Der Peloponnesische Krieg

[245] Mit dem Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs erreichen wir die Zeit, wo die gleichzeitige Geschichtsschreibung beginnt. Sie ist die Schöpfung des Thukydides. Gleich beim Beginn des Kriegs hat er den Plan gefaßt, die großen Kämpfe, die bevorstanden, in authentischer Form zur Darstellung zu bringen; zweifellos hat er große Partien seines Werks gleich nach den Ereignissen, sobald er die Informationen gesammelt und gesichtet hatte, im wesentlichen in der Fassung niedergeschrieben, in der sie auf uns gekommen sind, wenn er auch im Fortgang seiner Forschungen manches wieder und wieder rektifizieren und umschreiben mochte. Aber zum Abschluß konnte er nicht gelangen, als es 421 wieder Friede wurde; denn dieser Friede war kein Abschluß, sondern nur die Quelle neuer Verwicklungen, das große historische Problem war nicht gelöst, sondern seine Lösung nur verschoben. So fuhr er fort, das Material zu sammeln; das Exil, in dem er seit 424 lebte, gewährte ihm die Möglichkeit, auch von den Gegnern [245] Athens Nachrichten einzuziehen, den Schauplatz der Begebenheiten, namentlich des großen sizilischen Kriegs, selbst aufzusuchen. Als dann der Krieg sich zum Entscheidungskampf zuspitzte und mit der Vernichtung der Macht Athens endete, schlossen sich ihm die 27 Jahre seit dem Ausbruch des Archidamischen Kriegs zu einem einzigen großen Ringen, zu »dem Krieg der Peloponnesier und. Athener« zusammen, bei dem es sich um die Behauptung der Machtstellung Athens handelte. Von diesem Gesichtspunkt aus hat er, jetzt wieder in Athen lebend, wohin ihm der Ausgang des Kriegs die Rückkehr gewährt hatte (V 26), die Ausarbeitung seiner Materialien begonnen. Aber zum Abschluß ist er nicht gelangt; als er die Geschichte des Sommers 411 fast vollendet hatte, ist ihm die Feder entsunken (nach 399 v. Chr., s. II 100). Aus seinem Nachlaß ist sein Werk herausgegeben worden, soweit es vollendet war, ohne irgendwelchen Eingriff eines Redaktors; das Material, das er für die folgenden Jahre gesammelt hatte, ist unbeachtet zugrunde gegangen. Was veröffentlicht wurde, ist im Sinne des Autors vollkommen abgeschlossen und zur Veröffentlichung fertig – was natürlich nicht ausschließt, daß er beim Fortschritt seiner Arbeit hier und da noch Änderungen oder Berichtigungen hätte vornehmen können. Durchweg ist das Werk eine vollkommene Einheit, beherrscht von der Auffassung des einen siebenundzwanzigjährigen Kriegs, geschrieben vom Standpunkt des Falles Athens aus, wenn auch hier und da (so zweifellos IV 48, 5) aus den älteren Entwürfen eine Wendung stehengeblieben sein mag, die sich mit diesem Standpunkt nicht vertrug und die der Autor bei der abschließenden Ausarbeitung übersehen hatte304.

