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Kulturkreise. Grundzüge der geschichtlichen Entwicklung. Individualität und Homogenität

40. Die bisher besprochenen, größere Gruppen verbindenden Einheiten, Rasse, Sprache und Volkstum, haben das gemeinsam, daß sie körperliche und geistige Wirkungen erzeugen, die dauernd in den Besitz der ihnen eingeordneten Verbände und jedes zu diesen gehörigen Individuums übergehen und ein erblicher Bestandteil ihrer Eigenart, ihres Charakters werden. Daneben gehen andere Wirkungen des Austausches zwischen den Verbänden einher, die lediglich dem Bereiche der materiellen und geistigen Kulturgüter angehören und daher eine Einwirkung auf die Charaktere und die äußere Erscheinung nicht, oder wenigstens nur mittelbar, ausüben. Diese Wirkungen führen zur Entstehung von Kulturkreisen, welche über die Grenzen der Rasse, der Sprache und des Volkstums hinweg die einzelnen staatlichen Bildungen mit einander verbinden und zwischen ihnen eine Gemeinsamkeit der Lebensformen und der Anschauungen schaffen. Ihre Entwicklung führt uns unmittelbar in den Verlauf des geschichtlichen Lebens hinein. Die ihnen gemeinsamen Kulturelemente treten selbständig, als etwas geschichtlich Erworbenes, zu der Sonderart des Volkstums hinzu, die sich innerhalb dieser Kulturkreise auch dann ungeschmälert behaupten kann, wenn ein Volk bewußt mit seinen Kulturtraditionen bricht und eine fremde Kultur oder eine fremde Religion übernimmt, wie das am energischsten in neuerer Zeit Japan, aber ähnlich, nur in langsamerem Prozeß das alte Rom oder die christlichen und die islamischen Völker und dann wieder die modernen Völker bei der Rezeption des römischen Rechts getan haben. Allerdings tritt auch bei dieser Entwicklung, namentlich wenn die Übernahme fremden Kulturguts sich allmählich vollzieht oder der Akt der Rezeption der Erinnerung entschwindet, das Streben hervor, die bestehende Kultur als ein Produkt des eigenen Volksgeistes, als spontan geschaffen aufzufassen – eine Tendenz, welche die wissenschaftliche Forschung auch [81] hier vielfach in die Irre geführt hat, z.B. bei der Beurteilung Roms oder der Germanen. Umgekehrt kann eine hochentwickelte Gesamtkultur, wenn eine nivellierende politische Entwicklung, eine Zusammenfassung verschiedener Völker in einem einzigen universellen und entnationalisierten Staat mit ihr Hand in Hand geht, dahin führen, daß das Volkstum der universellen Kultur erliegt und seine Eigenart nur noch als Rudiment fortlebt – so vielfach in den orientalischen und dann in der hellenistischen und der römischen Kultur. Andere Völker dagegen, so die europäischen der Neuzeit, haben es verstanden, in dieser Gesamtkultur ihre geistige und politische Eigenart selbständig zu erhalten und so innerhalb derselben eine Mannigfaltigkeit von Gegensätzen zu schaffen, welche sich gerade durch ihr Ringen mit einander als das kräftigste Förderungsmittel der Kultur erwiesen hat.


Wie die Kulturkreise eine Gemeinschaft der Anschauungen zwischen den einzelnen Staaten, Stämmen, Völkern als Ganzen schaffen, so können sie auch eine weitgehende derartige Gemeinschaft zwischen einzelnen Gruppen innerhalb dieser Verbände erzeugen. Derart ist das über alle staatlichen und Volksgrenzen hinweggreifende Gemeingefühl des Adels (das zur Zeit der Kreuzzüge sogar den Gegensatz der Religionen überbrückt) oder das der Priesterschaft, oder dasjenige, welches die politischen Parteien (Liberale, Reaktionäre, Ultramontane, Sozialdemokraten) der verschiedenen Länder verbindet und zu gegenseitiger Unterstützung und gemeinsamer Aktion veranlaßt.


