1. Kapitel. Die Mendelssohnsche Epoche. (1750-1779.)

[1] Erhebung aus dem Staube. Mendelssohns Jugend. David Fränkel. Israel Zamosc. Dr. Gumpertz. Lessings Einfluß auf Mendelssohn. Das Drama »Die Juden«. Mendelssohn und Friedrich der Große. Mendelssohn erringt den Preis der Akademie und wird preußischer Schutzjude. Der »Phädon« und seine Bedeutung. Mendelssohns Ruhmeshöhe. Der Bonnet-Lavatersche Streit. Kölbeles Gemeinheiten. Mendelssohns Stellung zu seinen Glaubensgenossen. Die Beerdigungsfrage. Mendelssohn in »Nathan dem Weisen« poetisch verklärt. Der judenfeindliche Sinn gegen das Drama »Nathan« und gegen den Dichter.


»Kann ein Volk an einem Tage geboren werden?« Oder kann ein Volk wiedergeboren werden? Täglich erschließt die Natur dem unverdrossenen Forscher ihre neuen Geheimnisse und zeigt das größte aller Wunder, mit einfachen Mitteln das Spiel der Kräfte in Tätigkeit zu setzen und die überraschendsten Erscheinungen zutage treten zu lassen. Solche staunenswerte Wunder gehen auch in der sittlichen Welt, in der Geschichtssphäre vor, fallen aber nicht so sehr ins Auge und können nicht durch blendende Effekte überraschend dargestellt werden. Ist es nicht eine überwältigende Tatsache, wie sich überhaupt eine Volksgemeinschaft bildet, wie die Selbstsucht, die Launenhaftigkeit, der Eigensinn und die Rechthaberei der einzelnen sich biegen, zu einem Ganzen fügen und einen, um sich einem gemeinsamen Ziele gezwungen unterzuordnen? Gewiß, die Verbindung von Atomen und Aggregatteilchen zu einem einzigen, krafttätigen, meßbaren Körper ist weit [1] weniger staunenswert, als dies Zusammenschließen von leidenschafts- und willensbegabten Einzelwesen zu einem Nationalkörper. Hat nun ein mühsam gebildeter Volksorganismus seine Lebenskraft eingebüßt, ist das Band gelockert, welches die einzelnen im Dienst des Ganzen zusammenhielt, ist die innere Auflösung eingetreten und fehlt noch dazu der despotische Wille, welcher wenigstens mechanisch die Glieder verbinden und das Auseinanderfallen verhüten könnte, mit einem Worte, ist eine Volksgemeinschaft als solche dem Tode verfallen und eingesargt, so könnte sie, so sollte man meinen, nicht mehr einen Auferstehungsmorgen erleben. Solchergestalt sind zahlreiche Völker in uralter und neuerer Zeit untergegangen. Zeigt sich aber in einem solchen Volke dennoch eine Wiedergeburt, d.h. ein Auferstehen aus der Erstorbenheit und augenscheinlicher Fäulnis, und geschieht das in einem Stamme, der über die Jugendkraft längst hinaus ist, dessen Geschichte Tausende von Jahren zählt, so verdient ein solches Wunder die aufmerksamste Beachtung jedes Menschen, der an wunderbaren Erscheinungen nicht stumpfsinnig vorübergeht.

Der jüdische Volksstamm zeigt nicht bloß in uralten Zeiten, in den Zeiten der Wunder, wunderbare Erscheinungen, sondern auch in der wunderlosen nüchternen Epoche. Eine Genossenschaft zum Gespötte nicht bloß für Boshafte und Gedankenlose, sondern fast noch mehr für Wohlwollende und Denker, ja, die sich in ihren eigenen Augen verächtlich vorkam, nur ehrwürdig durch häusliche Tugenden und alte Erinnerungen, aber die einen wie die anderen durch Nebendinge entstellt, bis zur Unkenntlichkeit verunziert, die mit bitterer Ironie sich selbst geißelte und von welcher derjenige, der ihr volles Bewußtsein vertrat, sagen konnte: »Meine Nation ist in einer solchen Entfernung von Kultur gehalten, daß man an der Möglichkeit einer Verbesserung verzweifeln möchte«1, diese Genossenschaft erhob sich doch! Sie erhob sich mit so wunderbarer Schnelligkeit aus ihrer Niedrigkeit, als wenn ihr ein Prophet zugerufen hätte: »Auf, auf, schüttele ab den Staub, löse die Knoten deiner Fesseln, gefangene Tochter Zions!« Und von wem ging diese Erhebung aus? Von einem Manne, der gewissermaßen das Bild dieses Volksstammes dargestellt hat, von Moses Mendelssohn, mit verwachsener Gestalt, linkisch, blöde, stotternd, unschön und abstoßend in seiner Äußerlichkeit. Aber in dieser Volks-Mißgestalt webte ein denkender Geist, der nur, irre geleitet, Hirngespinste verfolgte. [2] und geächtet, sich selbst nicht achtete. Sobald diesem Volksstamme die Wahrheit in ihrem Glanze gezeigt wurde, und daß sie seine Wahrheit ist, so ließ er alsbald sein Wahngebilde fahren und wandte sich dem Lichte zu, und sein Geist begann alsbald seinen Leib zu verklären, seine gebeugte Gestalt zu heben, die häßlichen Züge verloren sich, und es fehlt nicht viel, um den Schimpfnamen »Jude« in einen Ehrennamen verwandelt zu sehen.

Diese Verjüngung oder Wiedergeburt des jüdischen Stammes, die man mit Fug und Recht als von Mendelssohn ausgegangen ansehen kann, hat das Charakteristische, daß der Urheber dieses großen Werkes es nicht beabsichtigt hat, kaum eine Ahnung davon hatte, ja, wie schon angedeutet, an der Verjüngungsfähigkeit seiner Stammesgenossen fast verzweifelte. Er hat diese ganz unbeabsichtigte Veredlung auch nicht vermöge seines Berufes oder Amtes bewirkt. Er war nicht ein Prediger in der Wüste, welcher die verlorenen Söhne Israels zur Sinnesänderung aufrief, er hielt sich vielmehr sein Lebenlang scheu von jeder geflissentlichen Einwirkung zurück. Selbst wenn aufgesucht, wich er jeder Führerschaft aus, mit dem öfter ausgesprochenen Geständnis, keinerlei Fähigkeiten dazu zu haben. Mendelssohn spielte eine einflußreiche Rolle, ohne es zu wissen und zu wollen; er weckte unwillkürlich die schlummernde Begabung des jüdischen Stammes, die nur eines Anstoßes bedurfte, um aus dem gebundenen Zustande herauszutreten und sich zu entfalten. Seine Lebensgeschichte ist darum so interessant, weil sie vorbildlich die Geschichte der Juden in der neueren Zeit ist, wie sie sich aus Niedrigkeit und Verachtung zur Höhe und zum Selbstbewußtsein emporgearbeitet haben.

Moses Mendelssohn (geb. in Dessau, 6. September 1729, starb in Berlin 4. Januar 1786)2, war ebenso unscheinbar und elend, wie fast alle ärmlichen jüdischen Kinder. Die Knechtsgestalt trugen damals meistens schon die jüdischen Neugeborenen in der Wiege. Für geweckte Knaben gab es keine Jugend; denn sie wurden früh genug von dem eisigen Hauch des rauhen Lebens durchfröstelt und geschüttelt, aber eben dadurch wurden sie früh zum Denken geweckt und zum Kampfe mit der lieblosen Wirklichkeit gestählt. Eines Tages klopfte der kaum vierzehnjährige schwächliche Mendelssohn an das Eingangspförtchen [3] eines der Tore Berlins. Ein jüdischer Aufpasser, eine Art Polizeidiener, der Schrecken zugewanderter Juden, welcher den Auftrag hatte, solche, die ohne Subsistenzmittel waren, nicht in die Stadt zu lassen, fuhr den blassen, kränklichen Knaben, der Einlaß begehrte, barsch an. Zum Glück konnte er schüchtern die Worte herausstottern, daß er sich unter dem neuen Rabbiner Berlins zum Talmudjünger ausbilden wolle3. Das war eine Art Empfehlung und machte den gefüllten Beutel so ziemlich entbehrlich. Mendelssohn wurde eingelassen und richtete seine Schritte zum Hause des Rabbinen, der sein Landsmann und Lehrer war. David Fränkel (geb. um 1707, starb 1762), aus der geachteten Familie Mirels in Wien, der Stammvater edler Nachkommen, war ebenso einseitig talmudisch gelehrt, wie sämtliche Rabbinen seiner Zeit; aber er hatte sich auf ein Gebiet geworfen, welches bis dahin sehr vernachlässigt war und ihm daher Gelegenheit gab, seinen Wissensschatz nach einer neuen Seite zu verwerten. Der jerusalemische Talmud, der Zwillingsbruder des babylonischen, blieb Jahrhunderte hindurch in demselben Maße unbeachtet, als dieser bis in seine Falten durchforscht wurde, ein eigenes Geschick, dem auch Bücher unterworfen sind. David Fränkel hatte sich des verlassenen jerusalemischen Talmuds angenommen, dadurch einen bedeutenden Ruf erlangt und war von Dessau für das Berliner Rabbinat berufen worden.

Er nahm sich des schüchternen Jünglings an, ließ ihn zu seinen rabbinischen Vorlesungen zu, versorgte ihn leiblich, um ihn nicht verhungern zu lassen und beschäftigte ihn mit dem Abschreiben seiner Kommentarien zu eben diesem Talmud, weil Mendelssohn von seinem Vater, einem Schreiber von Gesetzrollen, eine schöne Handschrift als einziges Erbe übernommen hatte. Wenngleich Mendelssohn bei Fränkel weiter nichts als Talmud lernen konnte4, so hatte dieser doch einen günstigen Einfluß auf die Geistesrichtung seines Jüngers, da seine Lehrmethode, ein brachliegendes Feld (die Ausgleichung der beiden Talmude miteinander) zu bebauen, nicht so verschroben, klügelnd und verkehrt war, wie die der meisten Talmudausleger, das Krumme gerade [4] und das Gerade krumm zu machen. Mendelssohns angeborener Gradsinn und Wahrheitsdrang wurde durch seinen ersten Meister nicht unterdrückt oder gehemmt, und das war auch etwas wert.

Wie die meisten Talmudjünger (Bachurim) führte Mendelssohn das dürftige Leben, welches der Talmud gewissermaßen als Bedingung für diesen Kreis aufgestellt hat. »Iß Brot mit Salz, trinke zugemessenes Wasser, schlafe auf harter Erde, führe ein Leben voller Entbehrung und beschäftige dich mit der Lehre.« Sein Ideal reichte damals nicht weiter, als sich im Talmudstudium zu vervollkommnen. War es der Zufall, der diesen reichhaltigen Keim gerade in den Berliner Boden eingrub? Oder wäre er dasselbe geworden, wenn er mit Fränkel in Dessau geblieben oder wenn dieser nach Halberstadt oder Fürth, Metz oder Frankfurt berufen worden wäre? Schwerlich! So eingezogen Mendelssohn auch lebte, wehte doch aus der preußischen Hauptstadt eine frische Luft bis in das enge Gehäuse seiner rabbinischen Studien hinein. Mit der Thronbesteigung des großen Friedrich, welcher neben dem Kriegsgott auch den Musen opferte – allerdings nur in französischer Hülle, – begannen literarische Liebhaberei, französisches Wesen und auch Religionsspötterei die Berliner Juden anzustreifen. So beschränkt auch ihre Stellung unter Friedrich war, so ging, weil mehrere unter ihnen Wohlhabenheit erlangten, der neue Geist, wie einseitig und oberflächlich auch immer, nicht spurlos an ihnen vorüber. Ein Drang nach Bildung, Neuerung und Nachahmung des christlichen Wesens begann sich unter ihnen bemerkbar zu machen. Ein Jude, Abraham Posner, beging das damals Unerhörte, sich den Bart abzuscheren. Die Strenge, welche die jüdischen Vorsteher, Anhänger des Alten, anwendeten, um alles in hergebrachter Weise zu erhalten, beweist, daß das Neue schon Reiz ausübte. Der Vater der Ephraimiten zwang jenen Abraham Posner vermittelst eines vom König erwirkten Befehls, den Bart wieder wachsen zu lassen5. Ein junger Mensch, Großvater der Familie Bleichröder, wurde von einem Armenverweser aus Berlin gewiesen, weil er beim Tragen eines deutschen Buches ertappt worden war6.

Was die Polen an der Verwilderung der Judenheit verschuldet hatten, machte ein Pole teilweise wieder gut. In derselben Zeit war nämlich ein polnischer Talmudist, Israel Levi Zamosć (geb. vor 1700, starb in Brody 1772)7 nach Berlin gekommen, empfohlen[5] durch ein gedrucktes talmudisches Werk, das auch außertalmudische, halb verpönte Abhandlungen enthielt. Israel Zamosć war ein guter Kopf, verstand trefflich Mathematik, ohne ein Lehrbuch benutzt zu haben und durch eine Methode geschult zu sein, und fand die wichtigsten Beweise meistens aus eigener Anschauung. Er besaß auch eine gewisse poetische Begabung8. Aber ihm haftete die grelle Formlosigkeit der polnischen Juden an; er konnte seine Gedanken in keiner lebenden Sprache wiedergeben, es sei denn in der hebräischen. Vermittelst derselben, welche die Juden im allgemeinen (mit Ausnahme der Portugiesen) besser als ihre Landessprache verstanden, weckte Zamosć einen Jüngling zur Pflege der Wissenschaften. Aaron Salomo Gumpertz (Gumperts, geb. 10. Dezember 1723, starb um 1770), Enkel jenes jüdischen Agenten Elia Gumpertz aus Emmerich (Bd. X3., S. 244 f.) erlernte von ihm die Elemente der Mathematik – alles in hebräischer Sprache – und wurde dadurch befähigt, einer der ersten Juden in Preußen, den Doktorgrad zu erlangen. Gumpertz hatte vermöge der Wohlhabenheit seiner Eltern Verbindungen mit gebildeten Christen angeknüpft. Mit beiden, mit Zamosć und Gumpertz, kam der junge Mendelssohn in Berührung und wurde durch sie zur Ahnung geweckt, daß es außerhalb des Talmuds auch eine reiche Welt gebe, die kennen zu lernen einigermaßen lohnend sei.