[246] Die Aufgabe, den Hergang der gleichzeitigen Ereignisse festzustellen, aus den Berichten der Handelnden zu ermitteln, wie sie wirklich zustande gekommen und verlaufen waren, hat Thukydides nicht nur die Grundsätze der Kritik der widerspruchsvollen Überlieferung erschlossen, sondern in engstem Zusammenhang damit auch den Einblick in die wirkenden Faktoren alles geschichtlichen Lebens. Auf diesen beiden Momenten zusammen beruht die historische Kritik, durch die die Geschichtsschreibung zu einer Wissen schaft erhoben wird, in scharfem Gegensatz zu den Älteren, welche die Traditionen zusammenstellten und nach subjektivem Ermessen, nach der Methode des Rationalismus und nach dem, was ihnen wahrscheinlich dünkte oder nicht, annahmen oder verwarfen oder korrigierten, und den historischen Vorgang auf eine unbestimmte Masse natürlicher und übernatürlicher Faktoren zurückführten, [247] die sich in der Regel der Erkenntnis vollständig entzogen. Thukydides' ganzes Wesen geht auf in dieser Erkenntnis: in jedem Wort, das er schreibt, kommt sie zum Ausdruck. Er versucht, dem Leser überall die Ereignisse, die er erzählt, unmittelbar vorzuführen, sie auf ihn wirken zu lassen, als ob er sie selbst erlebe, ohne das Medium des darstellenden Historikers. Er soll zu den Begebenheiten stehen wie ein Zeitgenosse, freilich nicht wie ein wirklich an ihnen Beteiligter, der, mag er geistig und politisch noch so hoch stehen, doch immer nur einen Teil der Vorgänge und der wirksamen Momente zu übersehen vermag und in seinem Urteil durch die Leidenschaften des Tages notwendig beeinflußt ist, sondern wie ein idealer Zeitgenosse, der den gesamten Zusammenhang vorwärts und rückwärts überschaut. Daher tritt der Historiker mit seiner Persönlichkeit möglichst zurück; in eigener Person spricht er sein Urteil oder seine Auffassung aus oder schildert die allgemeinen Verhältnisse nur in den wenigen Fällen, wo jedes andere Mittel versagt – z.B. wo er darlegt, weshalb er den siebenundzwanzigjährigen Krieg als eine Einheit betrachtet, oder im Anschluß an die Revolutionen auf Korkyra die Verwilderung des Parteikampfs schildert, der überall in den griechischen Staaten ausgebrochen ist, oder bei Perikles' Sturz sein Urteil über die gesamte Politik Athens ausspricht. Aber soweit es möglich ist, soll der Leser diese Dinge aus den Begebenheiten entnehmen oder aus dem Munde der handelnden Personen selbst erfahren. Deshalb hält sich der Schriftsteller streng an den Gang der Ereignisse: semper ad eventum festinat gilt auch von ihm. Mit der Erzählung der Verwicklungen, welche den Ausbruch des Kriegs herbeiführten, setzt er ein; den Überblick der Entwicklung seit den Perserkriegen bringt er erst da, wo es gilt, den Kriegsentschluß Spartas zu erklären, den er nicht auf jene äußeren Anlässe, sondern auf die durch das Wachsen der Macht Athens hervorgerufene Eifersucht Spartas zurückführt, für das der bestehende Zustand und die Machtstellung des Rivalen schließlich unerträglich wird. Streng synchronistisch werden die Begebenheiten erzählt, wo der Krieg gleichzeitig auf verschiedenen Schauplätzen spielt; das Einteilungsprinzip gibt das natürliche, in [248] Sommer und Winter zerfallende Jahr, nicht das willkürliche Beamtenjahr und der schwankende Kalender der einzelnen Staaten305. Erst als der zehnjährige Krieg beendet ist und Erzählung und Jahrzählung des Autors trotzdem weitergehen, folgt die Erklärung, daß der ganze Krieg von 431-404 als Einheit zu betrachten sei und daß, »wenn jemand die Friedenszeit nicht als Krieg rechnen will, er die Verhältnisse nicht richtig beurteilt«. Erst hier, wo der Gang der Dinge selbst darauf führt, ist die richtige Stelle, sich über diese Grundauffassung auszusprechen, obwohl sie von Anfang an vorausgesetzt wird, nicht, wie es jeder spätere Autor tun würde und die modernen Kritiker auch von Thukydides fordern, im Eingang des Werks. Was nicht unmittelbar zum Thema gehört, hat auch in der fortlaufenden Darstellung keinen Platz, mag es dem Schriftsteller sonst noch so sehr am Herzen liegen, und kann nur in einer Episode (die die Stelle einer Note oder einer Beilage vertritt) angebracht werden. Dahin gehört die Anwendung der kritischen Prinzipien des Autors auf die ältere Geschichte Griechenlands in der Einleitung (wenn der Verfasser damit seine Erwartung motiviert, der Krieg werde bedeutender werden als alle früheren, so ist das nur ein schriftstellerischer