Die Folgen der Schlacht. Iasons Ausgang

[402] Die Schlacht bei Leuktra, am 5. Hekatombäon (5. August) 371 v. Chr., hat die Grundlage der bisherigen Gestaltung der griechischen Welt umgestoßen. Drei Wochen, nachdem Sparta, noch einmal als der mächtigste Staat von Hellas anerkannt, von Theben die Unterwerfung unter seinen Willen gefordert hatte, war der vernichtende Schlag erfolgt. Sparta besaß nicht die Mittel, ihn wieder auszugleichen. Der Verlust von 400 Bürgern, so schwer ihn der menschenarme Staat empfand, war doch nicht das Schlimmste; entscheidend war, daß der Ruf seiner Unüberwindlichkeit gebrochen war, dem allein es den Gehorsam all der anderen Staaten verdankte, die ihm an Volkszahl und an materiellen Mitteln vielfach weit überlegen waren. Die Politik der letzten Jahrzehnte, welche jeden großen Kampf vermied und durch kleine Mittel und [403] diplomatischen Druck zum Ziel zu gelangen suchte, hatte sich als allein berechtigt erwiesen. Jetzt erhob sich an Spartas Stelle eine neue Militärmacht in dem bisher allgemein mit Geringschätzung behandelten böotischen Staate. – Freilich verging noch einige Zeit, bis den Menschen die totale Umwandlung der Lage zu vollem Bewußtsein kam und sich alle Konsequenzen der Schlacht entwickelten. Sparta machte auf die Kunde von der Niederlage den Rest seines Heeres mobil, zwei Moren und dazu die ältesten Jahrgänge vom 55. bis zum 60. Jahr, die bisher nicht mit ins Feld gerückt waren. Die Führung übernahm, da Agesilaos noch immer invalide war, sein Sohn Archidamos. Auch die Peloponnesier leisteten noch in alter Weise Heeresfolge. Archidamos rückte bis an die Nordgrenze des megarischen Gebiets vor, um dem Heere, das sich noch in dem Lager von Leuktra hielt, die Hand zu bieten; Korinth und Sikyon rüsteten Schiffe, um ihn über das Meer zu führen. – Die Thebaner hatten gleich vom Schlachtfeld Boten mit der Siegesnachricht an Athen und an Iason entsandt, die schleunige Bundeshilfe fordern sollten: jetzt sei der Moment gekommen, Sparta seine Taten heimzuzahlen. In Athen war man bitter enttäuscht; unter Kallistratos' Leitung war der Staat ganz ins spartanische Fahrwasser eingelenkt und hatte eine gründliche Demütigung der Thebaner mit Freuden erwartet. So machte man aus der Enttäuschung kein Hehl; der thebanische Herold wurde aufs unfreundlichste abgewiesen. Um so bereitwilliger war Iason; er rückte sofort mit starker Macht in Böotien ein und machte zugleich seine Flotte mobil. Die Thebaner forderten einen gemeinsamen Angriff auf die spartanische Stellung; das lehnte er ab: man solle die Gegner nicht zu einem Verzweiflungskampf zwingen, dessen Ausgang niemand absehen könne; er wollte Sparta als Gegengewicht gegen Theben erhalten, um beide um so sicherer zu beherrschen. So bot er den Spartanern seine Vermittlung an; und diese sahen ein, daß sie nichts mehr ausrichten konnten. Unter dem Schutze eines Waffenstillstands zog das Heer von Leuktra über den Kithäron ab zu Archidamos, und dieser führte die gesamte Armee in die Heimat zurück696.