Der erstere machte ihn mit Maimunis philosophischem Werke bekannt, das an ihm und durch ihn wahrhaft zum »Führer der Verirrten« wurde. Der Geist des großen jüdischen Denkers, dessen Asche mehr als fünf Jahrhunderte in palästinensischer Erde ruhte, kam über den jungen Mendelssohn, hauchte ihm frische Gedanken ein und machte ihn gewissermaßen zu seinem Elisa. Was bedeutete für Mendelssohn der lange Zwischenraum so vieler Jahrhunderte? Er lauschte auf Maimunis Worte, als säße er zu dessen Füßen und sauge dessen weise [6] Lehren in vollen Zügen ein. Er las und las dieses Buch so lange, daß er, vertieft in diese Gedankenwelt, die Verkrümmung seines Körpers nicht achtete. Von Zamosć lernte er auch noch Mathematik und regelrechtes Denken und von Gumpertz Wohlgefallen an der schönen Literatur, in welche dieser mit einem Anflug von Narrheit9 so verliebt war, daß er sich zum Schleppenträger des zopfigen Gottsched gemacht hatte. Mendelssohn lernte zu gleicher Zeit buchstabieren und philosophieren, und für beides hatte er doch nur mangelhafte Nachhilfe. Zumeist war er sein eigener Lehrer und auch sein eigener Erzieher. Er stählte sich zu einem festen Charakter, zähmte seine Leidenschaften, daß sie willig der Vernunft gehorchten, und gewöhnte sich, ehe er noch wußte, was Weisheit ist, unverrückbar nach ihren Regeln zu leben. Auch nach dieser Seite hin war Maimuni sein Wegweiser. Mendelssohn war nämlich von Natur heftig und jähzornig; aber er lernte sich so vollständig beherrschen, daß er an Sanftmut und Milde als ein zweiter Hillel angesehen wurde. Ruhig konnte er später, als er bereits einen ausgebreiteten Ruf hatte, Beleidigungen von einem jungen Menschen anhören und ihm entgegnen: »Gehen Sie! Sie sehen, daß Ihr Zweck verfehlt ist, Sie können mich nicht aufbringen«10. Ruhig konnte er zur Zeit, als er bereits eine europäische Berühmtheit war, den rohen Spott übermütiger Studenten in Königsberg auf seine verwachsene Gestalt, seinen Höcker und seinen Spitzbart ertragen. Auf ihre lärmenden Unanständigkeiten entgegnete er die höflichen Worte: »Ich erwarte nur die Vorlesung des Professor Kant«11.

Als hätte Mendelssohn geahnt, daß er berufen sei, seine Stammesgenossen moralisch und ästhetisch zu läutern, beteiligte er sich bereits als Jüngling an einer hebräischen Zeitschrift12, welche von einigen seiner Gesinnungsgenossen zur Veredlung der Juden unternommen [7] wurde. Die Erstlinge seines Geistes nahmen sich wie das erste saftige Grün im Vorfrühling aus. Es ist nicht mehr der verknöcherte, verrenkte, geschnörkelte hebräische Stil seiner Zeitgenossen, welche die hebräische Sprache zu einem häßlichen Greisengestotter verunstalteten. Frisch und klar wie eine junge Bergquelle sprudelten Mendelssohns hebräische Ergüsse; seine Prosa erinnert an Mose Chajjim Luzzato, den kabbalistisch-schwärmerischen Dichter. Der Gedankengrund seiner Erstlinge war philosophisch-religiös nicht bloß da, wo er das Gottesvertrauen und die Nichtigkeit des Übels veranschaulichen wollte, sondern auch da, wo er die Verjüngung der Natur in ihrem Frühlingskleide und das Entzücken des reinen Menschengemütes bei dieser Wandlung schilderte. Seine Schilderungen lassen in ihm bereits den künftigen, gemeinverständlichen Philosophen ahnen. Die Leidensschule, die er mehrere Jahre durchgemacht hat, hatte seinen Geist, statt ihn niederzudrücken, geweckt, gehoben und veredelt. Diese hörte für seine Genügsamkeit mit der nicht sehr glänzenden Stellung als Erzieher auf, die er in einem vermögenden Hause, bei Isaak Bernard, antrat. Aber seine Lehrjahre waren noch nicht abgeschlossen. Noch wogte das Alte und Neue, das Überkommene und Ursprüngliche in seinem Geiste durcheinander. Klarheit und Bewußtsein sollten ihm erst von einer andern Seite zugeführt wer den.

Zu den großen Geistern, welche Deutschland zuerst im achtzehnten Jahrhundert erzeugte, gehörte Gotthold Ephraim Lessing (geb. etwa neun Monate vor Mendelssohn, starb fünf Jahre vor ihm). Er war der erste freie Mann in Deutschland, vielleicht freier als der königliche Held Friedrich, der sich zwar vom Köhlerglauben frei gemacht hatte, aber auch seine Götzen hatte, denen er opferte. Mit seiner Riesengröße stieß Lessing späterhin alle Schranken und Regeln um, welche verdorbener Geschmack, verstaubte Gelehrsamkeit, hochmütige Rechtgläubigkeit und das Zopftum jeder Art, das in Deutschland so recht heimisch war, aufgeführt, gehalten und verewigt wissen wollten. Die Befreiung, welche Lessing den Deutschen brachte, war viel tiefer und nachhaltiger als die, welche Voltaire mit seiner beißenden Lauge in der verdorbenen französischen Gesellschaft angeregt hatte, weil jener eine ästhetisch-sittliche Größe war und einen Gegensatz zur Leichtfertigkeit des französischen Spottvogels bildete; ihm war die Veredelung Zweck, der Witz dagegen nur Mittel. Lessing wollte das Theater zur Kanzel und die Kunst gewissermaßen zu einer Religion erheben. Voltaire würdigte die Philosophie zum Salonklatsch herab.

[8] Es war ein sehr wichtiger Augenblick für die Geschichte der Juden, in dem die beiden jungen Männer, Mendelssohn und Lessing, Bekanntschaft miteinander machten. Man sagt, daß ein leidenschaftlicher Schachspieler, Isaak Heß, sie beim Schachbrett zusammengeführt habe (1754). Das Königsspiel hat gewissermaßen zwei Könige im Reiche der Gedanken zu einem Bündnis vereinigt. Lessing, der Sohn eines Pastors, war eine demokratische Natur; er suchte gerade die Verstoßenen und von der öffentlichen Meinung Geächteten auf. Wie er kurz vorher in Leipzig sich unter Schauspielern und später in Breslau unter Soldaten herumtummelte, so scheute er sich nicht, in Berlin mit geächteten Juden zu verkehren. Hatte er doch die Erstlinge der Kunst, die ihm als die höchste erschien, dem Paria-Volk gewidmet. Mit dem Drama »Die Juden«13 wollte er den Beweis führen, daß ein Jude uneigennützig und edel sein könne, und erregte dadurch das Mißfallen der gebildeten christlichen Kreise. Ein Jude auf Reisen rettet unerkannt einen Baron aus Mörderhand, weist jede Belohnung und Dankbarkeit ab und auch das Entgegenkommen der lebhaften Tochter des Geretteten, deren Hand ihm der Vater anbietet. Zum Erstaunen des ganzen Kreises stottert er die Worte hervor: »Ich bin – bin Jude,« und fügt mit Selbstgefühl hinzu: »Zu aller Vergeltung bitte ich nichts, als daß Sie künftig von meinem Volke etwas gelinder und weniger gemein urteilen. Ich habe mich vor ihnen verborgen, nicht weil ich mich meiner Religion schäme, nein, ich sah aber, daß Sie Neigung zu mir und Abneigung gegen meine Nation hatten.« Den Vertreter des dicken Vorurteils, den Diener des Juden, der ihn aus Not und Elend gezogen, läßt der Dichter derb herauspoltern: »Sie haben in mir die ganze Christenheit beleidigt, daß Sie mich in Dienst genommen, anstatt mir zu dienen«. – Den Juden läßt Lessing darauf entgegnen: »Ich kann Euch nicht zumuten, daß Ihr besser als der andere christliche Pöbel denken sollt.« Er bleibt auch dem Baron, dem Vertreter der vornehmen Welt, nichts schuldig. Auf dessen Ausruf: »O wie achtungswürdig wären die Juden, wenn sie alle Ihnen glichen!« – »Und wie liebenswürdig die Christen, wenn sie alle Ihre Eigenschaften hätten!« – Das, was Lessing beim Schaffen dieses Dramas als Ideal vorschwebte, einen edlen Juden zu finden, erkannte er sogleich in Mendelssohn, und es hat ihn gewiß gefreut, daß er sich mit seiner Dichtung nicht vergriffen und die Wirklichkeit ihn nicht Lügen gestraft hat.

Sobald Lessing und Mendelssohn Bekanntschaft miteinander gemacht hatten, lernten sie einander verehren und lieben. Der letztere [9] bewunderte an seinem christlichen Freunde die Gewandtheit und Zwanglosigkeit, den Mut und die abgerundete Bildung, den sprudelnden Geist und die Kraft, mit welcher dieser eine neue Welt auf seinen Riesenschultern trug, und Lessing bewunderte an Mendelssohn wieder die Gedankenhoheit, den Wahrheitsdrang und die auf sittlichem Grunde ruhende Charakterfestigkeit. Sie waren beide von so hohem Gesinnungsadel durchdrungen, daß je einer von ihnen das an dem anderen hoch anschlug, was er an sich nicht in derselben Vollkommenheit wie bei dem Freunde gewahrte. Lessing ahnte in seinem jüdischen Freunde einen zweiten »Spinoza, der seiner Nation Ehre machen würde«. Mendelssohn war wiederum förmlich von Lessings Freundschaft bezaubert. Ein freundschaftlicher Blick von ihm, gestand er ihm ein, habe so viel Macht auf sein Gemüt, um allen Gram daraus zu verbannen. Nachhaltig regten sie einander an. Lessing, der damals nur »Schöngeist« war (wie man es nannte), brachte Mendelssohn den Sinn für edle Formen, ästhetische Bildung, für Poesie und Kunst bei, und dieser gab jenem wieder philosophische Gedankenanregung. So gaben und empfingen sie wechselseitig, das rechte Verhältnis gediegener Freundschaft. Sie schlossen den innigsten Freundschaftsbund, der so stark war, daß er die beiderseitigen Freunde umschloß, über das Grab hinaus dauerte und sich gewissermaßen in beiden Familienkreisen vererbte.

Die Anregung, welche Mendelssohn von seinem Freunde empfing, war für ihn und die Juden überhaupt außerordentlich befruchtend, und man könnte ohne Übertreibung behaupten, daß Lessing viel zur Veredlung des jüdischen Stammes beigetragen hat, vielleicht viel mehr, als für das deutsche Volk. Das kam allerdings daher, daß die Juden lernbegieriger und empfänglicher waren. Alles, was sich Mendelssohn im Umgange mit seinem Freunde aneignete, kam der Judenheit zugute. Durch seinen Freund, der vermöge seiner genialen, sympathischen Natur eine zauberhafte Anziehungskraft auf begabte Menschen ausübte, kam Mendelssohn in dessen Freundeskreise, lernte Umgangsformen und streifte das Ungelenke von sich ab, das ihm vom Ghetto her anhaftete. Er verlegte sich zunächst mit allem Eifer auf die Aneignung eines anziehenden deutschen Stiles, eine für ihn umso schwierigere Aufgabe, als ihm die deutsche Sprache fremd und der unter den Juden übliche deutsche Wortschatz veraltet und irreführend war. Er hatte auch kein Muster vor Augen; denn ehe Lessing mit seinem Geist den deutschen Stil befruchtete, war dieser schwerfällig, holperig und unschön. Aber Mendelssohn überwand alle Schwierigkeiten. Er entzog, wie er sich ausdrückte, »der ehrwürdigen Matrone (Philosophie) [10] einen Teil seiner Liebe, um sie der leichten Dirne (den sogenannten schönen Wissenschaften) zu schenken«. Ehe ein Jahr seit seiner Vertrautheit mit Lessing abgelaufen war, konnte er schon »philosophische Gespräche« in frischer Darstellung ausarbeiten (Anfang 1755)14, worin er, der Jude, die Deutschen tadelte, daß sie, den tiefen Gehalt ihres Geistes verkennend, sich unter das Joch des französischen Geschmackes beugen: »Werden denn die Deutschen niemals ihren eigenen Wert erkennen? Wollen sie ewig ihr Gold für das Flittergold ihrer Nachbarn umtauschen?« Dieser Tadel reichte höher hinauf bis zum Throne des philosophischen Königs Friedrich II., welcher das Einheimische nicht genug verachten und das Fremde nicht genug bewundern konnte. Der Jude war deutschgesinnter oder deutschfühlender, als die meisten Deutschen seiner Zeit.

