, zum Teil zerstreut gedruckt: Zion I, 131; Orientalisches Literaturblatt, Jahrg. 1840 col. 811; 1843, 357; 1845, 652, 697, 614; 1846, 797, 807; 1851, 308, 327; vgl. Jehuda Ibn-Tibbon, Ermahnungsschreiben, das viele Sentenzen von Samuel enthält.


51 Dukes, Nachal Kedumim, S. 5.


52 Mose Ibn-Esra, Poetik, bei Munk, Notice, p. 108.


53 Folgt aus den Notizen bei Munk, daselbst 98 und 104. Dozy, Histoire des Musulmans d'Espagne daselbst p. 113f.


54 Der arabische Titel dieser Schrift lautete Kitab al-Istaghnaa (Munk das. 107, Note 1, und Ersch und Gruber, Enzyklopädie II, B. 31, S. 57, Note 86, 87). Die grammatische Schrift verfaßte Samuel bereits als Staatsmann, denn er erwähnt darin R. Haï als einen Verstorbenen, also nach 1038.


55 Das Biographische und Literaturhistorische über Ibn-G'anach ist zu finden bei Munk in dessen klassischer Notice sur Aboulwalid Ibn-Djanah; in Kirchheims Einleitung zu S. Rikmah und in Ewalds und Dukes Beiträge I und II. Über die Zeit seiner Schriftstellerei vgl. Note 3, II


56 Vgl. Munk a.a.O., S. 81. Wüstenfeld, Geschichte der arabischen Ärzte, Nr. 150.


57 Daß Ibn-G'anach die Vulgata gekannt und mit Christen disputiert hat, erwähnt Bacher, Revue des Études juives IV, p. 273.

58 Zitiert von Serachja Halevi im Maor, Vorwort.


59 Rikmah ed. Kirchheim p. 185.


60 Rikmah, c. 28; vgl. dazu Ibn-Esra zu Daniel I 1, und Zachot ed. Lippmann, S. 72 und Anmerkung dazu.


61 Das arabische Original ist noch Handschrift in der Bodlejana bis auf die Einleitung, welche Munk in dessen Notice etc. veröffentlicht hat. Der erste Teil in hebräischer Übersetzung von Jehuda Ibn-Tibbon ist von Kirchheim herausgegeben worden unter dem Titel Rikmah (Frankf. a.M. 1857).


62 Rikmah, Einleitung, p. XI.


63 Das. Text, p. 161.


64 Das. p. 185f.


65 Geigers Vermutung, daß Ibn-G'ebirols Gedicht in der Sammlung Schire Schelomo von Dukes, Nr. 22, sich auf Jona Ibn-G'anach bezieht, wird durch den Inhalt selbst widerlegt.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1896], Band 6, S. 24.
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