Ausbreitung und Herkunft der arischen Stämme

[898] 573. Wir haben bereits gesehen, daß arische Stämme und Götter im fünfzehnten Jahrhundert bei den Mitani im nordwestlichen Mesopotamien und weiter in Syrien auftauchen, und daß wahrscheinlich schon ein bis zwei Jahrhunderte früher arische Scharen in diese Gebiete eingedrungen sind und arische Dynastien gegründet haben (§§ 455. 468). Auch bei den Kossaeern, die im achtzehnten Jahrhundert aus dem Zagrosgebirge in Sinear eingedrungen sind, sind arische Einflüsse erkennbar, vor allem in dem Gottesnamen Šuriaš = arisch sûrja »Sonne« (§ 456). Etwa um dieselbe Zeit saß der östliche Zweig der Arier, die späteren Inder, bereits im Lande der »sieben Ströme«, d.i. des Indus, der fünf Flüsse des Pendschâb, und des Kabûlflusses; denn hier bildet der Hindukusch die Grenze der Iranier, die südöstlich von diesem im Kabûlgebiet sitzenden Stämme, vor allem die Gandhârer, gehören schon zu den Indern. Nach Osten reichten die Sitze der Inder bereits darüber hinaus bis zur Jamunâ und dem oberen Ganges. In diesen Landschaften sind die religiösen Hymnen entstanden, die uns in der Sammlung der Veden erhalten sind. Ein positives Datum für ihre Entstehungszeit besitzen wir allerdings nicht; aber nach den Rückschlüssen, welche die weitere Entwicklung der Sprache, Religion und Kultur Indiens gestattet, können die ältesten dieser Hymnen nicht wohl später als um 1500 v. Chr. entstanden sein. Auch von hier aus ergibt sich mithin, daß das erste Auftreten der Arier in den später von ihnen bewohnten Ländern mehrere Jahrhunderte früher, spätestens bald nach 2000 v. Chr., angesetzt werden muß.


Im allgemeinen s. meinen § 455 A. zitierten Aufsatz über die ältesten datierten Zeugnisse der iranischen Sprache in der Z. f. vgl. Sprachf. XLII, 1908. – Der Versuch von H. JACOBI (im Festgruß an ROTH, und Nachr. Gött. Ges., phil. Cl. 1894), aus kalendarisch-astronomischen Angaben ein wesentlich höheres Alter des Veda zu erweisen, [899] ist nicht haltbar, s. die eingehende Diskussion zwischen OLDENBERG und JACOBI in ZDMG. 48, 629. 49, 218. 470. 50, 69. 450. Auch WHITNEY und THIBAUT haben sich gegen JACOBI erklärt.


574. In geschichtlicher Zeit sind die arischen Stämme in zwei große Gruppen geschieden, die Inder und die Iranier, die beide in zahlreiche Einzelstämme zerfallen, aber sich in ihrer sprachlichen wie in ihrer kulturellen und religiösen Entwicklung bestimmt von einander scheiden. Den charakteristischen sprachlichen Unterschied bildet, daß s vor und zwischen Vokalen in den iranischen Dialekten in h übergegangen ist. Die mitanischen und in Syrien vorkommenden arischen Namen kennen diesen Wandel noch nicht, ebensowenig der kossaeische Šuriaš, obwohl die Personennamen zum Teil spezifisch iranisches Gepräge tragen (z.B. arta-, nicht rta- wie im Indischen); ohnehin wird man hier, im äußersten Westen des arischen Gebiets, keine Inder suchen. Somit scheint es, daß dieser Lautwandel im Iranischen erst später aufgekommen ist. Überhaupt hat sich die Scheidung zwischen Indern und Iraniern erst relativ spät herausgebildet: sie beruht zwar zum Teil auf dem Wohnsitz, durch den die Stämme sich schieden und auch sprachlich ihre eigenen Wege gingen, in noch viel höherem Maße aber auf kulturellen und religiösen Momenten, auf einer Differenzierung der Denkweise, die den iranischen wie den indischen Stämmen eine charakteristische Richtung des Geistes gab und ihre Entwicklung in ganz verschiedene Bahnen gelenkt hat. Aber die beiden Äste sind nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich aus einer gemeinsamen Wurzel erwachsen; vor der Zeit der Einzelvölker liegt die einheitliche arische Periode, in der das arische Volk bereits in weit höherem Grade als die Indogermanen einen bestimmt ausgeprägten Charakter und eine höchst eigenartige Kultur gewonnen hat. Durch Ermittlung dessen, was Indern und Iraniern gemeinsam ist, läßt sich für diese arische Periode ein reiches Material gewinnen, welches sie geschichtlich zu erfassen gestattet; und die arischen Personen- und Götternamen, welche wir jetzt in Mitani und Syrien kennen gelernt [900] haben, können als urkundliche Zeugen dieser arischen Periode betrachtet werden.

