Schlacht bei Ägospotamoi. Kapitulation Athens

[352] Die Reste der spartanischen Kriegsmacht hat Eteonikos nach Chios gerettet. Ihre Lage war freilich traurig genug; die Mannschaften fristeten während des Herbstes ihr Leben durch Feldarbeit im Dienste der reichen Chier, die jetzt, seit die Athener aus der Insel vertrieben waren (s.S. 339), die Bestellung ihrer Güter wiederaufnehmen konnten. Im Winter wurde die Lage noch schlimmer; die Leute hatten keine Kleidung und Schuhe mehr und nichts zu essen. Nur durch rasches Eingreifen hat Eteonikos Chios vor einem Handstreich der verzweifelten Truppen gerettet und zum Dank dafür von den Chiern eine Monatsrate des Soldes erhalten343. Besserung war nur möglich, wenn Kyros aufs neue half, und dazu brauchte man Lysander. Während des Winters versammelten sich die Delegierten der Griechenstädte in Ephesos und schickten eine Gesandtschaft nach Sparta mit der Bitte, den bewährten Nauarchen aufs neue an die Spitze der Flotte zu stellen; Gesandte des Kyros schlossen sich ihnen an. – Sparta hatte unter dem Eindruck der [352] Niederlage noch einmal die Hand zum Frieden geboten, auf dieselben Bedingungen wie nach der Schlacht von Kyzikos. Aber durch die Hinrichtung der kriegserfahrenen Feldherren, welche die Lage vermutlich richtiger würden beurteilt haben, hatte die radikale Strömung wieder die volle Herrschaft gewonnen. Kleophon setzte auch diesmal durch, daß das Anerbieten abgewiesen wurde. Er stand bei der Besatzungsarmee; im Panzerhemd erschien er in der Volksversammlung und erklärte, er werde keinen Frieden zulassen, wenn Sparta nicht alle abgefallenen Städte an Athen zurückgebe344. Darauf konnte sich Sparta nicht einlassen; so blieb der Regierung nichts übrig, als trotz aller Bedenken das Begehren der Bundesgenossen zu erfüllen. Freilich war es verfassungswidrig, daß derselbe Mann zweimal den Posten des Nauarchen bekleide, der ihn so hoch über die demokratische Gleichheit der Bürgerschaft hinaushob; man half sich damit, daß man dem Namen nach Arakos zum Nauarchen ernannte und ihm Lysander als Epistoleus beigab, aber ihn anwies, die Leitung der Operationen ganz diesem zu überlassen345.

Die Athener hatten gesiegt; aber sie konnten ihres Sieges nicht froh werden. Der Sieg hatte nur einen Aufschub gebracht, keine Entscheidung. So stolz das Programm lautete, das in Kleophons Erklärung enthalten war, zu seiner Ausführung konnte man nichts tun; tatsächlich war die Lage zu Anfang 405 nicht wesentlich besser, [353] als sie zu Anfang, 406 gewesen war. Die Masse des athenischen Volkes ließ sich durch keine Erfahrung in dem Vertrauen erschüttern, daß der Krieg zum glücklichen Ende gelangen müsse; jedoch wie das zu machen sei, darüber vermochte man nichts Bestimmtes zu sagen; da mußten Athena die Retterin und die übrigen Götter helfen. Lebendig zeigen Aristophanes' Frösche die Stimmung. Athen soll loskommen von der elenden Demagogie, die es im Kriege festhält; es soll sein Vertrauen wieder den tüchtigen Männern aus vornehmem Hause zuwenden, die durch Geburt und Erziehung zur Regierung berufen sind. Der Dichter mahnt zur Versöhnung, zur Aufhebung der Atimie, die auf den von Phrynichos verführten Aristokraten lastete; haben sie doch in der Seeschlacht ihre Schuldigkeit getan ebensogut wie die freigelassenen Knechte, die man jetzt den Platäern, den treuen, durch Athens Schuld heimatlosen Bundesgenossen, gleichgestellt hat. Die Demagogen, denen man folgt, Kleophon, Archedemos und ihre Genossen, taugen alle nichts, die Beamten und der Stratege Adeimantos ebensowenig. Nach wie vorherrscht die Empfindung, daß der einzige Mann, der helfen könnte, Alkibiades ist, den man aufs neue verbannt hat, und vielfach wird die Frage erwogen, ob man ihn noch einmal wieder zurückrufen soll. Die Stadt liegt in Wehen und kann nicht gebären: »sie sehnt sich nach ihm, sie haßt ihn, sie möchte ihn haben«. Daß man seinen alten Genossen Adeimantos zur Flotte entsandt hat, konnte als der erste Schritt zu einer Wiederanknüpfung erscheinen. Aber es kam nicht dazu. Das Publikum hat, daran ist kein Zweifel, die Worte des Dichters gern gehört und sich bekannt, daß an seinen Mahnungen viel Wahres sei. Aber zu irgendeinem heilbringenden Entschluß konnte man sich nicht mehr aufraffen; Kleophon und die Seinen beherrschten die Volksversammlung vollständig. Sie haben alsbald noch frevelhaftere Beschlüsse durchgesetzt als bisher. Dem Feinde gegenüber hatte Athen noch einmal die alte Energie bewährt: der Situation klar ins Auge zu schauen und das Unvermeidliche zu tun, da es noch Zeit war, versagte der Mut. So trieb man rettungslos dem Untergang entgegen.