Das jüdisch-patriotische Gefühl verleugnete er dabei nicht; es stand in seinem Innern im Einklange mit seiner Vorliebe für das Deutschtum. Obwohl er sein Lebelang das Mißbehagen an Spinozas wühlerischem System nicht überwinden konnte, suchte er doch in seiner Erstlingsarbeit dessen Erstgeburtsrecht an den Gedankenerzeugnissen der neuen Metaphysik zu retten. Die »philosophischen Gespräche« übergab Mendelssohn seinem Freunde mit der scherzenden Bemerkung, daß er ebenfalls so etwas wie der Engländer Shaftesbury zustande bringen könne. Hinter seinem Rücken wurden sie von Lessing dem Drucke übergeben; er flocht damit das erste Blatt zu dessen Ruhmeskranze. Durch Lessings Eifer, ihn nach jeder Seite hin zu fördern, wurde Mendelssohn in Berliner Gelehrtenkreisen bekannt. Als sich in der bis dahin literarisch ziemlich öden preußischen Hauptstadt ein »gelehrtes Kaffeehaus« bildete, woran eine geschlossene Gesellschaft von etwa hundert Männern der Wissenschaft teilnahm, übergingen die Gründer den jungen jüdischen Philosophen nicht, luden ihn vielmehr zur Mitgliedschaft ein. Je ein Mitglied pflegte alle vier Wochen ein wissenschaftlich ausgearbeitetes Thema vorzutragen. Mendelssohn aber, den Schüchternheit und das mangelhafte Organ verhinderten, selbst vorzulesen, lieferte seinen Beitrag schriftlich: »Betrachtung über die Wahrscheinlichkeit«, welche in der beschränkten Erkenntnissphäre der Menschen die Gewißheit ersetzen muß. Noch während der Vorlesung wurde er als Verfasser erkannt und erntete den Beifall der urteilsfähigen Gesellschaft. So war Mendelssohn in der Republik der Literatur eingebürgert[11] nahm tätigen Anteil an allen literarischen Erscheinungen der Zeit und lieferte Beiträge zur »Bibliothek der schönen Wissenschaften«, die sein Freund Nikolai ins Leben gerufen hatte. Mit jedem Tage läuterte sich sein Geschmack mehr, veredelte sich sein Stil, klärten sich seine Gedanken. Seine Darstellungsweise war umso anziehender, als er sie durch feinen Witz zu würzen verstand.

Gerade dasjenige, was die Judenheit durch die Erniedrigung tausendjähriger Knechtschaft eingebüßt hatte, erwarb Mendelssohn für sie in der allerkürzesten Zeit. Sie hatte im allgemeinen – bis auf den Bruchteil der portugiesischen und italienischen Juden – die reine Sprache, das erste Mittel des geistigen Verkehrs, verloren und dafür ein lallendes Kauderwelsch angenommen, das, ein treuer Gefährte ihres Unglücks, nicht weichen zu wollen schien. Mendelssohn empfand ein wahres Entsetzen vor der Verwahrlosung der Sprache. Er verstand es, daß das jüdische Sprachgemisch nicht wenig »zur Unsittlichkeit des gemeinen Mannes« beigetragen habe und versprach sich eine günstige Wirkung von der beginnenden Sorgfalt für eine reine Sprache. Es war nur eine andere Seite der Sprachverderbnis, daß die deutschen und polnischen Juden auf dem ganzen Erdenrund den Formensinn, Geschmack an künstlerischer Schönheit und ästhetisches Gemeingefühl eingebüßt hatten. Der Druck von außen und die Belastung von innen, welche sie zu einer wahren Knechtsgestalt herunterbrachten, hatten diesen Adel, wie so manchen anderen, aus ihrer Mitte verbannt. Auch dieses geistige Gut erwarb Mendelssohn für sie. Er eignete sich einen so bewunderungswürdig zarten Sinn für Formenschönheit an, daß er später von den Deutschen als Richter in Geschmacksfragen anerkannt wurde. Der verkehrte Studiengang der Juden seit dem vierzehnten Jahrhundert hatte auch ihren Sinn für das Einfache abgestumpft. Sie hatten sich so sehr an Gekünsteltes, Geschraubtes, Verschnörkeltes und an Witzeleien gewöhnt, daß die einfache, schmucklose Wahrheit in ihren Augen wertlos, wo nicht kindisch und lächerlich erschien. Ihr Gedankengang war meistens verschroben, verwildert, der logischen Zucht trotzend. Derjenige, welcher ihnen die Verjüngung wiederbringen sollte, hatte sich selbst in der kürzesten Zeit so unnachsichtlich erzogen und geschult, daß ihm geschraubtes Wesen und geschraubte Gedanken widerwärtig waren. Mit dem feinen Sinne für das Einfache, Schöne und Wahre, das er sich errungen hatte, öffnete sich ihm das tiefe Verständnis für die biblische Literatur, deren Grundwesen eben Einfachheit und Wahrheit ist. Durch die dichten Schichten von Schutt und Schimmel, welche Kommentarien und Superkommentarien darauf [12] abgelagert hatten, drang er in ihren tiefen Kern und war imstande, die schönen Gebilde von Staub zu reinigen, das Uralte als eine neue Offenbarung zu verstehen und selbstverständlich zu machen. Wenn er auch nicht begabt war, seine Gedanken dichterisch und rhythmisch zu gestalten, so hatte er doch ein feines Gefühl für den dichterischen Gehalt in jeder Literatur und noch mehr für den ihm heimischen in der heiligen Sprache. Und was allen diesen Errungenschaften die Krone aufsetzte, war, daß er von einem so sittlichen Zartgefühl, von einer so peinlichen Gewissenhaftigkeit und Wahrhaftigkeit erfüllt war, als flösse in seinen Adern das Blut einer langen Reihe edler Geschlechter, welche Ehrenhaftigkeit zu ihrer Lebensaufgabe erkoren hätten. Auch eine fast kindliche Bescheidenheit zierte ihn, die aber von der sich selbst wegwerfenden Untertänigkeit weit entfernt war. Er vereinigte solchergestalt in seinem Wesen so viele angeborene und schwer erworbene Eigenschaften, um einen wohltuenden Gegensatz zu dem Zerrbilde abzugeben, welches die deutschen wie die polnischen Juden damals darstellten. Ein einziger Sinn ging jedoch Mendelssohn ab – und dieser Mangel war für die nächste Zukunft des Judentums von großem Nachteil. Es fehlte ihm jedes Verständnis für die Geschichte, für den in der Nähe kleinlichen und in der Fernsicht großartigen, zugleich komischen und tragischen Gang des Menschengeschlechtes im Verlaufe der Zeiten.

»Was weiß ich von der Geschichte!« sprach er in halb bescheidenem, halb verächtlichem Tone, »was nur den Namen von Geschichte hat, Staatsgeschichte, Gelehrtengeschichte, hat mir niemals in den Kopf wollen.« Er teilte diesen Mangel mit seinem Vorbilde Maimuni und steckte damit gewissermaßen seine nächste Umgebung an.

Wenn nicht alle, so doch viele seiner glänzenden Eigenschaften leuchteten aus Mendelssohns Augen und Gesichtszügen heraus und gewannen ihm umsomehr die Herzen, je weniger er auf Eroberungen ausging. Man fing an, selbst am Hofe Friedrichs des Großen auf »diesen Juden« neugierig zu werden15, er wurde als Träger der fleischgewordenen Weisheit angesehen. Der unerschrockene Lessing flößte auch ihm so viel Beherztheit ein, daß er es wagte, die poetischen Erzeugnisse, des preußischen Königs in einer Zeitschrift (Briefe, die neueste Literatur betreffend) zu beurteilen und seinen Tadel einfließen zu lassen (1760). Friedrich der Große, der Versemachen für Poesie, wie Aburteilen für Philosophie hielt, opferte den Musen in [13] der höfischen Sprache von damals, verachtete die deutsche Sprache, welche damals mit echter Poesie schwanger ging, gründlich und spöttelte dabei über diejenigen Geistesgüter, welche gediegenen Denkern ein heiliger Ernst waren. Mendelssohn, der Jude, fühlte sich von diesem Deutschenhaß des Königs ebenso verletzt wie von dessen Flitterweisheit. Da man aber den Königen nicht die Wahrheit sagen darf, so wußte er sehr geschickt aus der Posaune des Lobes einen zwar leisen Ton des Tadels nachhallen zu lassen, der aber für Kenner vernehmbar genug war. »Jeder Vers beinah' ist ein Zug vom Charakter dieses Prinzen, und das ganze ist das Porträt, worin seine große Seele, sein noch größeres Herz und seine Schwachheit selbst auf das natürlichste geschildert sind. Welcher Verlust für unsere Muttersprache, daß sich dieser Fürst die französische geläufiger gemacht! Der hohe Verfasser würde der Herablassung überhoben gewesen sein, in der Vorrede zu sagen:


Meine Muse deutsch und wunderlich

Kauderwelschend, ein barbarisch Französisch,

Meldet die Dinge, wie sie kann.«


»Kann ein Schriftsteller, dem der jetzige Zustand der Weltweisheit nicht unbekannt ist, der sich allenthalben als ein gründlicher und wahrheitsliebender Kopf zeigt – kann der es sich wohl haben in den Sinn kommen lassen, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele zu bestreiten?« –

Wie sehr auch Mendelssohn den Tadel gegen den König versteckt hatte, ein boshafter Höfling, Prediger Justi, entdeckte ihn, wie den Namen des Tadlers und denunzierte ihn, daß er »als Jude die Ehrfurcht gegen des Königs allerhöchste geheiligte Person im frechen Urteil über dessen Poesie aus den Augen gesetzt habe.« Mendelssohn kam plötzlich der barsche Befehl zu, sich an einem Sonnabend in Sanssouci zu stellen. Das war der Roheit jener Zeit angemessen. Angsterfüllt begab sich Mendelssohn nach Potsdam in das königliche Schloß, wurde ins Verhör genommen und befragt, ob er der Verfasser jener unehrerbietigen Beurteilung sei. Er gestand seine Untat ein und entschuldigte sich mit der feinen Bemerkung: »Wer Verse macht, schiebt Kegel, und wer Kegel schiebt, sei er König oder Bauer, muß sich gefallen lassen, daß der Kegeljunge sagt, wie er schiebt.« Friedrich mochte sich vor den französischen Spöttern in seiner Umgebung geschämt haben, den jüdischen Rezensenten wegen einiger feinen Äußerungen zu bestrafen; Mendelssohn kam mit heiler Haut davon.

Das Glück war diesem Manne, der unbewußt der Träger der Zukunft war, außerordentlich günstig. Es hatte ihm innige Freunde [14] zugeführt, die eine wahre Freude dabei empfanden, ihn, den Juden, hoch in der öffentlichen Meinung zu heben. Es verschaffte ihm eine zwar nicht glänzende, aber doch ziemlich unabhängige Stellung als Buchhalter in dem Hause, in dem er bis dahin die kümmerliche Stellung eines Hauslehrers inne hatte. Es führte ihm eine traute, zärtliche, wiewohl einfache Lebensgefährtin zu, die ihn mit sorgfältiger Liebe umgab. In Hamburg wurde er während seines Aufenthaltes zur Brautwerbung von christlichen Verehrern gefeiert, und auch der Oberrabbiner Jonathan Eibeschütz fand sich dadurch bewogen, ihm ein Zeichen seiner Anerkennung zu geben. Das Glück verschaffte ihm bald einen großen Triumph. Die Berliner Akademie hatte eine Preisaufgabe ausgeschrieben: »Ob die philosophischen (metaphysischen) Wahrheiten derselben Deutlichkeit fähig sind, wie die Lehrsätze der Mathematik.« Schüchtern machte sich Mendelssohn an die Lösung dieser Frage. Er gehörte nicht zur gelehrten Zunft, hatte erst in dem Alter buchstabieren gelernt, in welchem schulmäßig abgerichtete Jünglinge den Kopf voll von lateinischem Wust zu haben pflegten. Als er in Erfahrung brachte, daß sein Freund, der vielversprechende junge Gelehrte Thomas Abt, sein Mitbewerber war, verlor er fast den Mut und wollte zurücktreten. Und doch errang seine Arbeit (Juni 1763) den Sieg, nicht bloß über Abt, dessen Preisschrift der Akademie nicht einmal der Erwähnung wert schien, sondern auch über Kant, welcher nur ehrenvoll genannt wurde. Mendelssohn erhielt den ausgesetzten Preis von 50 Dukaten und die Auszeichnung. Der Jude, der Handelsmann, stach die Mitbewerber von der gelehrten Zunft aus. Kants Ausarbeitung war viel tiefer angelegt; man gewahrt bereits darin den zukünftigen philosophischen Stürmer, welcher den Gesichtskreis der menschlichen Vernunft vielfach erweitern sollte. Es gärt und weht darin schon eine neue Weltanschauung. Aber Mendelssohns Arbeit, so flach sie auch gegen die kantische absticht, hatte den Vorzug der Klarheit und Faßlichkeit. »Er hatte von den Rosen der Philosophie die Dornen weggebrochen.« Weil er jede Erkenntnis für sich mühsam erringen mußte, und weil es ihm anfangs schwer geworden war, sich das Kauderwelsch der Schulsprache anzueignen, begnügte er sich mit trockenen Formeln nicht, sondern bemühte sich, methaphysische Begriffe und Wahrheiten für sich und andere gemeinverständlich zu machen. Dieser Umstand verhalf ihm zum Siege über seinen weit tiefer denkenden Mitbewerber. Seine Arbeit, zugleich mit der Kants auf Kosten der Akademie ins Französische und Lateinische übersetzt, verschaffte ihm in der gelehrten Welt einen sicheren Ruhm, [15] welcher durch den Umstand, daß der Preisgekrönte ein Jude war, nur noch erhöht wurde.

