Primitives oder mythisches Denken.

Seelen und Geister

[87] 45. Wir haben bisher nur die eine Seite der menschlichen Entwicklung betrachtet, diejenigen Institutionen, die unmittelbar aus den materiellen Bedingungen der Existenz erwachsen und ihnen Ausdruck geben; wir müssen uns jetzt den geistigen Momenten, der Entwicklung des Denkens, der Religion und der Kunst, zuwenden.

Die Grundlage alles menschlichen Denkens, auf der alle Begriffsbildung und alle Sprachbildung beruht, ist der Kausalitätstrieb, der jede Erscheinung als Wirkung einer Ursache aufzufassen zwingt. Auch in der Zerlegung einer Erscheinung in Ding und Eigenschaft und in der elementaren Urteilsbeziehung, der Verbindung von Subjekt und Prädikat, ist ein kausales Element enthalten. Dieser Dualismus ist dem Menschen unmittelbar gegeben. Denn er empfindet in sich selbst eine doppelte Reihe von Vorgängen, die zu einander in kausaler Beziehung stehen: einerseits Bewußtseinsvorgänge des Fühlens, Vorstellens und Wollens, andrerseits von diesen hervorgerufene körperliche Bewegungen, willkürliche Handlungen. Der Dualismus von Körper und Seele ist daher eine ursprüngliche Erfahrung, nicht etwa das Produkt eines wenn auch noch so primitiven Nachdenkens. Das einzige Mittel aber, welches dem Menschen zur Verfügung steht, um äußere Vorgänge begrifflich zu erfassen, ist der Analogieschluß von der eigenen inneren Erfahrung auf die durch die Sinne übermittelten Erscheinungen. So denkt er sich die an anderen lebenden Wesen, Menschen wie Tieren, wahrgenommenen körperlichen Vorgänge (zu denen auch die Mitteilung durch Laute gehört) in gleicher Weise durch seelische Vorgänge[87] hervorgerufen, wie er sie in sich selbst erfährt. Zugleich lehrt die Erfahrung, daß er nicht nur den fremden Körper zwingen kann, wenn er ihn in seine Gewalt gebracht hat, sondern daß er auch auf die fremde Seele und dadurch auf die von dieser hervorgerufenen fremden Handlungen einzuwirken vermag. Daß das möglich ist, wissen bekanntlich auch die Tiere. Denn wenn sie z.B. durch bettelnde Bewegungen, Kunststücke, Töne von einem Menschen eine Gabe oder Liebkosung zu erhalten suchen, erstreben sie offenbar – wenn wir ihre Bewußtseinsvorgänge in unserer Sprache auszudrücken versuchen – nicht eine direkte Einwirkung auf die äußeren Bewegungen, sondern vielmehr auf das innere Agens, das diese veranlassen soll, und das sich ihnen durch das Verhalten und die Sprachlaute des Menschen zu erkennen gibt.