41. Alle allgemeinen Faktoren wirken auf einen Ausgleich der Gegensätze zwischen den einzelnen Menschengruppen hin, auf die Erzeugung einer Homogenität, eines einheitlichen Typus, einer vollkommenen inneren und äußeren Gleichheit aller Menschen. Ihnen gegenüber stehen die Tendenzen zur Differenzierung, zur Ausbildung der Sonderart jedes einzelnen Verbandes und innerhalb desselben wieder jedes einzelnen Individuums. Die Momente, die in dieser Richtung wirken, vermögen wir nur zum Teil zu erkennen, die gegebenen politischen und kulturellen Sonderverhältnisse, unter denen jeder Verband und jeder Mensch lebt, die geographischen Bedingungen, die äußeren geschichtlichen Einwirkungen, die [82] er erfährt. Aber daneben bleibt als das eigentlich Entscheidende ein Moment, das sich jeder Analyse entzieht: das ist die Art, wie sich ein jeder, der größere oder kleinere Verband und das Volk so gut wie der einzelne Mensch, unter den gegebenen Umständen verhält, wie er in dem Ergreifen oder Verschmähen der in jedem Moment gegebenen Möglichkeiten seine Individualität offenbart, kurz das, was wir als Anlage und Charakter bezeichnen. Das ist etwas, was wir wissenschaftlich niemals weiter erklären können, sondern als etwas schlechthin Gegebenes hinnehmen müssen; und doch ist dieses Individuelle, Singuläre eben dasjenige, was die Eigenart und das innerste Wesen jedes geschichtlichen Vorgangs bestimmt, während die allgemeinen Faktoren nur die Möglichkeiten enthalten, von denen eine einzelne durch das Hinzutreten des individuellen Moments zur Wirklichkeit wird. Eben darauf beruht es, daß wir Geschichte niemals konstruieren, sondern nur als Tatsache erfahren können.

42. Jede Kultur enthält ein zersetzendes Element: sie löst die alten Ordnungen auf, oft genug ohne daß sie im stände wäre, neue dauerhafte zu schaffen, die alte Zucht und Sitte, Gemeinsinn und Widerstandskraft schwinden, die Genüsse, die sie bietet, wirken psychisch und physisch entnervend. So wiederholt sich in den äußeren und inneren Schicksalen der Völker immer von neuem der Kreislauf, in dem bereits der große maurische Historiker IBN CHALDÛN (1332-1406 n. Chr.) die Grundform geschichtlichen Lebens erkannt hat: ein rohes, kräftiges Volk - IBN CHALDÛN kannte nur die Geschichte des Islams und der seinem Bereich angehörenden Wüstenstämme, doch gilt von allen anderen Völkern, die zu höherer Kultur gelangt sind, im Grunde dasselbe – setzt sich in einem Kulturlande fest und schafft eine höhere Kultur oder übernimmt dieselbe von der unterjochten älteren Bevölkerung. Dann entsteht zunächst ein reiches, kräftiges Leben, ein gewaltiger Fortschritt, der von vielen bedeutenden Persönlichkeiten getragen wird. Aber mit der Aneignung der materiellen Kultur machen sich auch ihre zersetzenden [83] Wirkungen geltend; die militärische Kraft und die staatliche Ordnung zerfällt, und so mag das bisher siegreiche Volk schon nach wenigen Generationen einem Nachfolger erliegen, an dem sich alsdann die gleichen Schicksale wiederholen. Ein blind wirkendes Naturgesetz ist das freilich nicht: nicht nur die Gestaltung und die Widerstandskraft des herrschenden Volks und seiner Kultur hängt von den individuellen Faktoren, seiner Begabung, den führenden Persönlichkeiten, und den in jedem geschichtlichen Moment sich kreuzenden Einzelbedingungen (vor allem den politischen Verhält nissen) ab, sondern die Möglichkeit ist vorhanden und gleichfalls zu geschichtlicher Wirklichkeit geworden (vgl. § 40), daß ein Volk die zersetzenden Kulturelemente überwindet und sich trotz derselben behauptet, oder daß es sich von innen heraus regeneriert und zu einer neuen, höheren Blüteepoche fortschreitet.