In demselben Jahre (Okt. 1763) erhielt er von König Friedrich eine Auszeichnung, welche die niedrige Stellung der Juden in Preußen charakterisiert, das Privilegium eines Schutzjuden, d.h. die Zusicherung, nicht eines schönen Tages über die Grenze gewiesen zu werden. Bis dahin wurde er in Berlin nur als Anhängsel zum Hause seines Brotherrn geduldet. Der philosophische König sympathisierte in Antipathie gegen die Juden mit seiner erlauchten Feindin Maria Theresia und erließ judenfeindliche Gesetze, die des Mittelalters würdiger waren, als des sich mit Humanität brüstenden achtzehnten Jahrhunderts. Er wollte die Juden in seinen Staaten eher vermindert als vermehrt wissen. Das General-Schutz-Reglement Friedrichs für die Juden16 ist eine wahre Schmach seiner Zeit. Der Marquis d'Argent, einer von Friedrichs französischen Hofwitzlingen, welcher in seiner Naivität es nicht begreifen konnte, daß ein so weiser und gelehrter Mann wie Mendelssohn jeden Tag von der brutalen Polizei aus Berlin ausgewiesen werden könnte, drängte diesen, sich um ein Schutzprivilegium zu bewerben, und den König, es ihm zu erteilen. Es dauerte aber geraume Zeit, bis es ihm im trockenen Kanzleistil bewilligt wurde. Mendelssohn war endlich preußischer Schutzjude geworden.

Viel mehr Glück machte der philosophische Schutzjude in Berlin mit einer Schrift, über welche seine Zeitgenossen aus allen Klassen der Gesellschaft in eine fast verzückte Bewunderung gerieten. Zwei Jahrzehnte später war diese Schrift bereits veraltet, und heute hat sie nur noch literarischen Wert. Dennoch hatte sie zu seiner Zeit mit Recht eine große Bedeutung. Mendelssohn hatte den rechten Zeitpunkt getroffen, damit aufzutreten, und dadurch wurde er eine Berühmtheit des achtzehnten Jahrhunderts. Fast sechzehn Jahrhunderte hatte das Christentum die europäischen Völker erzogen, gehofmeistert und mit Glauben an überirdische Dinge und Vorgänge fast überfüttert. Es hatte dazu alle Mittel der Überredung, der Hinterlist und der Gewalt angewendet, und am Ende, als sich die aus dem Schlummer der Wiegenieder erwachten Denker fragten, welche Gewißheit bietet diese so viel verheißende Heilsverkündung, so sagten sich die Ernsten mit Schmerz – und die Spötter grinsten es mit Schadenfreude, – daß sie Phantasiegebilde für Wahrheit feilbiete.

[16] Ernst oder satirisch hatten die französischen Denker des achtzehnten Jahrhunderts, de la Mettrie, Voltaire, Diderot, Holbach, kurz die halben und ganzen Materialisten, die Haltlosigkeit derjenigen Lehre aufgedeckt, in welcher die sogenannten Kulturvölker so viele Jahrhunderte Trost und Beruhigung gefunden hatten. Die Welt wurde entgöttert, der Himmel in Dunst umgewandelt, alles, was bis dahin unverrückbar fest erschien, war in einen Wirbel geraten. Die Jesuslehre hatte ihre Anziehungskraft verloren und war in den Augen der Ernsten und Denkenden zum Kindermärchen herabgesunken. Der Unglaube war Mode geworden. Mit Jesu Entgötterung schien die Entthronung Gottes Hand in Hand zu gehen, und damit war auch das wichtige Dogma, das die christliche Theologie der griechischen Schulweisheit entlehnt und, wie immer, sich mit fremden Federn schmückend, als ihr Ureignes ausgegeben hatte, die Unsterblichkeit der Seele, dem nagenden Zweifel verfallen. Davon hing damals nicht bloß die Ruhe der Menschen über ihr künftiges Sein, sondern auch die politische Moral ab. Ist die Seele sterblich und vergänglich, so dachte man im achtzehnten Jahrhundert, so ist das Tun des Men schen gleichgültig! Ob gut oder bös, ob tugendhaft oder lasterhaft, es gäbe jenseits des Grabes keine Vergeltung. So war der zivilisierte Teil der Menschheit nach dem langen Traum so vieler Jahrhunderte wieder in die Trübseligkeit der römischen Gesellschaft zur Kaiserzeit zurückgefallen; er war ohne Gott, ohne Halt, ohne sittliche Freiheit, ohne Stachel für ein tugendhaftes Leben. Der Mensch war zu einer verwickelten Maschine herabgesetzt.

Mendelssohn war ebenfalls in dem Gedanken befangen, daß die Würde des Menschen mit der Unsterblichkeit der Seele steige und falle. Darum unternahm er es, das den Gebildeten abhanden gekommene Gut wieder zu gewinnen, die verlorene Wahrheit gewissermaßen wieder zu entdecken, sie so sicher zu stellen, und die materialistischen Angriffe darauf so entschieden zu entwaffnen, daß der Sterbende ruhig einer heiteren Zukunft und seiner jenseitigen Glückseligkeit entgegensehen könnte. Er arbeitete einen Dialog »Phädon oder die Unsterblichkeit der Seele« aus. Es sollte ein Volksbuch, eine neue Heillehre für die ungläubige oder zweifelnde Welt sein. Darum gab er seinem Dialog einen gemeinverständlichen, anziehenden Stil, nach dem Muster des gleichnamigen platonischen Dialogs, von dem er auch die äußere Einkleidung beibehielt. Mehr als die Form hatte ihm Plato nicht bieten können. Die griechische Weisheit hatte, wie jener neuhebräische Dichter treffend bemerkte, »nur schöne Blüten, [17] aber keine Früchte« zur Hebung der Sittlichkeit gezeitigt. Der Stützpunkt des platonischen Beweises von der Unsterblichkeit der Seele beruht auf der Annahme, daß Wissen, Erkennen, Vergleichen, Unterscheiden, kurz die Seelentätigkeit nicht erworben werden könne, sondern nur das Auffrischen und Erinnern verblaßter Erkenntnisse sei. Kurz, die Seele habe schon vor ihrer Verbindung mit dem Leibe existiert, sei also einfacher, ewiger Natur, darum könne sie nicht untergehen. Diese platonische Weisheit war veraltet, und Mendelssohn konnte davon ebensowenig Gebrauch machen, wie von Platos Phantasieen von einer schöneren, blühenden Erde, wohin die Seelen nach ihrer Loslösung vom Körper flögen, und von dem Herumschweben sinnlicher Seelen an Gräbern, um eine Wanderung durch Tierseelen durchzumachen. Mendelssohn ließ vielmehr seinen Sokrates durch den Mund des Jüngers Phädon die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts auseinandersetzen.

Sein Ausgangspunkt zum Beweise für die Unsterblichkeit der Seele ist das Dasein Gottes, das für ihn die allerbündigste Gewißheit hatte. Die Seele sei Gottes Werk, ebenso wie der Leib; dieser gehe doch wohl im eigentlichen Sinne nach der Auflösung nicht unter, sondern verwandele sich in andere Elemente, und noch weniger könne die Seele, dieses einfache Wesen, sich auflösen und dem Untergange verfallen. Ferner: Gott habe die Seele mit dem Gedanken der Unsterblichkeit vertraut gemacht, ihn ihr eingepflanzt. Könnte er, der Gütige und Wahre, sie täuschen? »Wäre unsere Seele sterblich, so wäre Vernunft ein Traum, den uns Jupiter geschickt hat, um uns Elende zu hintergehen, so wären wir wie das Vieh hingesetzt worden, Futter zu suchen und zu sterben.« Jeder Gedanke, welcher zur Beseligung des Menschen ihm eingeboren sei, müsse darum auch wahr und wesenhaft sein.

Bei der Beweisführung für die Unsterblichkeitslehre hatte Mendelssohn noch eine andere edle Absicht. Er gedachte damit der Krankheit begabter Jünglinge jener Zeit, der Jerusalem-Werther, entgegenzuwirken, die, ohne Ziel für ihr Streben, von politischer und erhebend gemeinnütziger Tätigkeit ausgeschlossen, in grillenhafter Empfindelei und selbsterschaffenem Schmerze sich bis zum Gedanken an Selbstmord verirrten und ihn auch ausführten, wenn der Mut nicht auch mit angekränkelt war. Mendelssohn suchte daher im »Phädon« die Überzeugung einzuprägen, daß der Mensch mit seiner unsterblichen Seele ein Eigentum Gottes sei, und er daher nicht das Recht habe, über sich und sein Leben oder über die Trennung seiner Seele von [18] seinem Leibe eigenmächtig zu verfügen – eine zwar hinfällige Beweisführung; aber sie genügte jenem schwächlichen, weibischen Geschlechte in Deutschland vollkommen.

Fast mehr noch als Mendelssohn mit dem »Phädon« beabsichtigt und davon erwartet hatte, »die Überzeugung des Herzens, die Wärme des Gefühles« für die Unsterblichkeitslehre zu erregen, erreichte er. Der »Phädon« wurde das gelesenste Buch seiner Zeit, und es wurde mit Herz und Seele gelesen. In zwei Jahren erlebte es, von dem man sagen kann, es sei eine Tat gewesen, drei Auflagen und wurde bald darauf in alle europäischen Sprachen – versteht sich auch in die hebräische – übertragen. Theologen, Philosophen, Künstler, Dichter, (Herder, Gleim, der junge Goethe), Staatsmänner und Fürsten, Frauen wie Männer erbauten sich daran, richteten ihren gesunkenen religiösen Mut wieder auf und dankten mit einer Schwärmerei, die heutzutage lächerlich erscheinen würde, dem jüdischen Weltweisen, der ihnen wieder jenen Trost gebracht hatte, welchen das Christentum ihnen nicht mehr gewähren konnte. Die Erlösung durch den Juden Mendelssohn wurde ebenso freudig von der heidnisch gewordenen Welt begrüßt, wie ehemals von den Heiden die durch die Juden Jesus von Nazareth und Paulus von Tarsus ausgegangene. In gleicher Weise wie vom Inhalt, waren die Zeitgenossen von der Form bezaubert, von dem blühenden, warmen, innigen Stil, einer glücklichen, künstlerischen Nachbildung der platonischen Dialoge. Von allen Seiten kamen dem bescheidenen Manne Huldigungsschreiben zu. Jeder Fremde von der literarischen Zunft, der Berlin berührte, versäumte nicht, den jüdischen Plato, als eine der größten Merkwürdigkeiten der preußischen Hauptstadt, aufzusuchen und ein Wort von ihm zu erhaschen. Der Herzog von Braunschweig dachte ernstlich daran, Mendelssohn für seinen Staat zu gewinnen. Der Fürst von Schaumburg-Lippe behandelte ihn wie einen Seelenfreund. Die Berliner Akademie der Wissenschaften schlug ihn zur Aufnahme als Mitglied vor. Aber König Friedrich strich den Namen Mendelssohns aus der Liste, man sagte sich, weil er zur selben Zeit die Kaiserin Katharina in die gelehrte Körperschaft habe aufgenommen wissen wollen und sie dadurch nicht verletzen mochte, daß er ihr einen Juden zum Genossen gab. Zwei Benediktiner-Mönche, der eine aus dem Peterkloster bei Erfurt, Maurus Winkopp, und der andere aus dem Kloster La Trappe, wendeten sich mit ihren Zweifeln an den Juden Mendelssohn, als an ihren Gewissensrat, um sich von ihm Unterweisung für ein sittliches und philosophisches Leben zu erbitten. Das Buch »Phädon«, das, wie gesagt, zwei Jahrzehnte später schon [19] veraltet war, hat ihn auf die Höhe des Ruhmes gehoben. Er hat Glück damit gemacht, weil er es zur rechten Zeit in die Welt gesetzt hat.

Selbst eine verdrießliche Geschichte diente Mendelssohn außerordentlich, ihn in den Augen seiner Zeitgenossen zu heben und ihm den Glanz eines Märtyrertums zu verleihen. Johann Kaspar Lavater, ein evangelischer Geistlicher aus Zürich, halb Schwärmer und halb scheinheiliger Ränkeschmied, der später mit den Jesuiten in ein Bündnis trat, hatte in Mendelssohns geistvollem Kopfe die sprechende Bestätigung seiner trügerischen Kunst zu finden geglaubt, aus den Gesichtszügen auf den Charakter und die Seelenanlage der Menschen zu schließen (Physiognomik). Aus jeder Linie des Mendelssohnschen Gesichtes müsse der Unbefangenste sofort die sokratische Seele heraus erkennen, meinte Lavater. Er vergaffte sich förmlich in Mendelssohns Kopf, schwärmte für ihn oder vielmehr für ein gelungenes Modell, das seine Kunst zu Ehren bringen könnte. Nachdem Mendelssohn seinen »Phädon« vollständig griechisch hätte sprechen lassen, daß man den Verfasser nicht als Juden hätte erkennen können, kam Lavater auf den phantastischen Einfall, Mendelssohn sei seiner angestammten Religion ganz und gar entfremdet. Von einigen Berliner Juden glaubte Lavater zu wissen, daß ihnen das Judentum gleichgültig geworden war, und er rechnete auch Mendelssohn ohne weiteres zu ihnen.17 Dazu kam noch, daß Mendelssohn bei einer allerdings widerwilligen Unterredung mit Lavater besonnen und ruhig über das Christentum geurteilt und von Jesus mit einer gewissen Anerkennung gesprochen hatte, freilich mit der Einschränkung »wenn Jesus von Nazareth nichts als ein tugendhafter Mensch hätte sein wollen«. Diese Äußerung schien Lavater der Beginn des Durchbruches der Gnade und Gläubigkeit zu sein. Wie, wenn dieser große Mann, diese verkörperte Weisheit, gleichgültig gegen das Judentum geworden, für das Christentum gewonnen werden könnte! Das war die Gedankenverbindung, welche in Lavater beim Lesen des »Phädon« entstand. Aus Naivität oder Schlauheit stellte er ein Fangnetz für Mendelssohn auf und bewies gerade damit, wie sehr er dessen Grundcharakter verkannte. Ein Genfer Professor, Kaspar Bonnet, hatte damals eine schwache Apologie für das Christentum »Untersuchung der Beweise für das Christentum gegen Ungläubige« französisch geschrieben; diese übersetzte Lavater ins Deutsche und schickte der Übersetzung eine plumpe Widmung an Mendelssohn voran, die wie eine Falle aussah [20] (4. September 1769). Er beschwor ihn dabei feierlich, die Bonnetschen Beweise für das Christentum ebenso öffentlich zu widerlegen, oder wofern er sie richtig fände, zu tun, »was Klugheit, Wahrheitsliebe und Redlichkeit tun hießen, was ein Sokrates getan haben würde, wenn er diese Schrift gelesen und unwiderleglich gefunden hätte«. Hätte Lavater sich auf die Seelengeheimnisse verstanden, worauf er sich so viel zu gut tat, so hätte er erkennen müssen, daß Mendelssohn, selbst wenn er dem Judentum nicht mehr zugetan gewesen wäre, jedenfalls dem Christentum noch viel mehr abgeneigt war, und daß Klugheit, d.h. Rücksicht auf Vorteil und Gewinn für eine behagliche Lebensstellung, so ganz und gar nicht in seinem Charakter lag. Geradezu bloßstellen wollte Lavater ihn allerdings nicht, aber Lärm schlagen wollte er, ohne zu bedenken, wie weh er damit dem schüchternen Weisen von Berlin tat.

