Unteritalien. Zerstörung von Sybaris

[755] Während die Blüte der ionischen Städte dahinwelkt, entfaltet sich in den Städten Unteritaliens und Siziliens noch einmal die gleiche Pracht. Die Bevölkerung wächst an, das Landgebiet wird immer intensiver bebaut und gibt stets reicheren Ertrag, die Handelsverbindungen mit den einheimischen Stämmen und mit dem Mutterlande erweitern und festigen sich – zahlreiche Lehnwörter legen z.B. für den regen Handelsverkehr zwischen Sizilien und [755] Rom Zeugnis ab –, eine einheimische Industrie entsteht. Von dem Glanz der Städte, von dem fabelhaften Reichtum einzelner Kaufleute, von dem Luxus, der in Kleidung und Schmuck und in Genüssen aller Art getrieben wird, wissen die Schriftsteller nicht genug zu berichten, und Monumente und Münzen geben die Bestätigung. Auch im Westen aber beginnt damit die Ära der Stän dekämpfe und Revolutionen. Die Gegensätze zwischen Herrschern und Untertanen, zwischen Adel und Bürgerschaft, zwischen Alt- und Neubürgern, zwischen arm und reich müssen hier durchgekämpft werden. Die Bewegung, die zu Anfang des 6. Jahrhunderts mit der Usurpation des Panätios in Leontini und des Phalaris in Agrigent begann, hat am Ende des Jahrhunderts alle anderen Städte ergriffen. Überall hören wir von innerem Hader und von Tyrannen, in Kyme, in Tarent (Herod. III 136), in Sybaris, in Rhegion, fast in allen sizilischen Städten. Nur in Kroton und Lokri hat die Aristokratie das Regiment behauptet. Aber auch die Glanzzeit von Großhellas ist für uns so gut wie verschollen; von den ausführlichen Nachrichten, die Antiochos, Philistos, Aristoteles gegeben haben, ist uns fast nichts bewahrt, selbst von den trüben und entstellten Erzählungen des Timäos ist nur ein dürftiger Auszug auf uns gekommen. So sind wir auch über das wichtigste Ereignis dieser Zeit, die Zerstörung von Sybaris durch Kroton, nur ganz unzulänglich unterrichtet. Es war ein Kampf nicht nur zweier um die Vormacht hadernder Städte, sondern ebensosehr der politischen Gegensätze der Zeit. Auf der einen Seite stand die reiche, dem üppigsten Wohlleben ergebene Handelsstadt, in der die demokratischen Tendenzen die Herrschaft hatten und jetzt ein Tyrann Telys regierte; auf der anderen das konservative Kroton, das in den aristokratischen Idealen lebte und in die gymnastische Ausbildung und Abhärtung seiner Bürger seinen Stolz setzte. Die von Telys gestürzten Aristokraten fanden in Kroton Aufnahme; andererseits wurde ein reicher Krotoniat, Philippos (o. S. 749), der Telys' Tochter heimführen wollte, aus der Heimat verjagt. Der Krieg scheint von Telys eröffnet zu sein, angeblich, weil ihm die Auslieferung der Verbannten verweigert wurde. Die Krotoniaten erfochten einen glänzenden Sieg; [756] die feindliche Stadt wurde erobert und von Grund aus zerstört, die Wasser des Flusses Krathis über die verhaßte Stätte geführt1077. Die Reste der Sybariten retteten sich nach Laos und Skidros an der Westküste Önotriens. Die Vernichtung der glänzenden Stadt hat niemand schwerer empfunden als die Milesier, deren Handel dadurch nach so vielen Verlusten einen neuen Schlag erhielt, den er nie wieder verwunden hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 755-757.
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