Lysander hat, als er im Frühjahr 405 das Kommando wieder übernahm, die Reste der Flotte, noch immer gegen 100 Schiffe, [354] nach Ephesos zusammengezogen und in Antandros neue bauen lassen346. Von Kyros erhielt er sofort Subsidien, wenn dieser auch, um seine Rechte zu wahren, hervorhob, daß die vom König für den Krieg angewiesenen Gelder schon längst aufgebraucht seien. Als der Prinz dann bald darauf von seinem auf den Tod erkrankten Vater ans Hoflager berufen wurde, versah er ihn nochmals reichlich mit Geld und wies ihn für die Zukunft auf die Abgaben der Städte an, die ihm als Eigenbesitz zugewiesen waren347. Zugleich knüpfte Lysander seine Verbindungen mit den Klubs fester. In Milet schürte er den Hader der Parteien, und als dann die Oligarchen über ihre Gegner herfielen, rückte er unter dem Vorwand, den Frieden herzustellen, in die Stadt ein, wiegte die Gegner in Sicherheit und ließ sie sämtlich niedermetzeln; das Regiment in der Stadt übergab er seinen Anhängern348. – Währenddessen hatten die Athener sich begnügt, den Krieg in der von Konon inaugurierten Weise durch Plünderung der feindlichen Küsten fortzusetzen; zu einem größeren Unternehmen, etwa einem ernstlichen Angriff auf Chios oder auf Andros, reichten trotz der Verdoppelung der Flotte weder die moralische Kraft noch die Geldmittel. Seit dem Eingreifen des Kyros und vollends seit Alkibiades' Abberufung haben sie die Initiative ausschließlich den Gegnern überlassen349. Jetzt waren sie gezwungen, [355] sich aufs neue auf eine Schlacht vorzubereiten; sie verstärkten ihre Flotte weiter bis auf 180 Schiffe und stellten den bisherigen Strategen drei weitere zur Seite, Menandros, Tydeus und Kephisodotos350. Zugleich aber verfügte die Volksversammlung, nach dem Siege allen Gefangenen den rechten Daumen abzuhauen, damit sie nicht mehr als Ruderer zu brauchen seien; vergeblich widersprach der Stratege Adeimantos. Als zwei Jahre vorher Dorieus, der Führer der Thurier, den Athenern in die Hände gefallen war, hat man mit dem ruhmgekrönten Manne, dem Sieger in zahlreichen Wettkämpfen, Mitleid gehabt und ihn ohne Lösegeld entlassen, obwohl er mit seiner ganzen Familie von Athen geächtet war. Jetzt aber herrschte die entgegengesetzte Stimmung; man wollte ein Ende machen und glaubte, wie zu Kleons Zeiten, das nur durch einen erbarmungslosen Terrorismus erreichen zu können. Die Athener ahnten nicht, daß sie sich selbst damit das Urteil sprachen. Philokles, der führende Stratege, offenbar ein Gesinnungsgenosse Kleophons, handelte sofort im Sinne des Beschlusses: als eine Triere von Korinth und eine andere von Andros in seine Hände fielen, ließ er die Gefangenen sämtlich vom Felsen herabstürzen.