46. Nach dieser Analogie erfaßt das Denken des primitiven Menschen auch die Vorgänge der von uns als leblos vorgestellten Außenwelt, die ununterbrochen noch weit mächtiger und weit unberechenbarer in sein Leben eingreifen als die Menschen, etwa der Häuptling, oder als ein wildes Tier. Auch das sind Handlungen, die durch einen Willensakt mächtiger Gewalten hervorgerufen sind; und diese sind zwar ebensowenig sinnlich erkennbar, aber eben so real wie die eigene Seele und die Seele eines anderen Menschen oder Tieres. Daher ist auch auf sie ebensogut, nur weit schwieriger, eine seelische Einwirkung möglich wie auf diese. Zwar ist es nicht richtig, daß dem primitiven Menschen die Vorstellung des Unbelebten überhaupt fremd sei, d.h. der Begriff von Gegenständen, die lediglich als Objekte, nicht auch als Subjekte mit eigenem, dem seinen entgegenwirkendem Willen, für ihn in Betracht kommen; vielmehr mag er den Stein oder das Holz, das er in der Hand hält, den Ton, den er formt, den Erdboden, über den sein Fluß hinwegschreitet oder in dem er gräbt, sehr wohl als unbelebt, als Sache betrachten. Aber in jedem Augenblick kann von solchen Gegenständen eine Wirkung ausgehen, die als Äußerung eines selbständigen Willens und darum einer Seele erscheint; und alsdann sind [88] sie für ihn eben so lebendig wie Mensch und Tier – und darum zugleich in derselben Weise beeinflußbar wie diese. Der logische Widerspruch, daß derselbe Gegenstand in einem Moment als unbelebt, in dem nächsten als belebt erscheint, kommt für die Psychologie des naturwüchsigen Denkens nicht in Betracht: gilt dem Menschen doch auch das Tier, das er jagt und dessen Fleisch er verzehrt, oder der Feind, den er erschlägt, oft genug lediglich als seelenloses Objekt, obwohl ihm in anderen Momenten die darin sitzenden Seelen und deren Willensakte so wesentlich erscheinen, daß er die Seelen des erschlagenen Menschen oder Tieres zu besänftigen, zu bannen oder zu vernichten sucht. Auch darin stimmt die nach unserer Auffassung leblose Natur mit den lebendigen Wesen überein, daß die Seele keineswegs dauernd und unverbrüchlich mit einem bestimmten Körper verbunden ist. Denn auch die eigene Seele löst sich vom Körper los, nicht nur im Tode, sondern oft genug auch in Träumen, sie kann zu Lebzeiten wie nach dem Tode anderen erscheinen und auf sie einwirken, wie auch uns fremde Seelen in Träumen und Visionen erscheinen. Nicht anders steht es mit den Seelen, die in den Naturobjekten hausen, und ebenso mit denen, welche z.B. Sturm und Regen, Donner und Blitz, Wachstum und Fruchtbarkeit, Krankheit und Tod senden. Nur ist bei diesen die Verbindung mit einem Körper noch weit lockerer; ja zum Teil sind sie überhaupt nicht an einen sichtbaren Leib gebunden, sondern nur an ihren Wirkungen erkennbar. Eben darum sind sie viel mächtiger, aber auch viel schwerer faßbar und beeinflußbar als die der Menschen: und darauf beruht die unendliche Mannigfaltigkeit sowohl der über sie gebildeten Vorstellungen wie der Versuche, ihnen doch irgendwie beizukommen und ihre Aktionen zu Gunsten des Menschen zu beeinflussen. – Auch diese frei in der Welt umgehenden Seelen oder »Geister« kann man sich doch nicht ohne eine ihnen eigentümliche Erscheinungsform vorstellen. Nur ist sie anders geartet als die Körper der materiellen Welt, etwa so wie die Gestalten, die im Traum erscheinen, mit einem Leibe, [89] der zwar gelegentlich einmal sichtbar werden kann, aber nicht greifbar und nicht an die Schranken von Raum und Zeit gebunden ist. So tritt neben die Welt der sinnlich wahrnehmbaren Lebewesen eine zweite, übersinnliche Welt der Geister. Durch ihre Wirkungen greifen diese fortwährend in die Sinnenwelt ein; auch können sie, wenn sie wollen oder durch Zauber gezwungen werden, vorübergehend oder dauernd in diese eintreten, indem sie eine materielle Gestalt annehmen und sich mit einem bestimmten sinnlichen Objekt verbinden, ohne doch dadurch die Fähigkeit der Bewegung in der immateriellen Welt völlig zu verlieren.