[404] So schien es, als ob der Gewinn des Sieges anstelle des Siegers dem Herzog von Thessalien zufallen werde. Auf dem Rückmarsch verwüstete Iason das Land der Phoker, der alten Feinde seines Volks, und besetzte die spartanische Zwingburg Heraklea Trachinia, deren Truppen bei Leuktra für Sparta gefochten hatten. Die Mauern wurden niedergelegt, die Stadt den Ötäern und Maliern übergeben. Dann zwang er die Perrhäber an der Nordgrenze Thessaliens, seine Oberhoheit anzuerkennen; und auch König Amyntas von Makedonien blieb jetzt nichts mehr übrig, als sich seiner Suprematie durch Abschluß eines Bündnisses zu fügen697, wie schon seit Jahren die Fürsten und Stämme von Epirus. Damit war der Norden ihm botmäßig; die Zeit war gekommen, wo er seine Hand auf den Hauptteil der griechischen Welt legen konnte. Für die nächsten Pythien, im September 370, kündete er sein Erscheinen in Delphi an; er selbst wollte die Leitung der Spiele übernehmen, der gesamte Heerbann Thessaliens sollte ihm folgen. Bereits wurden riesige Massen von Opfertieren zusammengetrieben. Mit banger Erwartung sah man der weiteren Entwicklung entgegen; auch die reichen Schätze des Tempels, so glaubte man, werde er sich aneignen, und nirgends war eine Macht, die ihm hätte wehren können. Da wurde er bei einer Heerschau in Pherä von sieben jungen Leuten erschlagen698. Wer der Anstifter war, ist nicht festgestellt; der Verdacht ruhte auf seinem Bruder Polydoros, dessen reiche Schätze der Herrscher sich, wie die aller seiner Verwandten, zunutze gemacht hatte. Mit Iasons Tode brach seine Macht zusammen; seine Erben (u. S. 425) waren Despoten gewöhnlichen Schlages, welche die Herrschaft zu genießen und die ihnen drohenden Gefahren zu ersticken trachteten, aber einen auf höhere Ziele gerichteten Ehrgeiz nicht kannten. – Die griechische Welt atmete auf, als die Kunde von Iasons Tode kam; die Städte überhäuften seine Mörder mit Ehren. Der altgewohnte Hader, dem er vielleicht ein Ende gemacht hätte, konnte wieder beginnen. Jetzt [405] war es für Theben möglich, die Folgen des Sieges für sich zu gewinnen. Aus Thespiä wurden die Spartanerfreunde verjagt699, Orchomenos, die einzige noch selbständige Stadt Böotiens, zwar nicht dem Gesamtstaat einverleibt, aber zum Bündnis gezwungen – härtere Maßregeln hat Epaminondas verhindert700. Dann dehnte Theben seine Suprematie über ganz Mittelgriechenland aus. Die Lokrer von Opus und die Ozoler, die Phoker, die jetzt den Schutz Spartas gegen ihre Feinde verloren hatten, weiter, offenbar erst nach Iasons Tod, die Malier, Herakleoten, Änianen, ferner die Städte Euböas und Akarnaniens schlossen mit Theben Verträge ab, durch die die Kontrahenten sich zu gegenseitiger Hilfsleistung im Fall eines feindlichen Angriffs verpflichteten. Gegen Ende 370 erstreckte sich Thebens Macht über ganz Mittelgriechenland mit Ausschluß von Attika und Ätollen701. Formell hielt sich der neue thebanische Bund genau wie der athenische in den Grenzen des Königsfriedens; er war eine Defensivallianz wie dieser. Auch ein Synedrion der Bundesgenossen tagte jetzt in Theben ganz wie in Athen und faßte mit dem Böoterstaat zusammen Beschlüsse ab, welche die Einzelstaaten banden. Daher konnten dem Namen nach beide Bünde sehr gut nebeneinander bestehen, da keiner von beiden formell zur Teilnahme an Angriffskriegen verpflichtete, ja diese der Idee nach perhorreszierte702. Tatsächlich freilich hatte Athen durch sein Verhalten nach der Schlacht bei Leuktra den Bund mit Theben [406] bereits gebrochen; und so war auch der Übertritt der Euböer und Akarnanen zu Theben faktisch ein Abfall von Athen. Für die praktische Politik wandelte sich der thebanische Defensivbund ganz wie der athenische sofort um in eine Allianz, welche die Kräfte der schwächeren Staaten den Böotern unbedingt zur Verfügung stellte, solange diese die Macht besaßen, sie zu zwingen. – Zu Thessalien bestanden die freundschaftlichen Beziehungen zunächst auch nach Iasons Tode fort; Theben erhielt von hier Zuzug von Reitern und Peltasten beim Zuge in den Peloponnes.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 402-407.
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