Notbehelf; aber als Darlegung der griechischen Kulturentwicklung war diese Skizze zum vollen Verständnis des Krieges in der Tat unentbehrlich); ferner in dem Exkurs über die Pisistratiden im 6. Buch. Die für einen entscheidenden Beschluß maßgebenden Motive, die Kräfte, wel che die Situation beherrschen und zur Entscheidung treiben, die allgemeinen Voraussetzungen, welche auf den politischen und kulturellen Zuständen, dem Wesen und Charakter der miteinander ringenden Staaten und Bevölkerungen beruhen, kurz, alles das, was ein späterer und jeder moderne Historiker in exponierenden und kritischen Erörterungen darlegen würde, welche die Erzählung umrahmen, und vor allem in einer ausführlichen Einleitung [249] über Wesen und Machtmittel der Staaten und über die allgemeinen Momente, welche den Konflikt herbeiführten und beherrschten, das alles führt Thukydides dem Leser in den Reden vor. Wie in der Erzählung die Begebenheiten, so sollen hier die handelnden Persönlichkeiten uns einen unmittelbaren Einblick in die Verhältnisse gewähren und das eigene Urteil ermöglichen. So nahe sich das äußerlich mit einer aktenmäßig die Vorgänge protokollierenden chronikartigen Erzählung zu berühren scheint, in Wirklichkeit ist es das volle Gegenteil davon: das Augenblicksbild ist kein geschichtliches Bild der Ereignisse, sondern notwendig ein Zerrbild, so gut wie nicht die Photographie das echte Bild einer Persönlichkeit, einer Landschaft, eines Bauwerks gibt, sondern nur die sich über das Momentane und Zufällige erhebende Schöpfung eines Künstlers. Keine einzige Rede des Thukydides entspricht den wirklich gehaltenen, wenn auch einzelne Worte aus ihnen aufgenommen sind; denn dem in einer bestimmten Situation gesprochenen Wort haften unzählige ephemere, geschichtlich wertlose, ja die Erkenntnis trübende und verfälschende Züge an, während es von dem, was zum geschichtlichen Verständnis der Ereignisse notwendig ist, immer nur einen Teil gibt, anderes dagegen als den Mithandelnden bekannt verschweigt, und noch öfter wichtige Momente nicht erwähnt, weil der Redner sie nicht kennt – denn niemand vermag während des Handelns die Situation vollständig zu übersehen und jede Überlegung zu berücksichtigen, die von seinem Standpunkt aus notwendig gewesen wäre, ja die vielleicht unbewußt sein Handeln ganz wesentlich beeinflußt. Alle Reden des Thukydides sind lediglich auf die Information des Lesers, nicht auf die der fingierten Hörer berechnet; daher stehen sie alle in Zusammenhang miteinander und sind auch alle in demselben einheitlichen Stil geschrieben, der die gesamte Darstellung beherrscht. Die Reden stehen nur an solchen Stellen, wo der Leser, um zum vollen historischen Verständnis zu gelangen, einer weiteren Information bedarf, als sie die Erzählung der Begebenheiten selbst bieten kann. Da aber hat der Schriftsteller gar kein Bedenken getragen, die Redner auch solche Dinge sagen zu lassen, welche sie vor ihrem Publikum und in der momentanen [250] Situation unmöglich hätten sagen können; ja er hat, wo er dem Leser etwas sagen mußte, was er ihm auf andere Weise nicht mitteilen konnte, auch die irrelevantesten, an sich in die Geschichtserzählung nicht hineingehörenden Vorgänge zum Anlaß genommen, um eine Rede einzulegen, so bei der Leichenrede und bei der letzten Rede des Perikles. – Aber das gleiche gilt von der gesamten Darstellung des Schriftstellers. Gerade weil er den Leser behandelt, als erlebe er die Dinge selbst, und ihm scheinbar das Urteil völlig freigibt, beherrscht er ihn nur um so sicherer. Nicht nur in der Form der Darstellung, sondern vor allem in der Auswahl der Tatsachen selbst, in dem, was er einer ausführlichen Erzählung für wert hält, in dem, was er nur in kurzen, oft ganz nüchternen und abgerissenen Sätzen mitteilt, wie in dem, was er verschweigt, steckt sein Urteil bereits darin. Die ideale Objektivität des historischen Stils, wie sie der erste und der größte Meister der Geschichtsschreibung geschaffen hat, den die Weltgeschichte kennt, hat das subjektive Moment des kritischen Forschers zur notwendigen Voraussetzung. Nur er vermag die historischen Tatsachen zu erkennen und aus der unendlichen Masse der momentanen Vorgänge herauszuheben; nur durch seine Vermittlung – oder wenn wir seine Auffassung verwerfen wollen, durch die eines anderen forschenden und urteilenden Individuums – vermögen wir diese Erkenntnis uns anzueignen306.