43. Gerade in diesen Vorgängen tritt neben den allgemeinen Tendenzen menschlicher Entwicklung sowohl die dominierende Bedeutung der zufälligen, im Einzelfalle vorliegenden Bedingungen des geschichtlichen Daseins wie die nicht minder bedeutsame der Individualität hervor. Auf dieser beruht es, daß nur wenige Völker zu höherer Kultur und damit zu vollem geschichtlichen Leben gelangt sind, während weitaus die meisten sich über die niedrigen Stufen des Daseins nicht erhoben haben. Die äußeren Umstände, die geographischen und geschichtlichen Verhältnisse, die Berührung mit entwickelteren Kulturen wirken dabei ein; aber das Entscheidende sind sie nicht. Denn nicht auf den äußeren Bedingungen, sondern auf der Veranlagung und Eigenart der Völker beruht es, daß, um nur wenige Beispiele ins Gedächtnis zu rufen, in Amerika nur in Mexiko und vor allem in Peru sich eine höhere Kultur gebildet hat, bei den übrigen Indianerstämmen dagegen nicht, und ebensowenig bei den Negern Afrikas, oder daß die Araber, und in islamischer Zeit die Mauren eine gewaltige geschichtliche Rolle gespielt haben, dagegen z.B. die Skythen, trotz ganz ähnlicher Bedingungen, nicht, [84] oder daß die Türken trotz aller äußeren Erfolge doch niemals ein selbständiges Kulturvolk geworden sind, wohl aber die Perser sogar dreimal, unter den Achaemeniden, den Saßaniden und im Islam. Das gleiche gilt von der Wirkung einzelner Persönlichkeiten sowohl in der politischen Geschichte wie im Kulturleben. Die Bedingungen zu einer tiefgreifenden Wirksamkeit sind in mannigfachen Variationen immer wieder vorhanden: ob eine Persönlichkeit da ist, die sie ergreifen kann, hängt von Faktoren ab, die sich jeder Erkenntnis entziehen, von der Frage, in welcher Form und daher auch mit welcher Wirkung sie ihr Leben ergreift und gestaltet, d.i. von ihrer Individualität.

44. Im allgemeinen wird, je höher die Kultur ist, desto größer die Summe des Überlieferten, von den vorhergehenden Generationen Erworbenen und zum Gemeinbesitz der Gesamtheit Gewordenen; desto mannigfaltiger aber auch die Aufgaben, welche der Gegenwart gestellt sind, die Möglichkeiten, welche sie in sich beschließt, und desto größer der Spielraum für die freie Betätigung des menschlichen Willens und der Eigenart des Individuums sowohl wie der Gesamtheit jedes sozialen Verbandes. So werden beide zugleich um so gebundener und um so freier. Da kann dann ein Zustand eintreten, wo die freie Bewegung aufhört, wo die von der Kultur geschaffene Homogenität das Übergewicht erhält und die Selbständigkeit des Individuums erstickt, wo das Volk keine ausgeprägten Individualitäten mehr erzeugt oder wenigstens diesen keinen Raum mehr zu tiefgreifender schöpferischer Wirksamkeit gewährt, weil die Wucht der Tradition zu groß geworden ist; alsdann schlägt die Kultur in ihr Gegenteil um und zersetzt sich selbst so, wie sie sich vorher aufgebaut hat. So kann eine Kultur in sich selbst zu Grunde gehen, auch ohne daß sie dem Angriff äußerer Feinde erliegt, wie die antike Kultur im dritten Jahrhundert (denn nicht die Germanen haben sie zerschlagen, sondern sie haben nur das Werk der Zerstörung vollendet, als sie innerlich schon abgestorben war) oder vor unseren Augen die islamische. Eben dadurch aber [85] wird wieder Raum geschaffen für eine neue aufsteigende Entwicklung, welche der Individualität aufs neue Raum schafft. So bewegt sich alles menschliche Leben in dem Ringen der beiden Tendenzen, der ausgleichenden und der individualisierenden; in ihrem ununterbrochenen Konflikt besteht das innerste Wesen der Menschheit. Auf ihrem Widerstreit beruht es, daß die menschlichen Verbände, anders als die tierischen, eine Entwicklung und darum eine Geschichte haben. Käme jemals eine von beiden zu dauernder Alleinherrschaft, sei es die vollendete Anarchie des bellum omnium contra omnes, sei es die absolute Herrschaft einer homogenen, alle individuellen Unterschiede aufhebenden und darum einer weiteren Entwicklung nicht mehr fähigen Kultur, so wäre damit das menschliche Dasein selbst aufgehoben und an Stelle des Menschen eine Rasse getreten, die uns so fremdartig und innerlich so gleichgültig wäre, wie die Gattungen des Tierreichs.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 80-87.
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