Hinterher durfte Mendelssohn es Lavater Dank wissen, daß dieser ihn aus Unbesonnenheit oder frommer Schlauheit aus seiner Schüchternheit und Abgeschlossenheit herausgerissen hat. Mendelssohn hatte seine Stellung zum Judentum und zu seinen Stammesgenossen so wenig klar gemacht, daß Außenstehende in der Tat an ihm irre werden konnten. Auf der Schaubühne der Öffentlichkeit war er ein Philosoph und eleganter Schriftsteller, der das Humanitätsprinzip und den guten Geschmack vertrat und sich scheinbar um die Seinigen gar nicht kümmerte. Im Dunkel des Ghetto war er ein streng orthodoxer Jude, der alle frommen Gewohnheiten, scheinbar unbekümmert um die Gesetze des Schönheitssinnes, mitmachte. Er, der in sich geeinte und gefestigte Charakter, schien eine zwiefache Person zu sein, je nachdem er sich in christlicher oder jüdischer Gesellschaft befand. Er konnte allerdings nicht für das Judentum auftreten, ohne mit seiner philosophischen Überzeugung auf der einen Seite, sei es auch nur durch Anstreifen, das Christentum zu verletzen, und ohne auf der andern Seite, sei es mit noch so zarter Mißbilligung des angehäuften Wustes in der Synagoge, der Empfindlichkeit seiner Religionsgenossen wehe zu tun und solchergestalt sich mit ihnen zu überwerfen. Beides kam ihm vermöge seines friedliebenden Charakters nicht in den Sinn. Er hätte sein Lebelang ohne äußeren Anstoß in dieser stummen Haltung verharren können, wenn ihn nicht Lavaters plumpe Zudringlichkeit aus dieser falschen, eines Mannes von geschichtlichem Berufe ganz unwürdigen Stellung gerissen hätte. Indessen so schmerzlich es ihm auch war, seine innersten Gedanken über Judentum und Christentum bloßzulegen, so durfte er bei dieser an ihn gerichteten Zumutung nicht [21] schweigen, ohne selbst von seinen Freunden für feig gehalten zu werden. Diese drangen ganz besonders in ihn, den Fehdehandschuh aufzunehmen.

So ging er denn in den ihm aufgedrungenen Kampf, führte ihn mit vieler Gewandtheit durch und blieb am Ende Sieger. In der mildesten Form sagte er in einem öffentlichen Sendschreiben an Lavater (Ende 1769) diesem und der Christenheit, die dieser vertrat, einschneidende Wahrheiten, deren Stimme in früheren Zeiten unfehlbar in Blut oder Scheiterhaufenqualm erstickt worden wäre. Seine Religion habe er von Jugend auf untersucht und bewährt gefunden. Die Weltweisheit und die schönwissenschaftlichen Bestrebungen seien ihm nie Zweck, sondern nur Mittel gewesen, sich für die Prüfung des Judentums vorzubereiten. Vorteil konnte er sich unmöglich davon versprechen, und Vergnügen? »O, mein wertgeschätzter Freund! Der Stand, welcher meinen Glaubensgenossen im bürgerlichen Leben angewiesen worden, ist so von aller freien Übung der Geisteskräfte entfernt, daß man seine Zufriedenheit nicht vermehrt, wenn man die Rechte der Menschheit von ihrer wahren Seite kennen lernt. Wer die Verfassung kennt, in welcher wir uns befinden, und ein menschliches Herz hat, wird hier mehr empfinden, als ich sagen kann.« Wäre die Prüfung des Judentums nicht zu dessen Vorteil ausgefallen, was hätte ihn denn an die so strenge, so allgemein verachtete Religion fesseln, was ihn abhalten können, sie zu verlassen? Etwa die Furcht vor den Glaubensgenossen? Ihre weltliche Macht sei zu gering, als daß sie hätte schädlich sein können. »Ich werde es nicht leugnen, daß ich bei meiner Religion menschliche Zusätze und Mißbräuche wahrgenommen, die leider ihren Glanz verdunkeln – wie sie jede Religion im Laufe der Zeiten annimmt. – Allein von dem Wesentlichen meiner Religion bin ich so fest und unwiderleglich versichert, daß ich vor Gott bezeuge, daß ich bei meinem Grundsatze bleiben werde, so lange meine ganze Seele nicht eine andere Natur annimmt.« Dem Christentum sei er nach wie vor abgeneigt, aus dem Grunde, den er Lavater mündlich mitgeteilt, und den dieser daher nicht hätte verschweigen sollen, weil dessen Stifter sich zum Gott aufgeworfen habe. »Und gleichwohl hätte meinetwegen das Judentum in jedem polemischen Lehrbuche zu Boden gestürzt und in jeder Schulübung im Triumph aufgeführt werden können, ohne daß ich mich hierüber jemals in einen Streit eingelassen hätte. Ohne den mindesten Widerspruch von meiner Seite hätte jeder Kenner oder Halbkenner des Rabbinischen aus Scharteken, die kein vernünftiger Jude liest, noch kennt, sich und seinen [22] Lesern den lächerlichsten Begriff vom Judentum machen können. Die verächtliche Meinung, die man von einem Juden hat, wünschte ich durch Tugend und nicht durch Streitschriften widerlegen zu können. Meine Religion, meine Philosophie und mein Stand im bürgerlichen Leben geben mir die wichtigsten Gründe an die Hand, alle Religionsstreitigkeiten zu vermeiden und in öffentlichen Schriften nur von den Wahrheiten zu sprechen, die allen Religionen gleich wichtig sein müssen.«

Das Judentum sei nur für die Gemeinde Jakobs verbindlich. Es ginge so wenig auf Proselyten aus, daß die Rabbinen im Gegenteil vorschrieben, einen jeden, der sich zu diesem Bekenntnisse anbiete, durch ernste Gegenvorstellungen von seinem Vorsatze abzubringen. »Die Religion meiner Väter will also nicht ausgebreitet sein, wir sollen nicht Missionen nach beiden Indien oder nach Grönland senden, um diesen entfernten Völkern unsere Religion zu predigen. – Wenn unter meinen Zeitgenossen ein Confucius oder Solon lebte, so könnte ich nach den Grundsätzen meiner Religion den großen Mann lieben und bewundern, ohne auf den lächerlichen Gedanken zu kommen, einen Confucius oder Solon bekehren zu wollen. Ich habe das Glück, so manchen vortrefflichen Mann, der nicht meines Glaubens ist, zum Freunde zu haben. Wir lieben uns aufrichtig, niemals hat mir mein Herz heimlich zugerufen: ›Schade für die schöne Seele!‹ – Ich kann bei meinen Mitbürgern nationale Vorurteile und irrige Religionsmeinungen zu erkennen glauben und dennoch verbunden sein zu schweigen, wenn diese Irrtümer weder die natürliche Religion, noch das natürliche Gesetz, die Sittlichkeit, unmittelbar zugrunde richten, vielmehr zufälligerweise mit der Beförderung des Guten verknüpft sind. Es ist wahr, die Sittlichkeit unserer Handlungen verdient den Namen nicht, wenn sie auf Irrtum gegründet ist. .... Allein solange nicht die Wahrheit erkannt wird, solange sie nicht national geworden ist, um auf den großen Haufen so mächtig wirken zu können, als das eingewurzelte Vorurteil, muß dieses jedem Freunde der Tugend beinahe heilig sein.

Dieses sind die Beweggründe, die mir meine Religion und Philosophie an die Hand gaben, Religionsstreitigkeiten zu vermeiden.« Dazu käme noch, daß er Jude sei und mit Duldung zufrieden sein müsse, da diese seinen Stammesgenossen in andern Ländern versagt sei. »Ist es doch nach den Gesetzen Ihrer Vaterstadt«, sagte er zu Lavater, »Ihrem beschnittenen Freunde nicht einmal vergönnt, Sie in Zürich zu besuchen!« – Die Bonnetsche französische Schrift finde er gar nicht so überwältigend, um seine Überzeugung wankend zu [23] machen; er habe von Engländern und Deutschen schon bessere Verteidigungen des Christentums gelesen; sie sei auch gar nicht originell, sondern deutschen Schriften entlehnt. Die Gründe seien so schwach und so wenig für das Christentum beweisend, daß man damit jede Religion ebenso gut oder schlecht verteidigen könnte. Wenn Lavater glaube, daß ein Sokrates durch diese Schrift für das Christentum hätte überzeugt werden können, so habe er damit nur die Gewalt, welche das Vorurteil über den Verstand habe, bekundet. Ob das evangelische Konsistorium, dem Mendelssohn vor dem Druck seine Schrift zur Zensur vorlegen wollte, nicht bereut hat, ihm Vollmacht erteilt zu haben, alles nach Belieben drucken zu dürfen, »weil man von seiner Weisheit und Bescheidenheit überzeugt ist, er werde nichts schreiben, was öffentliches Ärgernis geben könnte«? Ärgernis hat er damit gewiß manchem frommen Gemüte gegeben. An Deutlichkeit hatte er es nicht fehlen lassen, daß er, den man »den deutschen Sokrates und eine von den göttlichen Wahrheiten durchdrungene Seele« nannte, an der verachteten Religion der Juden festhalte, dagegen das Christentum als einen Irrtum betrachte, der nur nicht unmittelbar schade; er fände sich nur aus mancherlei Gründen nicht berufen, diesen Irrtum aufzudecken.

Das Mendelssohnsche Sendschreiben an Lavater machte natürlich das größte Aufsehen. Gehörte er ohnehin seit dem Erscheinen des »Phädon« zu den auserwählten Schriftstellern, dessen Schriften jeder Gebildete gewissermaßen zu lesen gezwungen war, so kam noch der Umstand hinzu, daß die Streitsache eine anziehende Seite für die Gegenwart hatte. Die Freidenker – und deren gab es nicht wenige in jener Zeit – rieben sich vor Freude die Hände, daß endlich ein Mann, und noch dazu ein Jude, es gewagt hatte, ein freimütiges Wort über das Christentum zu äußern. Lavater hatte wegen seiner aufdringlichen Art und seiner raubritterlichen Christlichkeit viele Feinde. Diese lasen Mendelssohns feine Abfertigung gegen den triumphierenden Bekehrungseifer mit wahrer Schadenfreude. Der Erbprinz von Braunschweig, ohnehin von Mendelssohn eingenommen, bezeugte ihm (2. Januar 1770) seine Bewunderung darüber, daß er über diese kitzlige Frage »mit so viel Takt und einem hohen Grade von Menschenliebe« gesprochen habe. Bonnet selbst, eine um etwas sauberere Persönlichkeit als sein Lobhudler, räumte Mendelssohn volle Gerechtigkeit ein und klagte über Lavaters unklugen Eifer. Er bereitete ihm in einem Schreiben (12. Januar 1770) fast einen Triumph. Seine Schrift, mit welcher Lavater ihn, den Juden, habe bekehren wollen, habe er gar nicht an [24] das ehrwürdige »Haus Jakob« gerichtet, für welches sein Herz die aufrichtigsten Wünsche hege; noch weit weniger sei es ihm eingefallen, dem jüdischen Philosophen eine günstige Meinung vom Christentume beizubringen. Er sei voller Bewunderung für die Weisheit, Mäßigung und Geschicklichkeit des berühmten Sohnes Abrahams. Er wünsche zwar das Christentum von ihm geprüft zu sehen, es könne nur dabei gewinnen, wenn es von dem weisen Sohne Mendels von neuem einer Untersuchung unterzogen werde. Allein er wolle nicht in Lavaters Fehler verfallen, ihm damit lästig zu werden. Indessen hat sich Bonnet bei aller seiner Tugendhaftigkeit doch eine kleine Schelmerei gegen Mendelssohn erlaubt.18 Lavater selbst war genötigt, mit süßsaurer Miene in einem Sendschreiben Mendelssohn öffentlich um Verzeihung zu bitten, daß er ihn in der Form in eine schiefe Stellung gebracht hatte, beschwor ihn aber, ihm das Zeugnis zu geben, daß er sich nicht geflissentlich eine Indiskretion oder Perfidie habe zuschulden kommen lassen. So hatte Mendelssohn eine schöne Gelegenheit, sich seinem Gegner gegenüber edelmütig zu zeigen. Seiner Sanftmut kostete es keinerlei Überwindung, Lavater zur persönlichen Ehrenrettung zu verhelfen. Er rief ihm zu: »Kommen Sie, lassen Sie uns einander in Gedanken umarmen. Sie sind ein christlicher Prediger und ich ein Jude. Was tut dieses?« Auch mit Bonnet setzte er sich auf das allerfreundlichste auseinander und nahm die verletzenden Äußerungen gegen dessen Buch zurück. In der Sache blieb er indes zähe und vergab dem Judentume nicht ein Jota; nicht einmal die talmudischen und die rabbinischen Eigenheiten mochte er bei diesem Anlasse preisgeben. Mit jedem Schritte wuchs ihm der Mut.