Über das, was historisch bedeutsam ist und daher in der Geschichtserzählung berücksichtigt werden muß, hat Thukydides sehr scharf umgrenzte Ansichten, an denen er streng festhält. Nur was zum Verständnis der Geschichte des Kriegs notwendig ist oder doch die Situation in charakteristischer Weise illustriert, kann Erwähnung beanspruchen; nur an den Höhe- und Wendepunkten ist es angebracht, den Hergang ausführlicher zu erzählen und auf das Detail einzugehen. Dagegen wäre es ebenso ermüdend [251] wie zwecklos; wollte der Historiker überall jede Einzelheit mit derselben Breite behandeln wie die großen Entscheidungen. Zahlreiche Vorgänge auf militärischem und diplomatischem Gebiet sind so ephemerer Natur oder auf den Fortgang so einflußlos geblieben, daß sie mit einer kurzen Notiz erledigt oder auch ganz übergangen werden können. Was dagegen zum Verständnis des geschichtlichen Prozesses unentbehrlich ist, muß auch in seiner Genesis und seinen Motiven klar dargelegt werden, so daß der Leser ein Urteil über den Vorgang gewinnen kann. Unter den Momenten, aus denen ein historisches Ereignis erwächst, bedürfen diejenigen, welche individuell und dem betreffenden Vorgang eigentümlich sind, einer besonderen Darlegung; dagegen nicht die allgemeinen Faktoren, welche allen historischen Prozessen zugrunde liegen und in jeder gleichartigen Situation wiederkehren, die Massenerscheinungen. Diese bilden zwar die Voraussetzung, aber keineswegs den Inhalt der historischen Erkenntnis. Daher verdienen auch die Vorgänge im Innern der Einzelstaaten, die Verhandlungen in Rat und Volksversammlung, so aufregend und heftig umstritten sie gewesen sein mögen, im allgemeinen keine weitere Berücksichtigung. Bei den großen Entscheidungen beim Ausbruch des Kriegs, beim Sturz des Perikles, bei den Verhandlungen über Mytilene und Sphakteria, beim Beschluß der sizilischen Expedition, beim Sturz des Alkibiades, werden die inneren Vorgänge in Athen vorgeführt und die sich bekämpfenden Strömungen und Motive charakterisiert; und wo die Parteikämpfe unmittelbar in den Gang des Krieges eingreifen, wo Revolutionen den Staat zerreißen oder einen jähen Umschwung herbeiführen, werden sie ausführlich auch in ihren Ursachen dargelegt. Damit aber ist es genug; diese Bilder sind zugleich typisch für die ganze Entwicklung, und es wäre so überflüssig wie des Geschichtswerks unwürdig, sollte jeder der unzähligen analogen Vorgänge in ähnlicher Weise erzählt oder auch nur jedesmal erwähnt werden, wie der Beschluß, auf dem die einzelne Aktion beruht, zustande gekommen ist. Das Treiben der Masse ist lediglich typisch, nicht individuell: darauf, und nicht auf der politischen Stellung des Schriftstellers, beruht es, daß er von so vielen Vorgängen der [252] inneren Geschichte, über die wir gern etwas erfahren möchten, vollständig schweigt (selbst z.B. von dem Ostrakismos des Hyperbolos), und daß er von den Demagogen mit Ausnahme des Kleon keinen einzigen einer Charakteristik, ja kaum einen der Erwähnung würdigt. Denn obwohl der Verfasser kein Hehl daraus macht, daß er die radikale Demokratie prinzipiell verwirft und ihr den Hauptteil der Verantwortung für den Fall Athens zuschreibt, ist er doch imstande gewesen, von den ihr zugrunde liegenden Idealen in der Leichenrede des Perikles ein so warmes und packendes Bild zu entwerfen, wie es der überzeugteste Demokrat kaum hätte geben können; und der Umstand, daß Perikles der Schöpfer der radikalen Demokratie gewesen ist, hat ihn nicht gehindert, seiner politischen und geistigen Bedeutung die höchste Anerkennung zu zollen. – Aus derselben Grundauffassung erwächst die Stellung, die Thukydides zu den handelnden Persönlichkeiten einnimmt. Anspruch darauf, als geschichtlich wirksamer Faktor