Da die Seelenvorstellung keineswegs auf irgend welcher Spekulation, sondern auf einer unmittelbaren Erfahrung be ruht, die mit unserem Bewußtsein gegeben ist, ist die Frage nach ihrem Ursprung völlig müßig. Sie ist so gut eine Voraussetzung des Denkens, mit dem wir die Erfahrung zu begreifen versuchen, wie die Kausalitätsbeziehung. Der durch sie geschaffene Dualismus beherrscht unsere gesamte Sprachbildung und Begriffsbildung; aus ihm sind daher auch alle Anschauungsformen erwachsen, in denen wir die Vorgänge der Außenwelt zu verstehen und begrifflich zu fassen vermögen. Daher enthalten alle Versuche, diesen Dualismus aufzuheben und durch einen Monismus zu ersetzen, einen inneren Widerspruch und müssen notwendig scheitern. Allerdings vermögen wir nicht nur den sprachlichen Ausdruck zu ändern, sondern auch die einzelnen Erscheinungen zu sondern und anders zu klassifizieren, und die unmittelbare Übertragung menschlicher Analogien auf die Naturvorgänge zu beseitigen; und darin besteht der Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens. Aber die Unterscheidung einer äußeren, körperlichen Erscheinungsform und eines inneren, immateriellen Agens in allen Objekten der Erscheinungswelt können wir niemals aufheben, mögen wir sie mit dem primitiven Menschen als Körper und Seele, oder mit der Naturwissenschaft als Stoff (Materie) und Kraft (Energie) auffassen, oder mögen wir, in voller Umkehrung der sinnlichen Erfahrung, annehmen, daß die materielle Welt lediglich ein Sinnenschein ist, den die lebendigen Kräfte [sei es, daß sie in uns, sei es, daß sie außer uns existieren] in uns erzeugen; denn auch alsdann bleibt die materielle Welt eine Wirkung dieser Kräfte und ist daher spezifisch von ihnen unterschieden – und für unser Wahrnehmen ist sie doch die Realität, während die Kräfte zwar als Denknotwendigkeiten vorausgesetzt werden, aber niemals sinnlich wahrnehmbar und faßbar sind. – Große Schwierigkeiten macht die Terminologie, für die eine feste Einigung mit scharf definierten Ausdrücken dringend erfor derlich [90] wäre. Ich verwende »Seele« durchweg zur Bezeichnung des in einem Körper hausenden lebendigen Agens (von dem die menschliche Seele nur einen Einzelfall bildet), »Geist« dagegen zur Bezeichnung eines nicht oder nicht notwendig an einen materiellen Körper gebundenen Wesens, also im Sinne von »Gespenst«, nur daß bei letzterem die Vorstellung eines ephemeren und im Grunde kraftlosen Wesens des niederen Aberglaubens zu sehr dominiert, um es terminologisch verwenden zu können.