Die günstige Gelegenheit wollte Mendelssohn nicht vorübergehen lassen, das so tief verachtete Judentum zu verherrlichen und den Denkern klar zu machen, daß es mit der Vernunft durchaus nicht im Widerspruch stände. Trotz der Warnung kleinmütiger Juden in seiner Nähe, die Streitsachen dem Stillschweigen zu übergeben, um nicht Verfolgungen heraufzubeschwören, wies er immer mehr auf die Kluft hin, welche das Christentum zwischen sich und der Vernunft gehöhlt habe, während das Judentum in seinem Grundwesen mit ihr übereinstimme. »Je näher ich dieser so angepriesenen Religion komme (schrieb er in seinen Betrachtungen zu Bonnets Palingenesie), desto mehr Abschreckendes hat sie für meine Vernunft.« Mendelssohn brauchte nur auf der einen Seite die Grundlehren des Christentums, wie sie in [25] allen Lehrbüchern auseinandergesetzt, von allen Kanzeln gepredigt wurden, und auf der anderen Seite die des Judentums gegenüber zu stellen, und es konnte nicht zweifelhaft sein, auf welche Seite sich das vernünftige Denken neigen werde. Es machte ihm eine besondere Freude, als die christlichen Stockorthodoxen das Judentum dadurch zu verlästern meinten, daß es sich mit der natürlichen Religion, dem Deismus, decke. »Gelobt sei Gott, daß er uns die Lehre der Wahrheit gegeben.« »Wir haben keine Glaubenssätze, die gegen die Vernunft oder über dieselbe seien. Wir tun nichts zur natürlichen Religion hinzu, als Gebote und Satzungen; aber die Grund- und Glaubenssätze unserer Religion beruhen auf dem Fundamente des Verstandes.« – »Das ist unser Ruhm und unser Stolz, und alle Schriften unserer Weisen sind voll davon.«19 Freimütig äußerte sich Mendelssohn dem Erbprinzen von Braunschweig gegenüber über die Unhaltbarkeit der christlichen Dogmen und der Vernunftgemäßheit der jüdischen. Er glaubte noch nicht genug für das Judentum getan zu haben. »Wollte Gott, ich bekäme nur wieder eine solche Gelegenheit, so tue ich es wieder ... wenn ich bedenke, was man zur Anerkennung der Heiligkeit unserer Religion zu tun schuldig ist.«20 Bonnets Hauptbeweis für die Wahrheit des Christentums, mit dessen Hilfe Lavater sicher geglaubt hatte, Mendelssohn bekehren zu können, blies dieser mit einem Hauche weg: Glaubwürdige Zeugnisse sprächen von Jesu Wundertaten; diese Wundertaten würden selbst von den Gegnern zugegeben; folglich sei an Jesu göttlicher Sendung oder Göttlichkeit nicht zu zweifeln. Mendelssohn wies auf den kurz vorher entlarvten angeblichen Wundertäter Frank21 hin, der damals in Czenstochau wegen Schwindelei eingekerkert war, und dessen Wundertaten ebenfalls von seinen Gläubigen ausposaunt und von seinen Gegnern zugestanden worden waren.

Alle diejenigen, welche nicht der Vernunft den Abschied gegeben hatten, gaben Mendelssohn und seiner Verteidigung Recht und sahen mit Verwunderung, daß das so sehr verachtete Judentum einen so bedeutenden Vorsprung vor dem gefeierten, offiziellen, orthodoxen Christentum habe. Das Judentum feierte durch seinen würdigen Sohn einen Triumph. Der unglückliche Bekehrungseifer Lavaters und Mendelssohns ebenso feine wie kühne Abfertigung bildeten eine Zeitlang den Gesprächsstoff der gebildeten Kreise in Deutschland und über dessen Grenzen hinaus. Die Zeitungen berichteten darüber und [26] machten auf jeden Zwischenfall aufmerksam. Anekdoten flogen von Zürich nach Berlin hin und her. Man erzählte sich, Lavater hätte geäußert, wenn er elf Tage in völliger Heiligkeit und im Gebet verharren könnte, so würde er Mendelssohn unfehlbar zum Christen bekehren können. Als dieses, jedenfalls in Lavaters Geiste zugespitzte, geflügelte Wort Mendelssohn zu Ohren kam, erwiderte er lächelnd: »Ja, wenn ich hier in meinem Armstuhl sitzen und eine philosophische Pfeife dabei rauchen kann, bin ich's zufrieden!« – Man sprach von der Mendelssohn-Lavaterschen Fehde mehr als von Krieg und Frieden. Jede Messe brachte Flugschriften in deutscher und französischer Sprache, unbedeutende Erzeugnisse, die kein langes Leben verdienten. Nur die wenigsten derselben waren zu Mendelssohns Gunsten geschrieben, die meisten nahmen sich des Christentums und dessen Vertreters gegen »die Anmaßung des Juden« an, der es sich nicht zur Ehre rechne, der Christengemeinde einverleibt zu werden.

Am schlimmsten machte es ein gallsüchtiger Mensch und elender Schriftsteller, Johann Balthasar Kölbele in Frankfurt a.M., ein Rechtsverdreher, der aus Judenhaß oder Krankhaftigkeit des Leibes und der Seele Mendelssohn, die Rabbinen, Juden und Judentum mit so gemeinen Schmähungen begeiferte, daß er eben dadurch die Wirkung seiner Angriffe selbst lähmte. Kölbele hatte schon früher mit Mendelssohn angebunden und ihn in einem verschollenen Romane von einer seiner hölzernen Figuren schmähen lassen; dann wollte er einen »Antiphädon« gegen Mendelssohns »Phädon« schreiben oder geschrieben haben. Seine ganze Galle entleerte er aber in einem Sendschreiben an »Herrn Mendelssohn über die Lavaterschen und Kölbeleschen Angelegenheiten« (März 1770). Gegen Mendelssohns Behauptungen von der Lauterkeit der Lehre des Judentums führte er die Verleumdungen und Verdrehungen seines Genossen Eisenmenger auf. Mendelssohns reiner, selbstloser Charakter war, man kann fast sagen, in den gebildeten und hohen Kreisen Europas bekannt. Nichtsdestoweniger verdächtigte ihn Kölbele, daß er nur aus Eigennutz im Judentum verharre, »weil ein jüdischer Buchhalter besser gestellt sei als ein christlicher Professor, und jenem in den Vorzimmern der Fürsten auch mancher Vorteil zugute käme«. Auf Mendelssohns Beteuerung, er werde sein Lebenlang im Judentum verharren, erwiderte der schmähsüchtige Narr oder Verleumder: »Wie wenig geben die Christen auf Judeneide!« Mit wenigen Worten fertigte ihn Mendelssohn in der Nachschrift zu einem Sendschreiben an Lavater ab. Er brauchte nicht mehr; Kölbele hatte sich selbst gerichtet. Mendelssohn [27] hatte von diesen Schmähungen den Vorteil, daß anständige Schriftsteller, die sich innerlich wegen seines selbständigen und kühnen Auftretens nicht wenig ärgerten, ihn in Ruhe ließen; sie scheuten Kölbeles Genossenschaft. Siegreich ging Mendelssohn auch aus diesem nur scheinbar kleinlichen Streit, der sich fast zwei Jahre hinzog, hervor; er hatte in der öffentlichen Meinung dadurch an Achtung gewonnen, daß er so mannhaft für seine angestammte Religion aufgetreten war.

Er hatte aber auch deswegen von seiten der jüdischen Frommen eine Anfechtung zu erdulden. Das, was seine Klugheit ihn befürchten ließ, traf ein. In seiner Wahrheitsliebe hatte er öffentlich geschrieben, daß er im Judentum »menschliche Zusätze und Mißbräuche gefunden, welche dessen Glanz nur zu sehr verdunkeln«. Diese Äußerung verletzte alle diejenigen, die in jeder noch so unjüdischen Gewohnheit, welche die Zeit und der Kodex geheiligt hatten, eine sinaitische Offenbarung verehrten. Die Gesamtjudenheit und sämtliche Berliner Gemeindemitglieder, mit Ausnahme der wenigen, die zu Mendelssohns Kreis gehörten, gaben nicht zu, daß sich Rost an das edle Metall des Judentums angesetzt hätte. Er wurde daher wegen dieser Äußerung, wahrscheinlich von dem damaligen Rabbiner Hirschel Lewin, zur Rede gestellt und um eine nähere Erklärung befragt, was er darunter verstanden habe. Er gab sie und konnte sie geben.22 Sie befriedigte wahrscheinlich den Rabbinen, der kein Eiferer war. Aber seine Rechtgläubigkeit wurde doch dadurch den Strengfrommen, die er »die Kölbele unserer Glaubensgenossen« nannte, verdächtig. Er mußte sich rechtfertigen, daß er weit davon entfernt gewesen sei, die Aussprüche der talmudischen Weisen »für bloße Scharteken« erklärt zu haben23. Wissensdurstige junge Polen »mit guten Köpfen, aber wirren Gedanken«, reine und unreine Elemente – wie Abraham Wolf Rechenmeister, der ein Muster von Genügsamkeit und Opferfreudigkeit war,24 der Dichterling Isachar Falkensohn Behr und Abba-Glossk, der nicht verdient hat, von Chamisso besungen zu werden – solche abenteuerliche Gestalten drängten sich an Mendelssohn und brachten ihn in üblen Geruch. Die meisten derselben hatten nicht bloß mit dem Talmud, sondern mit der Religion und Moral überhaupt gebrochen, führten ein wüstes Leben und hielten solches eben für Philosophie und Aufklärung. Aus Liebe zu den Menschen und dem selbständigen Denken ließ sich Mendelssohn mit ihnen ein,[28] disputierte mit ihnen, beförderte und unterstützte sie. Dieser Umgang warf ebenfalls ein falsches Licht auf sein Verhalten zum Judentum. Ihr Leichtsinn und ihre Ausschreitungen wurden ihm zur Last gelegt; sie galten als seine Schützlinge und Jünger25.

Bald gab er Gelegenheit, diesen Argwohn zu erhöhen. Der Herzog von Mecklenburg-Schwerin hatte den Juden seines Landes in mild väterlicher Weise verboten (April 1772), die Leichen nach jüdischem Brauch so rasch zu bestatten, daß der Tote vom Scheintoten nicht unterschieden werden konnte. Die jüdische Pietät gegen Verstorbene, sie nicht oberhalb der Erde der Verwesung auszusetzen, welche im Ritualkodex versteinert wurde, fühlte sich durch dieses Edikt verletzt, als wenn der Herzog ihnen zugemutet hätte, die Religion zu übertreten. Die Vertreter der Gemeinde von Schwerin wandten sich daher flehend an Jakob Emden in Altona,26 den bereits greisen Eiferer für die Rechtgläubigkeit, ihnen beizustehen und talmudisch-rabbinisch zu beweisen, daß das längere Unbestattetlassen der Leichen ein sehr wichtiger Punkt des Judentums sei. Emden, der seine Unfähigkeit kannte, eine Denkschrift über diese Sache in deutscher Sprache auszuarbeiten, wies die Schweriner an Mendelssohn, dessen Wort bei Fürsten großes Gewicht habe. Sie befolgten seinen Rat, und auch Emden unterstützte ihr Gesuch. Wie erstaunt waren sie, durch ein Schreiben von Mendelssohn (Mai 1772) zu erfahren, daß er ganz entschieden dem herzoglichen Erlasse beistimme, die Leichen vor dem dritten Tage nicht zu bestatten, weil nach den Erfahrungen bewährter Ärzte Fälle von Scheintod möglich seien, und man daher zur Rettung eines einzigen Menschenlebens sich über noch so bündige Bestimmungen im Religionskodex hinwegsetzen dürfe und müsse! Zum Überfluß wies er nach, daß in den talmudischen Zeiten Vorkehrungen zur Verhütung des grausigen Scheintodes getroffen worden seien. Sein Gutachten war rabbinisch untadelhaft ausgearbeitet, bis auf einen Schnitzer, den er begangen hatte. Nichtsdestoweniger schickte er ihnen, seiner friedliebenden gefälligen Natur treu, die Formel eines Gesuches an den Herzog um Milderung des Erlasses zu. Emden stempelte aber in seinem orthodoxen Eifer diese streitige Frage fast zu einem Glaubensartikel. Ein so allgemeiner Brauch unter sämtlichen Juden, italienischen, portugiesischen, wie deutschen und polnischen, dürfe nicht so leichthin beseitigt werden. Auf das Gerede von Ärzten sei nicht viel zu geben. Mendelssohns talmudische Beweise seien nicht stichhaltig. Emden gab [29] in einem direkten Schreiben an ihn deutlich zu verstehen, daß er ihn zu seinem eigenen Besten zurechtweise, um den Verdacht lauer Gläubigkeit von ihm zu nehmen, dem er infolge seines schlechten Umganges sich ausgesetzt habe.27 So entstand eine kleine Spannung zwischen Mendelssohn und den Stockorthodoxen, die sich später steigerte.