575. Über die Richtung des Weges, der die Arier in ihre späteren Wohnsitze geführt hat, kann ernstlich kaum Zweifel bestehen. Allerdings ist neuerdings mehrfach die Ansicht aufgestellt worden, die Arier seien von Europa, der supponierten Urheimat der Indogermanen, durch die Kaukasuspässe nach Medien (und gleichzeitig nach Mesopotamien) und von hier weiter nach Osten gezogen. Indessen dieser Weg hätte sie zunächst in die Gebirge Armeniens und Nordmediens geführt; hier aber sitzen, wie wir gesehen haben, durchweg nichtarische Stämme. Dagegen können wir das Vordringen der arischen Meder von der zentralen Hochebene Irans aus gegen die Gebirgsländer und das Eindringen arischer Elemente bei den älteren Stämmen an der Hand der assyrischen Nachrichten seit dem Ende des neunten Jahrhunderts noch teilweise verfolgen. Ebenso drängen die Perser nach Westen, und die Kurden (griech. Κύρτιοι), die später in den Zagrosketten sich immer weiter ausgedehnt haben und gegenwärtig hier und in Südarmenien das vorherrschende Volk geworden sind, sind gleichfalls erst in relativ später geschichtlicher Zeit von Osten her vorgedrungen. Überdies würde bei einer Einwanderung über den Kaukasus und Armenien das große Volk der arischen Inder bis in seine geschichtlichen Wohnsitze einen so weiten und unwahrscheinlichen Weg zurückgelegt haben müssen, daß diese Annahme schon daran scheitert. Daß die Richtung aller iranischen Wanderungen, von denen wir geschichtliche Kunde haben, von Ost nach West geht, nicht von West nach Ost, haben wir schon gesehen (§ 568); die gleiche Richtung müssen wir auch für die älteren Wanderzüge annehmen. Das führt darauf hin, daß der Ausgang der Bewegung in dem gewaltigen Bergland zu suchen ist, das sich um das Pamirplateau lagert und von hier aus nach Westen die sogdischen Gebirge und den Hindukusch, nach Osten den Tianschan und den Himâlaja nebst den Gebirgen von Kaschmir entsendet; die großen Ströme, die in diesem Gebiet ihren [901] Ursprung nehmen, der Jaxartes und der Oxus und weiter südlich der Etymander, dann der Indus mit seinen Nebenflüssen und die Flüsse des Tarymbeckens, weisen nach allen Richtungen hin den Weg. Alsdann würde der eine Teil der Arier, die Inder, von hier aus nach Süden gezogen sein, ins Pendschâb und ins Kabultal, während andere Stämme sich teils in den Tälern von Baktrien und Sogdiana sowie Arachosien (Afghanistan) festsetzten, teils über die Landbrücke von Chorasân weiter nach Westen vordrangen, und die nomadischen Stämme sich in der iranischen Wüste und vor allem in der aralo-kaspischen (turanischen) Steppe ausbreiteten.


Über den Kaukasus lassen z.B. HOMMEL und HIRT (Die Indogermanen I 118) die Arier einwandern, während PRAŠEK in dem gänzlich unzulänglichen Werk: Geschichte der Meder und Perser I, 1906, die Westiranier über den Kaukasus, die Ostiranier und die Inder dagegen durch Turkestan und Ostbaktrien ziehen läßt. – Daß die Kurden nicht, wie früher allgemein angenommen wurde, mit den Karduchen (Gordyenern, Qardû, mit der armenischen Pluralendung –q) identisch sind, sondern bei den Griechen Κύρτιοι heißen (Polyb. V 52, 5; Liv. 37, 40, 9. 42, 58, 13; Dellius bei Strabo XI 13, 3. XV 3, 1, in Medien und Persis), haben M. HARTMANN, Bohtân, Mitt. Vorderas. Ges. 1897, 90ff. und NÖLDEKE, Kardû und Kurden, in der Festschrift für KIEPERT 1899, 73ff. gezeigt.


