Die Balkanhalbinsel als Schauplatz der griechischen Geschichte

[230] Die gesamte Balkanhalbinsel ist von hohen, in den verschiedensten Richtungen verlaufenden Gebirgsketten durchzogen, die scharf voneinander gesonderte Täler meist von beschränkter Ausdehnung umschließen. So leistet die Natur des Landes hier mehr noch als anderswo der Zersplitterung der Völker in kleine isolierte Stämme Vorschub. Die größeren Einheiten der indogermanischen Zeit sind überall verschwunden, zahlreiche kleinere Stämme und selbständige Gauverbände an ihre Stelle getreten. Größere Völkerschaften und Ansätze zu umfassenderen staatlichen Bildungen finden wir nur im Donautiefland (Triballer, Geten) und im Hebrosgebiet (Odrysen). Im übrigen aber umschließt die Halbinsel Gegensätze der schärfsten Art. Der nördliche Hauptteil ist eine große, nach außen ungegliederte Landmasse, hafenarm, zwar vom Meere umspült, aber doch mit ihm fast ohne Verbindung, selbst an der buchten- und inselreichen nordillyrischen Küste, wo das Festland steil und unzugänglich aus der stürmischen unwirtlichen Adria aufsteigt. Nach Norden geht die Halbinsel ohne irgendwelche natürliche Abgrenzung in den Kontinent über. Das Land liegt jeder eindringenden Barbarenschar schutzlos offen. Nach Süden dagegen ist es abgeschlossen. Obwohl in nächster Nähe des Hauptstromes der Mittelmeerkultur, bleibt es doch von ihr völlig unberührt, und noch jetzt ist es das am wenigsten zugängliche und erforschte Land Europas. Dem entspricht seine Stellung in der Geschichte. Völkerwanderungen haben sich oft genug über die illyrischen und thrakischen Landschaften ergossen, aber geschichtliches Leben und höhere Kultur haben sich niemals hier entwickelt. Von allen indogermanischen Völkern, abgesehen etwa von den Balten, haben die [230] Illyrier und Thraker die geringste Rolle in der Geschichte gespielt, nicht weil sie nicht auch an sich kulturfähig gewesen wären, sondern weil ihr Land sie von jeder Kulturbewegung ausschloß. Der gesamte Strom der griechischen und hellenistischen Geschichtsentwicklung geht an ihnen vorüber, ohne mehr als die äußersten Ränder Thrakiens und Illyriens zu streifen; erst die römische Monarchie hat die Zivilisation auch ins Innere der Balkanhalbinsel getragen. Dadurch wurde zugleich das Volkstum der Thraker und Illyrier untergraben. Die Völkerwanderung, der Einbruch der Slawen und der Einfluß von Byzanz haben den Untergang der thrakischen Nation vollendet; und wenn die Albanesen sich wenigstens auf einem Teil ihres Gebietes behauptet und einen beträchtlichen Teil des alten Hellas hinzugewonnen haben, so beruht ihre geschichtliche Bedeutung doch nur darauf, daß sie völlig in das Griechentum eingegangen und das eigentliche Ferment der neuerstehenden griechischen Nation geworden sind.

Aber an diesen Rumpf setzt sich ein Ausläufer von ganz anderem Charakter. Die Zersplitterung, der schroffe Wechsel hoher Berge, tief eingeschnittener Täler, kleiner fruchtbarer Ebenen herrscht auf der Griechischen Halbinsel in noch weit gesteigerterem Maße und bewirkt eine stets fortschreitende Zerspaltung in kleine und kleinste Stämme, wies sie sonst im Bereich der indogermanischen Völker nirgends ihresgleichen hat. Aber zugleich dringt das Meer von allen Seiten ein, eine bunte Inselwelt ist den nach Ost und West geöffneten Buchten vorgelagert und schlägt die Brücke nach Italien wie nach der Kleinasiatischen Halbinsel. Auch auf dieser geht das abgeschlossene Hochland des Inneren in ein lebendig gegliedertes Küstengebiet über, in dem fruchtbare Flußtäler – nur von weit größeren Dimensionen als in Griechenland – mit steilen Bergketten wechseln. Der verschwisterten Halbinsel streckt das asiatische Festland zahlreiche Golfe und Inseln wie Arme entgegen (vgl. Bd. I, 759). Es ist die mannigfaltigste und belebteste Gliederung, welche die Erdoberfläche kennt. So ist das griechische Volk auf ganz andere Bahnen gewiesen als seine nordischen Nachbarn. Seine Heimat ist mitten hineingestellt in die Bahn der Kultur, die von Osten nach Westen vorschreitet, dazu geschaffen, [231] sie aufzunehmen, zu gestalten und weiterzugeben. Die weltgeschichtliche Mission, die das griechische Volk zu erfüllen berufen war, ist aus der Natur seiner Wohnsitze erwachsen und wäre ohne sie nie erfüllbar gewesen. Zugleich aber war auch das Verhängnis der griechischen Nation in der Natur ihres Landes vorgezeichnet: die Zerrissenheit in zahllose selbständige Kantone, welche zwar die größte Vielseitigkeit der Entwicklung gestattet, aber jeden Zusammenschluß der Nation zu einer festen politischen Einheit und damit zugleich die dauernde Behauptung der errungenen Stellung im Kampfe mit den feindlichen Nachbarmächten unmöglich gemacht haben.

Freilich ist in der Natur eines Landes nur die Möglichkeit, aber nicht die Notwendigkeit einer Entwicklung vorgezeichnet. Von dem Zusammenwirken all der unzähligen Faktoren geschichtlichen Lebens hängt es ab, ob die natürlichen Bedingungen zur Wirksamkeit gelangen, von der Individualität eines Volkes, ob es überhaupt imstande ist, sie zu ergreifen und sich ihnen entsprechend zu bilden370. In der Geschichte des griechischen Volkes haben sich alle diese Bedingungen vereinigt. Die Anregungen des Orients fielen auf fruchtbaren Boden, die Gunst der äußeren Verhältnisse, das Fehlen jeder beengenden Nachbarmacht gestattete die weiteste Ausdehnung und eine völlig ungehinderte Gestaltung der politischen und nationalen Verhältnisse, und so konnte der im Volke ruhende Keim ureigenster Begabung sich voll entfalten und die Nation zu einem Reichtum geschichtlichen Lebens gelangen, wie er niemals einem anderen Volk beschieden gewesen ist.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 230-232.
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