Inzwischen hatte sein Freund Lessing am Vorabend seines Todes unbeabsichtigt einen Sturm in Deutsch land erregt, der die Kathedrale erzittern machte, und dabei in berechtigter Verstimmung und in künstlerischem Drange Mendelssohn und mit ihm die Juden durch eine vollendete poetische Schöpfung verklärte. Die erste Veranlassung zu diesem Sturm, der das Christentum bis in sein Innerstes erschütterte, war Mendelssohns Streit mit Lavater. Lessing war über die Siegesgewißheit der Vertreter des kirchlichen Christentums so tief empört, daß er seinen jüdischen Freund zu mannhaftem Kampfe gegen dasselbe mit allem Nachdruck ermutigt hatte. »Sie allein dürfen und können in dieser Sache so schreiben und sprechen und sind daher unendlich glücklicher, als andere ehrliche Leute, die den Umsturz des abscheulichsten Gebäudes von Unsinn nicht anders, als unter dem Vorwande, es neu zu unterbauen, befördern können.28 Er ahnte damals nicht, daß er bereits einen Donnerkeil in Händen hatte, und daß er bald in die Lage kommen würde, ihn auf diese Aftergötter, die den Himmel erobert zu haben glaubten, zu schleudern. Bei seinem unstäten Leben, welches seinem unruhigen Geiste entsprach, war Lessing nach Hamburg gekommen und hatte mit der geachteten und denkfreien Familie Reimarus Bekanntschaft gemacht. Der tiefe Forscher Herrmann Samuel Reimarus (geb. 1694, gest. 1768) hatte im Unmut über das verknöcherte und doch so anmaßend auftretende lutherische Christentum der Hamburger Pastoren eine »Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« ausgearbeitet, welche jede geoffenbarte Religion verwarf, der Vernunft ihr verkümmertes Recht verschaffen wollte und ganz besonders den Stifter des Christentums herabsetzte. Reimarus hatte aber nicht den Mannesmut, das, was er als wahr erkannt hatte, laut auszusprechen und die Schäden der herrschenden Religion nach seiner Überzeugung öffentlich bloßzustellen. Er hinterließ diese Schrift, welche in ihren Falten gefährlichen Zündstoff enthielt, seiner Familie und gewissermaßen einem geheimen Orden freidenkender Mitglieder als Vermächtnis. Elisa [30] Reimarus, eine edle, ihres Vaters würdige Tochter, gab Bruchstücke dieser Brandschrift an Lessing, der sie mit Inbrunst las und zu veröffentlichen gedachte. Indessen traute er sich in theologischen Streitpunkten kein maßgebendes Urteil zu und übergab diese Bruchstücke seinem urteilsfähigen jüdischen Freunde zur Prüfung. Mendelssohn fand zwar diese Schrift nicht so sehr überzeugend, weil der Verfasser, durch das Übermaß der kirchlichen Gläubigkeit erbittert, in den entgegengesetzten Fehler verfallen war, den nüchternsten Unglauben auf den Thron zu setzen und in der Kurzsichtigkeit jener Zeit in gewaltigen geschichtlichen Erscheinungen kleinliche Umtriebe zu finden. Mendelssohn vermochte aber nicht seinen Freund davon abzubringen, daß diese Schrift die gute Wirkung hervorbringen müßte, den Hochmut der Kirche zu demütigen. Endlich beschäftigte er sich mit dem Gedanken, Reimarus' Brandraketen unter einem falschen Namen in die Kirche zu werfen. Aber die Berliner Zensur mochte nicht die Bewilligung zum Druck erteilen. Da faßte Lessing einen anderen Plan. Er hatte mit der Übernahme der Herzoglich-Braunschweigischen Bibliothek in Wolfenbüttel die Freiheit erlangt, die handschriftlichen Schätze der reichen Sammlung zu veröffentlichen. Im Interesse der Wahrheit erlaubte er sich die Unwahrheit, als ob er die »Bruchstücke eines Unbekannten« in dieser Bibliothek gefunden hätte, eines Verfassers, der sie ein Menschenalter vorher niedergeschrieben habe. Unter dieser Mummerei begann er die Veröffentlichung derselben, gedeckt durch seine Zensurfreiheit für Herausgabe von Beiträgen »zur Geschichte und Literatur aus den Schätzen der Bibliothek zu Wolfenbüttel«.29 Stufenweise verfuhr er mit der Veröffentlichung dieser Fragmente. Die ersten Bruchstücke traten gewissermaßen bittend auf, um der Vernunftreligion gegenüber der Religion des Katechismus und der Kanzel auch das Wort zu gönnen, den vernünftigen unchristlichen Verehrern Gottes Duldung einzuräumen. Dann wagte er einen weiteren Schritt, die Unmöglichkeit der Wunder nachzuweisen, worauf die Kirche beruht, und ganz besonders die Ungeschicht lichkeit und Unglaubwürdigkeit von Jesu Auferstehung, einer Hauptsäule des Christentums, womit es steht und fällt, augenscheinlich zu machen. Ganz zuletzt rückte Lessing mit den bedeutendsten Fragmenten heraus (Anfang 1778) »vom Zwecke Jesu und seiner Jünger«. Darin war [31] auseinandergesetzt, daß Jesus sich lediglich zum jüdischen Messias und zum Könige der Juden habe aufwerfen wollen. Dazu habe er mit seinen Jüngern geheime Veranstaltungen getroffen und Verschwörungen unterhalten, um eine Art Revolution in Jerusalem zu entzünden; er habe sogar gegen die Obrigkeit gehetzt, um den hohen Rat, das Synhedrion, zu stürzen. Als ihm aber sein Umsturzplan mißlungen sei, indem die jüdischen Behörden aus Furcht vor den Römern jeden Aufstandsversuch niederzuhalten gezwungen waren, und als Jesus den Tod habe erleiden müssen, hätten die enttäuschten Jünger ein anderes System erdacht, und erklärt, Jesu Reich sei nicht von dieser Welt. Sie hätten ihn für den geistigen Erlöser für das ganze Menschengeschlecht ausgegeben, dabei aber auf seine baldige Wiederkunft die Aufmerksamkeit gerichtet; die Evangelien hätten die ursprüngliche Lehre Jesu vertuscht und entstellt.

Diese Behandlung der christlichen Urgeschichte, welche das ganze Christentum über den Haufen zu werfen geeignet war, schlug wie ein Blitz ein. Sie war nüchtern, überzeugend und wissenschaftlich ausgeführt und doch für jedermann verständlich. Eine Art Erstaunen und Verblüffung war der Eindruck, die besonders das letzte Fragment hervorrief. Staatsmänner und Bürger waren ebenso davon ergriffen wie die Theologen. Die Urteile waren im Publikum geteilt. Ernste Jünglinge, welche die theologische Laufbahn einschlagen wollten, stutzten, mochten nicht ihre Lebenstätigkeit an eine Sache hingeben, welche vielleicht nur ein Wahn sei, und wählten lieber einen anderen Lebensberuf. Manche behaupteten, die Beweise des Fragmentisten gegen das Christentum seien unwiderleglich30. Die Anonymität machte die Spannung noch größer. Man riet hin und her, wer der Verfasser wohl gewesen sein möchte. Auch Mendelssohns Name wurde dabei öffentlich genannt31. Nur wenige wußten, daß der auch von den Theologen verehrte Reimarus der Orthodoxie diesen Streich gespielt hatte. Der ganze Zorn der Eiferer entlud sich daher auf den Herausgeber Lessing. Er wurde von allen Seiten angefallen und hatte keinen Mitstreiter zur Seite. Sein jüdischer Freund wäre ihm gerne beigesprungen; aber durfte er sich in diese häusliche Angelegenheit mischen? Unter vielen Gemeinheiten, welche die Frommen Lessing aufbürdeten, gehörten auch diese, daß die reiche jüdische Amsterdamer Gemeinde ihm für die Veröffentlichung der [32] Wolfenbüttler Fragmente 1000 Dukaten geschenkt hätte32. Aber von jeher ge wohnt, mit seinen starken Armen allein gegen Ungeschmack und Unverstand zu kämpfen, war Lessing Mannes genug, sich selbst zu schützen. Es gewährt eine Freude, diesen Riesen im Kampfe zu sehen, wie er vernichtende Streiche mit freundlichem Lächeln und Anmut führte. Er streckte alle seine Feinde nacheinander nieder und am nachdrücklichsten den Typus der dummgläubigen, hochmütigen, hämischen Orthodoxie, den Pastor Göze in Hamburg. Seine antigözischen Pfeile hätten, so wie sie diesen Vertreter des Wittenberger verstockten Luthertums niedergeschmettert haben, so auch das ganze Gebäude umstürzen können, wenn Lessing nicht in der Täuschung befangen gewesen wäre, daß das reine Christentum mit Humanität eins sei. Ihm fehlte die Überzeugung und darum auch der Mut, den letzten Gedanken folgerichtig auszusprechen. Da seine zwerghaften Gegner auf literarischem Wege diesem Mikromegas nicht beikommen konnten, so riefen sie den weltlichen Arm zu Hilfe. Lessings Beiträge wurden verboten, konfisziert, die Handschrift der Fragmente mußte er ausliefern, die Zensurfreiheit wurde ihm entzogen, und noch dazu wurde ihm zugemutet, nichts mehr in dieser Angelegenheit zu schreiben (1778). Er wehrte sich zwar auch gegen diese Vergewaltigung, aber er war in einem Punkte verwundbar. Der größte Mann, den Deutschland bis dahin erzeugt hatte, war mittellos, und da seine Stelle als Bibliothekar auf dem Spiele stand, mußte er sich nach einem Notgroschen umsehen. In einer seiner schlaflosen Nächte (10. Aug. 1778) fiel ihm ein Plan ein, welcher zugleich seiner Geldverlegenheit ein wenig aufhelfen und den lutherischen Theologen einen noch schlimmeren Possen spielen sollte, als es zehn Fragmente getan haben würden. Sie donnerten gegen ihn von ihren Kirchenkanzeln herab, da schickte er sich an, ihnen von seiner Theaterkanzel zu antworten. Das jüngste, reifste, vollendetste Kind seiner Muse, »Nathan der Weise«, sollte sein Rächer werden. Lessing hatte das Gewebe schon einige Jahre früher im Kopfe herumgetragen, die Vollendung desselben konnte er zu keiner günstigeren Zeit in die Welt setzen.

Zum Ärger der hochmütigen christlichen Frommen, welche bei all ihrer Engherzigkeit, Lieblosigkeit und Verfolgungssucht im Glauben an Jesum alle Tugenden für sich in Anspruch nahmen und die Juden samt und sonders als Verworfene verschrieen, stellte Lessing einen Juden als fleckenloses Ideal der Tugend, der Weisheit und Gewissenhaftigkeit [33] auf. Dieses Ideal hatte er in Moses Mendelssohn verkörpert gefunden33. Ihn und seine Charaktergröße beleuchtete er durch das helle Licht theatralischer Effekte und prägte ihn der Ewigkeit durch den Wohllaut der edelsten Sprache und den Wohlklang unvergänglicher Poesie ein. Der Hauptheld seines unsterblichen Dramas ist ein Weiser und Kaufmann wie Mendelssohn, ebenso »gut als klug und ebenso klug als weise«. – Sein Volk verehrt ihn als einen Fürsten; doch daß es ihn den weisen Nathan nennt – vor allem hätt's ihn den guten nennen können:


». . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . weil

die Mild' ihm im Gesetz geboten, die

Gefälligkeit ihm aber nicht geboten, macht

die Mild' ihn zu dem ungefälligsten

Gesellen auf der Welt . . . .«

». . . . . . . . Wie frei von Vorurteilen

Sein Geist, sein Herz wie offen jeder Tugend,

Wie eingestimmt mit jeder Schönheit sei,

. . . . . . . . . . . . welch' ein Jude!

Und der so ganz ein Jude scheinen will.«


Ein Sohn des Judentums, hat sich Nathan zur höchsten Höhe humaner Gesinnung erhoben, weil ihm auch sein Gesetz diese Milde vorschreibt. Im fanatischen Gemetzel der Kreuzzüge hatten wilde Christen in Jerusalem alle Juden mit Weib und Kind ermordet und ihm selbst ein geliebtes Weib mit sieben hoffnungsvollen Söhnen verbrannt. Anfangs raste, tobte und murrte er gegen das Geschick, dann sprach er in Hiobs Duldergröße:


»Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan!«


In diesem wehmütigen Schmerze bringt ihm ein Reitknecht ein junges, zartes, christliches Kind, ein verwaistes Mädchen, und Nathan nahm es, trug's auf sein Lager, küßte es, warf sich auf seine Kniee und dankte Gott, daß er ihm doch wenigstens die verlorenen sieben durch [34] eins ersetzt habe. Dieses christliche Mädchen liebte er nicht nur mit der ganzen Glut eines Vaterherzens, sondern erzog es auch mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Nicht diese oder jene Religion und noch weniger die seinige flößte er in Rechas oder Blankas junge Seele, sondern nur die Lehre von reiner Gottesverehrung, idealer Tugend und Sittlichkeit. So der Vertreter des Judentums.