576. Zu dieser Annahme stimmt alles, was wir durch Rückschlüsse aus der Kultur der Einzelvölker über die Wohnsitze der arischen Stämme zur Zeit der Volkseinheit ermitteln können. Sie haben in einem gebirgigen Lande gewohnt, sie haben Pferde besessen, sowohl als Reittiere wie am Wagen, sie-oder wenigstens diejenigen Stämme unter ihnen, die Träger der Kulturentwicklung wurden-haben Ackerbau und vor allem Rinderzucht betrieben. Das schließt die reinen Steppengebiete und die Wüste und ebenso flache Ebenen aus, führt aber im übrigen nicht weiter. Am bedeutsamsten ist, daß auf den Bergen ihres Landes eine Pflanze wuchs, aus deren Stengeln man durch Auspressen einen berauschenden Trank herzustellen verstand, den Soma; dieses Getränk ist neben oder an Stelle des bei allen Indogermanen, auch den [902] Ariern, vorkommenden, schon der Urzeit angehörigen Meths (medhu) getreten, eines aus Honig bereiteten, gleichfalls berauschenden Getränks. Der Soma hat in Kultur und Religion der arischen Zeit geradezu eine führende Rolle gespielt (§ 584), und ist bei den Indern zur Zeit der vedischen Hymnen wenigstens von den Vornehmen noch in großen Massen getrunken worden; und ebenso müssen ihn nach dem Zeugnis des Awesta die Iranier noch gekannt haben. Später wird er zwar im Kult beibehalten (und durch Surrogate ersetzt), verschwindet aber aus dem praktischen Leben, da die Pflanze eben in den späteren Wohnsitzen der beiden Völker nicht mehr vorkam. Nach den Angaben des Awesta wird er auf den Gipfeln und in den Schluchten der Berge gewonnen, speziell auf der Hara berezaiti oder Haraithi, dem gewaltigen Gebirge im Osten, auf dem die Lichtgötter ihren Sitz haben; die vedischen Inder bezogen ihn durch Handel vor allem aus dem Berglande östlich vom Pendschâb, zwischen diesem und dem Gangesgebiet. Genauer bestimmt und wiedergefunden ist die Pflanze noch nicht; die angeführten Daten weisen auf den westlichen Himâlaja und die baktrischen Berglande hin. So wird die alte Annahme wohl richtig sein, daß die Arier von hier ausgegangen sind. Ihre Ausbreitung ist alsdann der der Indoskythen (vgl. § 569) und der der türkischen Stämme im wesentlichen analog verlaufen.


Über den Soma s.R. ROTH, ZDMG. 35, 680ff., vgl. 38, 134ff., wonach eine ihm entsprechende Pflanze in dem Lande zwischen Oxus und Jaxartes jetzt nicht zu finden ist; über die indischen Angaben HILLEBRANDT, Vedische Mythol. I 1ff. PISCHEL in PISCHEL und GELDNER, Vedische Studien II 217ff., vgl. 210. Über Hara berezaiti GEIGER, Ostiranische Kultur 42ff. 153; später ist der Name (in moderner Form Elburz) auf das Gebirge im Süden des Kaspischen Meers übertragen. Sowohl HILLEBRANDT, l.c. 143ff., wie OLDENBERG, Rel. des Veda 368, nehmen an, daß der Soma schon zur vedischen Zeit aus dem Volksgebrauch geschwunden war, während das populäre berauschende Getränk die surâ, iran. hura war. Das kann ich natürlich nicht beurteilen; aber die Schilderungen der Wirkung des Soma auf die Götter scheinen mir undenkbar, wenn die Dichter sie nicht auch selbst noch im Leben erfahren hatten.



Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 898-904.
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