in der Darstellung berücksichtigt und gewürdigt zu werden, hat nur, wer selbständig durch seine eigene Individualität im Gegensatz zu den Massen in die Geschichte eingegriffen hat, sei es, daß er sie in seine Bahnen leitet, sei es, daß er mit ihnen kämpft und schließlich ihnen unterliegt. Auch mittelmäßigen Persönlichkeiten, wie einem Archidamos oder Pleistoanax oder Nikias, können die Umstände eine solche Stellung verleihen, daß ihre individuellen Motive die Hauptfaktoren einer großen Entscheidung werden und daher dargelegt werden müssen; in der Regel aber sind es Persönlichkeiten von beherrschenden Fähigkeiten des Intellektes und des Willens, denen eine derartige Stellung zukommt. Nur in diesen Fällen erhalten auch die Reden, die ihnen in den Mund gelegt werden, eine persönliche Färbung. Dagegen alle die, welche, auch wo sie momentan z.B. als Strategen dem Namen nach eine leitende Position einnehmen, aber in Wirklichkeit nichts leisten, was nicht jeder andere an ihrer Stelle auch leisten würde, welche daher zu den Faktoren, aus denen sich der historische Vorgang zusammensetzt, kein neues individuelles Moment hinzufügen, werden als Persönlichkeiten vom Schriftsteller nicht berücksichtigt, ebensowenig alle die, welche nichts sind als der Ausdruck und die[253] Stimmführer der Massen, wie die Demagogen gewöhnlichen Schlages. Nur eine Ausnahme gibt es hier im Verlaufe des Kriegs, das ist Kleon. Nicht daß er, nach Thukydides' Urteil, irgendwie über andere seinesgleichen hinausgeragt hätte; im Gegenteil, er ist nach ihm kein Staatsmann, kein beherrschender Intellekt, sondern nur ein Typus, die Verkörperung der Aspirationen und Triebe der Massen. Aber gerade dadurch, daß diese sich in ihm zusammenfassen wie in keinem anderen, daß er als ihr Stimmführer in den entscheidendsten Momenten des Archidamischen Kriegs den Ausschlag gibt, durch positives Wirken bei den Verhandlungen über Mytilene und Sphakteria, negativ durch seinen Tod, der das Zustandekommen des Friedens ermöglicht, wird er zu einer historischen Persönlichkeit und erfordert eine Charakteristik und eine Darlegung der sein Handeln bestimmenden Motive. Überall aber hat sich der Historiker innerhalb der Grenzen seiner Aufgabe zu halten; sein Werk soll nichts weniger sein als eine Sammlung moralischer Porträts; daher steht es zu der gleichzeitigen Memoirenliteratur (o. S. 232f.) in ebenso bewußtem Gegensatz wie zu der Art, wie Herodot oder gar die spätere Biographie allerlei interessante Erzählungen und Anekdoten aus dem Leben hervorragender Männer zusammenstellt. Nur die Momente, in denen der Einzelne eine entscheidende Wirkung geübt hat, und nur die Eigenschaften, durch die er gewirkt hat, finden Erwähnung; sonst kommen seine moralischen Qualitäten und seine individuellen Schicksale für die Geschichte nicht in Betracht – und sei es der Tod des Perikles, der, weil er wirkungslos war, im Verlauf der Geschichte nicht erzählt, dagegen bei seinem Sturze erwähnt wird, als es gilt, klarzulegen, welche Wandlung Athen und seine Politik durch den Wegfall der bis dahin den Staat beherrschenden Persönlichkeit erlitten hat. Daher sucht der Schriftsteller auch bei der Charakterisierung so viel wie möglich hinter den Tatsachen zurückzutreten; er gibt eine latente, aber um so wirkungsvollere Charakteristik in der Art, wie er die Taten dieser Männer erzählt, und in ihren Reden, und schildert im übrigen den Eindruck, den die Zeitgenossen von ihrem Wesen hatten, die Eigenschaften, welche diesen als maßgebend erschienen und auf denen ihre historische [254] Stellung und Wirkung beruhte. Nur in den wenigen Fällen, wo dies Mittel versagt (z.B. bei den oligarchischen Verschwörern VIII 68), tritt er in eigener Person mit dem Urteil hervor307.