Wie handelte dagegen der Vertreter des Christentums? Der Patriarch von Jerusalem, der mit seiner Kirche von dem großherzigen Sultan Saladin kraft eines feierlich beschworenen Vertrages in der mohammedanischen Stadt geduldet wird, sinnt auf verräterische Pläne gegen den Sultan, schmiedet Ränke gegen ihn:


»Nur – meint der Patriarch – sei Bubenstück

Vor Menschen nicht auch Bubenstück vor Gott.«


Für Nathan will er einen Scheiterhaufen anzünden, weil er ein verlassenes christliches Kind gehegt, geliebt und zur liebreizenden seelenvollen Jungfrau erzogen hatte. Das Kind wäre ohne des Juden Erbarmen im Elend verkommen:


»Tut nichts, der Jude wird verbrannt.«


Daja, eine andere Vertreterin des kirchlichen Christentums, die um Rechas christliche Abstammung weiß, hat Skrupel, daß sich das Christenkind in eines Juden warmer Liebe sonnt. Sie unterdrückt zwar diese Gewissensbisse mit kostbaren Geschenken, aber sie sinnt doch nur darauf, Nathan das Liebste, woran seine Seele hängt, zu entziehen, sollte er auch dadurch in Fährlichkeit geraten.


»Sie ist eine von den Schwärmerinnen, die

den allgemeinen, einzig wahren Weg

nach Gott zu wissen wähnen.«

». . . . . . . . . . . . . . . denselben Menschen

Zur selben Zeit zu lieben und zu hassen.«


Der Tempelherr Leu von Filneck vertritt eine andere Seite des Christentums. Ein Soldat und Geistlicher zugleich, der, von Saladin trotz Wortbruches verschont, im Müßiggange Recha, das vermeintliche Judenmädchen gerettet hat, fährt mit christlichem Hochmut Nathan rauh und barsch an, während er ihm für die Rettung seiner Pflegetochter warmen Dank entgegenbringt. Erst nach und nach, durch der Liebe Wunderkraft, legt der Tempelherr die rauhe, häßliche Kruste seiner christlichen Vorurteile ab. Es fließt auch noch mohammedanisches Blut in seinen Adern. Nur die heilige Einfalt des Klosterbruders Bonafides verbindet noch menschliche Güte mit klösterlicher[35] Kirchlichkeit; aber er kennt nur eine Pflicht, Gehorsam, und würde auf ausdrücklichen Befehl des fanatisch grausamen Patriarchen die entsetzlichsten Verbrechen begehen.

Diese Lehren predigte Lessing von seiner Theaterkanzel den verstockten Gemütern der Christgläubigen. Der weise Jude Nathan-Mendelssohn steht bereits auf der Höhe humaner Gesinnung, der beste Christ, der Tempelherr, jeder gebildete Christ – die Nikolai, die Abt, die Herder – müssen sich erst von ihren dickhäutigen Vorurteilen los machen, um dazu zu gelangen. Das Pochen auf die eigene wahre Religion und die rechte Seligkeit ist ein Wahn. Wer besitzt den echten Ring? Wodurch kann der echte von dem unechten unterschieden werden? Jedenfalls durch Sanftmut, herzliche Verträglichkeit, Wohltun und innigste Ergebenheit in Gott, kurz durch alles das, wovon das kirchliche Christentum damals nicht allzuviel zeigte, und was in Mendelssohn vollendet war.

Mit jedem Zuge hat Lessing in diesem Drama das verknöcherte, verfolgungssüchtige Christentum gegeißelt und das Judentum wenigstens in seinem Hauptvertreter verherrlicht. Als sollte dieses herrliche Drama, die erste schöne Frucht der deutschen Poesie, obwohl von einem christlichen Dichter in die Welt gesetzt, der Judenheit gehören, hat ein Sohn Israels die Geburt desselben gefördert. Lessing, von theologischen Feinden bestürmt und mit gemeiner Not kämpfend, hätte es nicht zustande bringen können, wenn er nicht während der Ausarbeitung ohne Sorge hätte leben können. Er brauchte einen Vorschuß und fand unter den Christen keinen Helfer. Ein Jude, Mose Wessely34 in Hamburg, ein Bruder des später in die jüdische Geschichte eingreifenden neuhebräischen Dichters Naphtali Wessely, machte ihm diesen Vorschuß, obwohl er nicht zu den reichen Juden gehörte, und verlangte nur die Ehre, ein Schreiben von Lessings Hand zu besitzen.

Lessing hatte sich nicht getäuscht, daß dieses Drama die fromme Christenheit mehr ärgern würde, als zehn antigözische Streitschriften. Sobald es in die Öffentlichkeit gedrungen war (Frühjahr 1779) ballte sich ein glühender Zorn gegen den Dichter zusammen, als ob er das Christentum herabgesetzt hätte. Die Fragmente und die antigözischen Streitschriften hatten ihm nicht so viel Feinde gemacht, als der »Nathan«. Seine Freunde selbst zeigten ihm nur kalte Gesichter, mieden ihn, schlossen ihn, der Geselligkeit liebte, von geselligen Kreisen aus und [36] überließen ihn der Verfolgung seiner Feinde. Er fühlte sich durch diesen stillen Bann gekränkt verlor immer mehr seine heitere Laune und die Elastizität seines Geistes und wurde müde, schläfrig, fast stumpf. Die Frommen haben ihm das letzte Jahr seines Lebens reichlich verbittert. Er starb im kräftigen Mannesalter wie ein Greis, ein Märtyrer seiner Liebe zur Wahrheit. Aber seine herzgewinnende melodische Stimme für die gegenseitige Duldung drang durch und sänftigte allmählich die Mißtöne des Hasses und der Vorurteile. Trotz des Bannes, der den »Nathan« wie seinen Erzeuger in protestantischen wie in katholischen Ländern traf, wurde dieses Drama eines der volkstümlichsten der deutschen Poesie, und so oft die mit Überzeugung gedichteten Verse von den Bühnen ertönen, ergreifen sie die Herzen der Zuhörer und lösen die Gliederkette des Judenhasses in den deutschen Gemütern, die sich am schwersten davon losmachen konnten. Nathan hat in dem Bewußtsein des deutschen Volkes Furchen gezogen, die trotz ungünstiger Umstände sich nicht mehr ganz geschlossen haben. Zwanzig Jahre vorher, als Lessing sein Erstlingsdrama »Die Juden« in die Welt setzte, tadelte es ein hochmütiger Theologe, daß es allzu unwahrscheinlich sei, daß unter einem Volke, wie das jüdische, ein solches edles Gemüt, wie es der Jude in dem Stück zeigt, sich auch nur bilden könne. Beim Erscheinen des Nathan zweifelte kein Leser desselben, daß ein solcher edler Jude vorkommen könne. Diese Ungeheuerlichkeit durfte auch der Verstockteste nicht mehr vorbringen. Der jüdische ideale Weise leibte und lebte in Berlin und war eine Zierde nicht bloß der Juden, sondern zugleich der deutschen Nation. Ohne Mendelssohn hätte das Drama »Nathan« nicht entstehen können, wie er nicht ohne Lessings Freundschaft das geworden wäre, was er für die deutsche Literatur wie für die Judenheit geworden ist. Die Innigkeit des Verhältnisses zwischen diesen beiden Freunden zeigte sich nach Lessings Tode. Seine Brüder und Freunde, die erst nach seinem Verscheiden seine ganze Größe ahnten, wandten sich mit ihrem Schmerze über den Verlust an Mendelssohn, als verstände es sich, daß er der Hauptleidtragende sei. Und er war es auch. Keiner seiner Freunde hatte sein Andenken mit so wehmütiger Erinnerung und mit religiöser Verehrung bewahrt wie Mendelssohn. Er war vor allem darauf bedacht, es vor Verkennung und Fälschung zu schützen.


Fußnoten

1 Mendelssohn, Schreiben an Hennings, bei Kayserling, Mendelssohn, sein Leben und seine Werke, Anhang, S. 522.


2 M. Mendelssohns Leben ist vielfach von Juden und Christen dargestellt worden. Die Hauptmomente sind neuerdings von einem seiner Nachkommen, Prof. G. B. Mendelssohn, zur Ausgabe der gesammelten Schriften (Leipzig 1843-45, 7 Bände) zusammengestellt. Einige Ergänzungen dazu lieferte Kayserling a.a.O.


3 [Vgl. jedoch Jacob Auerbachs Abhandlung »Moses Mendelssohn und das Judenthum« in L. Geigers Zeitschr. f.d. Gesch. d. Juden in Deutschland I, S. 10, N. 1.]


4 Es ist unerwiesen, daß er unter Fränkels Leitung More Nebuchim oder andere jüdisch-philosophische Schriften studiert hat, wie die Biographen angeben. [David Fränkel wurde in Berlin etwa 1704 geboren und starb daselbst am Abende des 4. April 1762. Vgl. Landshuth, םש ישנא תודלות, S. 36. 57 f.]


5 König, Annalen der Juden im preuß. Staate, S. 285, Anm.

6 Mendelssohn, Ges. Schriften I, S. 9.


7 Zamosćs Todesjahr (20. April 1772) ist genau angegeben zum Schluß seines Kusarikommentars רצוא דמחנ, wo auch angegeben ist, daß die Gemeinde seiner Leiche Ehren erwiesen habe. Sein erstes Werk חצנ לארשי (Frankfurt a.O. 1741) ist von mehreren Rabbinern approbiert. Ich weiß nicht, ob die Nachricht von den Verfolgungen, die er in Polen wegen seiner Aufgeklärtheit erlitten haben soll (Sal. Maimon. Lebensgeschichte II, S. 168 f. und Nikolai, Ergänzung zu Mendelssohns Biographie, ges. Schr. V, S. 205) nicht ein Mythus oder übertrieben ist. Falsch ist jedenfalls das Todesjahr 1770 bei Nikolai. [Vgl. auch Landshuth in der »Gegenwart«, Jahrg. 1867, S. 325 f.]


8 Nikolai das. Seine moralische Parabel עמדה דזנ (Dyhernfurt 1773, eine Ausgabe anonym, und die andere mit seinem Namen) zeugt auch für seine poetische Anlage. [Nur die Titelblätter der Ausgaben, welche die Bibliothek des jüdisch-theologischen Seminars in Breslau beide besitzt, sind verschieden.]


9 Gumpertz' närrisches Wesen leuchtet hervor aus der Einleitung zu seinem Superkommentar zu Ibn-Esras exegetischen Schriften דוס הלגמ und nicht weniger aus seinem Schreiben an Gottsched; bei Danzel, Gottsched und seine Zeit, S. 333. [Vgl. jedoch das abweichende und wohl begründete Urtheil Landshuths in der »Gegenwart« a.a.O. S. 365 ff. u. םש ישנא תודלות, S. 48.]


10 Ges. Schr. II, S. 171.


11 Lewald, ein Menschenleben I, S. 99; Jolowicz, Geschichte der Juden in Königsberg, S. 98, Anm.


12 Der Titel derselben lautete רסומ תלהק, und sie wurde unternommen 1750. Mendelssohns Beiträge sind abgedruckt, Meassef, Jahrg. 1785, S. 90, 93, 102. Auch Zamosć scheint sein עמדה דזנ für diese Zeitschrift ausgearbeitet zu haben.


13 Gedichtet 1749.


14 S. Ges. Schr. I, S. 13, Anm.


15 Lessings Brief an Mendelssohn d.d. 8. Dezbr. 1755. Ges. Schr. V, S. 16.


16 Gesetz vom 17. April 1750.


17 Lavaters Brief I. in Ges. Schr. III, S. 84.


18 S. Ges. Schr. II, S. 99 und Lessings Brief das. S. 190 f.


19 Schreiben bei Kayserling, das. S. 496 f.


20 Das. S. 493.


21 S. Bd. X3, S. 386 ff., Graetz, Frank und die Frankisten, S. 59 f.


22 Schreiben an Lavater, Ges. Schr. III, S. 90.


23 Bei Kayserling a.a.O., S. 492, 495.


24 S. über ihn Anekdoten von guten Juden, Nr. 29.


25 S. Jakob Emdens Brief an M., Meassef 1785, S. 184 f.


26 S. Bd. X3, S. 365 ff.


27 Die Sendschreiben in dieser Beerdigungsfrage nebst dem Erlasse sind mitgeteilt in Meassef 1785, S. 155, 169 f., 178 f.


28 Lessings Brief an Mendelssohn, d.d. 9. Jan. 1771. Ges. Schr. V, 189.


29 Der Druck der Wolfenbüttler Fragmente begann in Braunschweig 1774 und wurde mit Unterbrechung fortgesetzt bis 1778. [Vgl. D. F. Strauß, Reimarus und seine »Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes«. 2. Aufl. Bonn, 1877.]


30 Vgl. Semmler, Vorrede zur Beantwortung der Fragmente, Halle 1779.


31 Lessings Brief an seinen Bruder vom 20. Okt. 1778.


32 Lessings Brief an seinen Bruder d.d. 25. Febr. und an Elisa Reimarus vom 22. Juni 1780.


33 Alle Sophistereien Kuno Fischers sind nicht imstande, die Thatsache wegzuklügeln, daß Lessing wahre Humanität, die fern von jedem Glaubenswahne und Seligmacherei ist, nur unter den Juden fand, wie er sie in Mendelssohn verkörpert sah. Die pointierte Antithese, daß ein Jude, wenn er nicht ein Nathan wird, ein Shylock sein müsse (K. Fischer, Lessings Nathan der Weise, Stuttgart 1864, S. 104 f.) ist eine schillernde Seifenblase. Faktisch war kein Jude ein Shylock, wohl aber ein Christ. – Konnte Lessing einen christlichen Helden auffinden, der ein ihm übergebenes Kind konfessionslos erzogen hätte? Nur ein Jude, der fern von Proselytenmacherei ist, konnte das im Drama tun, weil er es auch im Leben tun würde.


34 [Die Literatur über ihn s. bei L. Geiger, Gesch. d. Juden in Berlin II, 138.]



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1900], Band 11, S. 38.
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Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

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