Jüdische Quellenkunde

[10] Von der jüdischen Literatur vom Exil abwärts sind uns sehr bedeutende Überreste erhalten: die Schrift Ezechiels, Deutero- und Tritojesaja, die Propheten der Perserzeit (Haggai, Zacharja, Maleachi, an die Obadja und weiter Joel anschließen), ferner eine Reihe pseudonymer Prophetien und Eschatologien in den Büchern Jesaja, Jeremia, Zacharja, sodann das Gesetz in seinen verschiedenen Schichtungen, schließlich die gesamte, auf Grund des Gesetzes erwachsene Sammlung der Hagiographen, mit deren Legendenbüchern (Chronik, Ruth, Esther) auch das unter die Propheten geratene Buch Jona auf gleicher Linie steht. Eigentlich historische Schriften dagegen hat die in äußerer Gleichförmigkeit verlaufende Epoche nicht hervorgebracht. Nur Ezra und Nehemia haben jeder seine Taten für die Sache Gottes und der Gemeinde in einer memoirenartigen Schrift dargestellt. Außerdem besaß man eine Anzahl Urkunden: ein Verzeichnis der aus dem Exil zurückgekehrten Geschlechter und ihrer Kopfzahl, das Nehemia in seine Schrift aufgenommen hat; den Bericht des Satrapen von Syrien über den Tempelbau an Darius I. und dessen Antwort darauf; eine Beschwerde des Statthalters von Samaria über den Mauerbau von Jerusalem an Artaxerxes I. und das von diesem verhängte Verbot desselben [eine ähnliche Beschwerde unter Xerxes Ezra 4, 6 ist uns nicht mehr erhalten]; endlich die von Ezra selbst mitgeteilte Vollmacht, die der König ihm gegeben hat. Dieses Material ist, wie es scheint am Ausgang der persischen Zeit (Neh. 12, 22), in einem kurzen, zum Teil aramäisch geschriebenen Geschichtswerk [11] zusammengestellt, dem »Buch der Tagesereignisse« (Neh. 12, 23); auch ein wenigstens in seinen älteren Teilen ganz unbrauchbares Verzeichnis der Häupter der Priester-und Levitengeschlechter (teilweise erhalten Neh. 12, 1-26) mit einer Liste der Hohenpriester (v. 10f.) war darin aufgenommen. Dieses Buch ist ein oder anderthalb Jahrhunderte später von dem Leviten, der die erhaltenen Bücher der »Chronik« verfaßt hat, als unmittelbare Fortsetzung der Chronik überarbeitet worden; so sind die uns erhaltenen Bücher Ezra und Nehemia (ursprünglich als ein Buch gezählt) entstanden6. Es gibt von ihnen außerdem noch eine sekundäre griechische Bearbeitung, das sog. erste (dritte) Ezrabuch, welches alles auf Nehemia Bezügliche ausscheidet und über Zerubabel eine spätere Legende einfügt. Durch die wiederholte Überarbeitung sind die Auszüge aus Nehemias und namentlich aus Ezras Schrift oft gekürzt und entstellt; die Urkunden sind ziemlich intakt geblieben. Von Eigenem hat der Chronist eine Ausmalung der Rückkehr und des Tempelbaus unter Kyros (Ezra 1, 1-4, 5) und mit Benutzung einer älteren aber wertlosen Vorlage ein Verzeichnis der Bewohner Jerusalems und der Landorte (Neh. 11, 3-19, 21-36 = Chron. I 9), sowie einzelne zerstreute Zusätze hinzugefügt, ferner, weil er die Angaben über den Mauerbau auf den Tempelbau bezog, die Urkunden darüber Ezra 4, 6-23 vor den Tempelbau unter Darius gestellt. – Auch in den angeblich auf die vorexilische Zeit, tatsächlich auf die Gegenwart des Verfassers bezüglichen Geschlechtslisten der Chronik finden sich einige für die jüdische Geschichte brauchbare Angaben (s.u. S. 201,1): die Liste der 24 Priestergeschlechter Chron. I 24 dagegen stammt erst aus makkabäischer Zeit. – Josephus hat außer ein paar Angaben über den Ausgang der persischen Zeit (s.u. S. 199. 202) nichts Neues zu geben vermocht, sondern lediglich die biblischen Berichte entstellend überarbeitet. – Ein historisches Verständnis der nachexilischen Zeit und der Entstehung des Judentums konnte erst erreicht werden, als erwiesen [12] war, daß das Gesetz des Priesterkodex und die ganze darauf ruhende Literatur eine Schöpfung dieser Zeit ist. Von dieser Grundlage aus hat zuerst B. STADE eingehend und grundlegend die Geschichte dieser Zeit behandelt; dann kürzer, mit scharfer Charakterisierung der wichtigsten Momente J. WELLHAUSEN. Nur ist auch in diesen Werken der allgemeine historische Hintergrund nicht immer genügend berücksichtigt. In anderen Darstellungen vollends, gelegentlich selbst in SMENDS »Religionsgeschichte«, tritt der religiös-theologische Gesichtspunkt mehr in den Vordergrund und finden die materiellen Zustände, die sich hinter den geistigen Problemen verbergen und aus denen diese vielfach erst erwachsen sind, weniger Berücksichtigung, als dem Historiker zulässig ist. Von der anderen Seite hat, namentlich durch KOSTERS, eine skeptische Auffassung weite Verbreitung gefunden, welche die Urkunden für unecht hält, die Rückkehr aus dem Exil unter Kyros leugnet, den Tempelbau für ein Werk der in Palästina gebliebenen Juden erklärt. Diese Umkehrung aller Überlieferung habe ich in meinem Buch über die Entstehung des Judentums widerlegt7. Nach der Auffindung der Papyri von Elephantine kann an der Echtheit der Urkunden kein Zweifel mehr bestehen8.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 10-14.
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