Ob Thukydides in der Auswahl der Ereignisse und in der Beurteilung der Persönlichkeiten überall das Richtige getroffen hat, ist Gegenstand der Untersuchung jedes einzelnen Falls, so gut wie die Kritik seiner Auffassung der Einzelvorgänge und des gesamten Krieges. Irrtümern war natürlich auch er unterworfen, und einzelne Versehen lassen sich nachweisen, ebenso Auslassungen von Vorgängen, die hätten erwähnt werden sollen, infolge übertriebener Konsequenz in der Durchführung seiner Grundsätze (vgl. Forsch. II 286f. 375). Auch ist klar, daß er so wenig wie überhaupt irgendein Historiker über alle Vorgänge gleichmäßig informiert sein konnte; die Schwierigkeiten, welche die in Sparta herrschende Geheimniskrämerei schuf, hebt er selbst einmal hervor (V 68). Durchweg aber beruht sein Werk auf umfassender Materialsammlung und auf sorgfältiger kritischer Sichtung und Verarbeitung seiner Informationen. Auch hier ist es nicht ausgeschlossen, daß diese Informationen gelegentlich nicht ausreichten oder ihn zu einer falschen Auffassung verleiteten. So hat er z.B. von den verwickelten topographischen Verhältnissen bei Pylos kein korrektes Bild gewonnen, während die Schilderung des Kampfes bei Sphakteria mit der Lokalität völlig übereinstimmt (s. GRUNDY, J. Hell. Stud. XVI) und z.B. der Versuch MÜLLER-STRÜBINGS, seine Darstellung der Belagerung von Platää [255] als ein Phantasiegemälde hinzustellen, völlig in sich zusammengebrochen ist (GRUNDY, The topography of the battle of Plataea, 1894). Überhaupt haben sich die Angriffe, die in neuerer Zeit vielfach gegen seine Glaubwürdigkeit gerichtet sind, durchweg als haltlos erwiesen, selbst da, wo sie, wie in der Geschichte der Vierhundert, sich auf eine urkundliche Grundlage stützen zu können schienen (s. Forsch. II); und auch zu der Auffassung des Thukydides wird die besonnene Forschung mehr und mehr zurückkehren, obwohl sie die Pflicht nie außer acht lassen darf, überall auch ihm gegenüber die Selbständigkeit ihres Urteils zu wahren.

Das Material, das wir zur Kontrolle und Ergänzung des Thukydides besitzen, ist dem für die Geschichte der Pentekontaëtie gleichartig, nur noch reicher: attische Inschriften, die Komödie, von der uns aus den Jahren 425-405 neun Stücke des Aristophanes voll politischer Beziehungen erhalten sind, die Reste der Atthiden und der sonstigen Lokalgeschichte, die Schriften der Sokratiker, Plato und Xenophon, in denen uns zahlreiche Persönlichkeiten der Kriegszeit anschaulich entgegentreten. Dazu kommt die allmählich einreißende Sitte der Redenschreiber, die Plaidoyers in wichtigen politischen und privaten Prozessen zu veröffentlichen; und auch von diesen ist uns nicht wenig erhalten. Natürlich dürfen diese Reden nur mit großer Vorsicht verwertet werden, da ihre Verfasser gar nicht die Aufgabe haben, die Wahrheit zu sagen, vielmehr es prinzipiell mit derselben sehr leicht nehmen und nur den Effekt im Auge haben. Aber sie geben uns einen höchst lebendigen Einblick in das politische Tagesgetriebe und sind die wichtigste Quelle für die Kenntnis der politischen und rechtlichen Einrichtungen Athens sowie der populären attischen Tradition. Was die antike Gelehrsamkeit aus den Urkunden, der Komödie, den Atthiden und der sonstigen Überlieferung (so für die sizilische Expedition aus Philistos) gesammelt hat, liegt in den Biographien, den Scholien usw. (o. S. 241) vor. Es ist natürlich, daß Thukydides durch dies Material kaum irgendwo für die Kriegsgeschichte, sondern fast ausschließlich auf dem Gebiet der inneren Verhältnisse und der persönlichen Schicksale hervorragender Männer ergänzt wird. Die späteren Historiker, [256] die durchweg direkt oder indirekt aus ihm schöpfen, kommen neben ihm überhaupt nicht weiter in Betracht, auch Ephoros (bei Diodor) nicht. Derselbe hat ebenso wie in der Pentekontaëtie Thukydides' Darstellung durchweg vergröbert und entstellt und den historischen Zusammenhang