47. Die Denkweise des primitiven Menschen bezeichnen wir nach ihrem prägnantesten Ausdruck mit einem von STEINTHAL geprägten Terminus als mythisches Denken. Auch dieses steht natürlich unter den allgemeinen, logischen Formen, die den Denkprozeß beherrschen; es versucht wie das entwickelte Denken die einzelnen Eindrücke zu begreifen und einer Regel unterzuordnen. Denn da jede Begriffsbildung in sich schon, wenn auch völlig unbewußt, eine Regel enthält, wird auch das primitivste Denken, sobald die Aufmerksamkeit auf ein (reales oder fingiertes) Objekt gelenkt ist, gezwungen, diese Regel aufzusuchen. Aber von dem Denken des entwickelten Menschen unterscheidet sich das mythische Denken dadurch, daß es immer nur von dem unmittelbaren Interesse beherrscht ist, vor allem von dem Einfluß, den ein Vorgang auf den Menschen selbst übt oder doch üben könnte, und daher am Einzelnen und Sinnfälligen haftet, daß es sofort die Ursache jeder Wirkung zu erfassen sucht und dabei ständig mit direkter Übertragung menschlicher Analogien operiert, und daß es sich daher mit den naivsten Erklärungen begnügt, wenn sie nur auf die Frage nach der Ursache eine Antwort geben. Konsequenz und logische Analyse liegen ihm völlig fern, die widersprechendsten Anschauungen und Deutungen stehen unvermittelt neben einander; systematische Ordnung kennt es nur so weit, als sie sich aus den grundlegenden Denkformen unmittelbar ergibt oder aus einem Triebe zu einer gewissen Abrundung der Vorstellungen erwächst, der namentlich in der Verwendung einfacher Zahlen (2, 3, 5, 7, 10, 12) seine Befriedigung findet. Mit diesem mythischen Denken werden alle Vorfälle des Lebens und alle Erscheinungen der Natur [91] erfaßt; aus ihm erwächst eine Fülle erklärender, ätiologischer Vorstellungen und Erzählungen, die sich von Generation zu Generation forterben. Durch die gestaltende Kraft der Phantasie (§ 95) erhalten sie dann ein selbständiges Leben, in dem sie sich weit über ihre ursprüngliche Bedeutung hinaus fortentwickeln können. Immer haftet ihnen zugleich etwas Unheimliches an, da sie eben von der Wirksamkeit der geheimnisvoll in den Objekten hausenden Seelen und der überall in der Welt umgehenden Geister berichten. Manche dieser Erzählungen sind einem naiven Erkenntnistrieb oder auch der Lust zu fabulieren entsprungen, oder wenigstens in der Gestalt, in der sie uns bekannt werden, ganz von diesen beherrscht – z.B. Erzählungen von dem Ursprung der Welt oder eines Tiers oder des ersten Menschen oder etwa von einer großen Flut, die einmal die Erde weithin überschwemmte. Aber dominierend ist durchaus das praktische Bedürfnis: wie man, um auf einen Menschen zu wirken, etwa beim Häuptling Gnade und Gunst zu gewinnen, seinen Namen, seine Eigenart, seine Bedürfnisse und Schicksale kennen muß, so gewährt das Wissen um die Seelen und Geister die Möglichkeit, auf sie einzuwirken, sie den eigenen Zwecken dienstbar zu machen, und dadurch Leben und Gedeihen zu sichern, durch persönliche Beziehungen zu den Mächten der Außenwelt, von denen die Existenz des Menschen abhängig ist, entscheidenden Einfluß auf sie zu gewinnen. Auf diesen Anschauungen beruht es, daß das Zauberwesen das Handeln und Denken aller primitiven Völker beherrscht und sich in mannigfachen Überresten und Nachwirkungen, ebenso wie das mythische Denken, bis in die höchsten Kulturen hinein erhalten hat; und aus diesem Zauberwesen ist wieder der Kreis von Anschauungen und Bräuchen erwachsen, den wir unter dem Namen der Religion zusammenfassen.


Für ein richtiges Verständnis der religiösen Entwicklung ist es dringend geboten, daß man scharf scheidet zwischen 1. ihrer psychologischen Grundlage, dem mythischen Denken, und den daraus erwachsenen Mythen (und ihrem Nachleben in Märchen u.ä.), 2. dem darauf [92] beruhenden Zauber wesen, d.h. den zwischen Menschen und Geistern für den einzelnen Moment geschaffenen Beziehungen, und 3. der Religion, d.h. den aus dem mythischen Denken und dem Zauberwesen entwickelten geregelten Anschauungen, welche die Geister in Götter umwandelt und eine geregelte Beziehung zwischen diesen und den Menschen schafft. SCHLEIERMACHERS bekannte Definition der Religion als schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls ist viel zu vag und läßt das entscheidende Moment aus: sie gibt nur die Voraussetzung, aus der die Religion erwächst, nicht das Wesen der Religion selbst. Dies besteht vielmehr in dem persönlichen Verhältnis, in das eine Menschengruppe und der einzelne Mensch zu den Mächten tritt, von denen er sich abhängig fühlt, in der unmittelbaren und unmittelbar wirksamen Verbindung, die zwischen ihnen geschaffen wird und die daher nicht momentan, sondern dauernd und unauflösbar ist. Sie faßt daher diese Mächte als Willensmächte, wenn auch in den fortgeschrittenen Religionen noch so sehr in einer ins Übermenschliche und Unbegreifliche gesteigerten Form. Darin besteht der Unterschied zwischen dem Gott und der Kraft: zu Kraft und Stoff kann der Mensch eben nicht in ein religiöses Verhältnis treten, so sehr er sich von ihnen abhängig fühlt, es sei denn, daß er die Kraft in eine (bewußte oder unbewußte) Willenskraft umsetzt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 87-93.
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