völlig zerrissen, indem er die synchronistische Darstellung aufhob und statt dessen die Vorgänge auf den einzelnen Schauplätzen zu größeren Abschnitten zusammenfaßte. Von den im geschichtlichen Leben wirkenden Kräften hat er hier so wenig wie sonst eine Vorstellung, obwohl er einen Thukydides zum Führer hatte. Besäßen wir nur seine Darstellung, so würden wir vom Peloponnesischen Krieg so gut wie nichts wissen und fortwährend in die verkehrtesten Kombinationen hineingeraten; als warnendes Beispiel für andere Fälle, wo uns nur derartiges sekundäres Material vorliegt, ist daher seine Darstellung von paradigmatischem Wert. Außer Thukydides hat er für die Ursachen des Kriegs die attische Volkstradition und die Komödie benutzt und mühselig zu einer kläglichen Einheit zusammengearbeitet (Diod. XII 38-40, vgl. Forsch. II 329ff.). Benutzung der attischen Tradition findet sich auch sonst, so bei der Gesandtschaft des Gorgias (XII 53) und in manchen Vertuschungen und Zusätzen (namentlich auch in den Zahlen), in denen die attischen Sympathien des Verfassers hervortreten. Bedeutendere Zusätze finden sich bei den Kämpfen auf Sizilien, so bei der ersten Expedition XII 54, die sonst ein schlechtes Exzerpt aus Thukydides ist, in den Zahlen, bei der zweiten XIII 2ff. in manchen Detailzügen. Hier hat wohl Ephoros selbst die sizilischen Quellen, namentlich Philistos, herangezogen.

Für die letzten 61/2 Jahre des Kriegs, die Thukydides nicht mehr hat darstellen können, wird unsere Kenntnis der äußeren Geschichte viel dürftiger. Die gleichzeitigen Chroniken, z.B. Hellanikos, fixierten nur die Hauptpunkte, die Tradition konnte nur einzelne Momente sicher festhalten. Als in der nächsten Generation das Bedürfnis erwachte, Thukydides zu ergänzen, war eine Fortführung seiner Erzählung in dem von ihm festgehaltenen Umfang bereits nicht mehr möglich. Xenophon (geb. [257] um 430308, der in höherem Alter diese Aufgabe in Angriff nahm, knüpft zwar formell an die letzten Worte des Thukydides an309, aber inhaltlich vermag er den abgebrochenen Satz, mit dem er schließt, nicht mehr zu ergänzen. Er muß sich begnügen, die Hauptpunkte in ihrer chronologischen Folge kurz vorzuführen; im allgemeinen wird er nur da ausführlicher, wo persönliche Erinnerungen vorliegen, wie bei der Verlesung der abgefangenen spartanischen Depesche über die Schlacht bei Kyzikos, beim ionischen Feldzug des Thrasyllos, bei Alkibiades' Rückkehr, bei der Arginusenschlacht und dem anschließenden Prozeß, und ebenso nachher bei der Geschichte der Dreißig. Damit hängt es zusammen, daß er die Jahrzählung des Thukydides und die scharfe Gliederung in Sommer und Winter aufgibt. Das hat zu manchen chronologischen Schwierigkeiten geführt und schon bei den Alten Anstoß erregt. Daher sind in seinen Text eine Anzahl durchweg falscher Olympiadendaten interpoliert, an die sich eine Reihe weiterer, den späteren Chroniken entnommener Zusätze über sizilische und persische Geschichte anschließen. – Wesentlich mehr als Xenophon hat offenbar auch Theopomp von Chios nicht geben können, der eine Generation später dieselbe Aufgabe auszuführen unternahm; schon im zweiten Buch seiner »Hellenika« hat er von den Harmosten der Zeit Lysanders geredet310. Nachrichten, die auf sein Werk zurückgehen, besitzen wir nur sehr wenige. Von einem anderen Fortsetzer des Thukydides; Kratippos, der wie Theopomp sein Werk mindestens bis zum Jahre 394 herab geführt hat (Plut. de glor. Ath. 1), wissen wir überhaupt nicht, ob er, wie Dion. Hal. de Thuc. 16 behauptet, derselben Zeit oder vielmehr der hellenistischen Zeit angehört; Spuren seines Werkes begegnen wir nirgends311. Ephoros [258] hat für diese Zeit Xenophon stark benutzt, damit aber zahlreiche andere Nachrichten verbunden; so zuverlässig wie jener ist er nirgends.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 245-259.
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