Lysander hatte auch diesmal keine Neigung, eine Seeschlacht anzunehmen; er war mit Kyros darüber einig, daß man das nur wagen dürfe, wenn man der absoluten Überlegenheit sicher sei. Er warf sich vielmehr auf die Besitzungen, die Athen noch an dem östlich von Halikarnass tief ins Land einschneidenden Keramischen Golf behauptete (s.S. 342), und eroberte und plünderte die Stadt Kedriai351. Dann wandte er sich mit einigen Schiffen nach Attika, [356] verwüstete Ägina und Salamis, und verabredete in einer Zusammenkunft mit Agis die entscheidenden Maßregeln. Er war jetzt so weit, daß er Mindaros' Zug wieder aufnehmen und, dem alten Wunsch des Agis entsprechend, versuchen konnte, Athen durch Besetzung der Meerengen die Zufuhr abzuschneiden und es dadurch zur Ergebung zu zwingen. Von Rhodos aus führte er die gesamte Flotte nach dem Hellespont. Unterstützt durch das Aufgebot von Abydos und anderen abgefallenen Orten, das Thorax ihm zuführte, erstürmte und plünderte er Lampsakos; den gefangenen Bürgern wurde die Freiheit gelassen. Die Athener waren ihm von Samos aus sofort gefolgt. Aber sie kamen zu spät; und so nahmen sie Lampsakos schräg gegenüber bei den Ziegenflüssen (Aigospotamoi) Stellung. Lysander wußte sie in Sicherheit zu wiegen, indem er Tag für Tag seine Flotte in Schlachtordnung sich aufstellen ließ, aber wenn die Athener ihm entgegenfuhren, den Kampf nicht annahm. Alkibiades, der von einer seiner Burgen aus die Vorgänge beobachtete, warnte die Athener dringend: statt fern von einer Stadt zu ankern, wo sie ihre Lebensmittel von weither holen mußten, sollten sie ihr Lager nach Sestos verlegen; dann würden sie schlagen können, wann immer sie wollten. Die Feldherren wiesen ihn schnöde ab: sie hätten zu kommandieren, nicht er. Lysander hatte die Vorgänge auf athenischer Seite genau beobachtet und wußte, daß die Mannschaften, wenn sie von der Ausfahrt gegen Lampsakos zurückkehrten, ans Land gingen und sich zerstreuten. Die Athener glaubten, dasselbe Spiel werde sich immer von neuem wiederholen und Lysander wage überhaupt nicht zu schlagen. Aber am fünften Tage ging er, sobald die Athener ans Land gegangen waren, in eiliger Fahrt vor. Die Feinde waren vollständig überrascht, die meisten Schiffe fast ohne Bemannung. Es war nur eine Niederlage, keine Schlacht; ehe die Mannschaften die Schiffe erreichen konnten, waren diese genommen. Nur Konon, der besser Wacht gehalten hatte, entfloh mit 8 Schiffen; er flüchtete zu Euagoras (s.S. 322) nach Cypern. Außerdem sind noch 12 Schiffe entkommen352; alle übrigen, [357] etwa 160, wurden die Beute des Siegers. Auch von den Mannschaften wurde ein großer Teil gefangen. Die Heeresversammlung der Verbündeten entschied über ihr Schicksal: in Vergeltung des brutalen Beschlusses des Demos wurden sie sämtlich niedergemacht, der Stratege Philokles voran; nur den Adeimantos, der dagegen aufgetreten war, verschonte Lysander. Das hat ihm bei den Athenern den Vorwurf des Verrates eingetragen – als ob es zur Erklärung der Niederlage neben den hochmütigen und kopflosen Strategen noch eines Verräters bedürfte353.

Die Niederlage von Ägospotamoi (Herbst 405) machte dem attischen Reich ein Ende: eine neue Flotte konnte Athen nicht mehr schaffen. Was noch zu Athen gehalten hatte, ergab sich ohne Widerstand dem Sieger; der Reihe nach besetzte Lysander selbst oder durch seine Offiziere Byzanz und Kalchedon, die hellespontischen Gebiete, Lesbos, die thrakische Provinz, die Inseln, und überall ordnete er die Verhältnisse nach seinem Gutdünken. Den athenischen Besatzungen und wer sonst von Athenern in seine Hände fiel, gewährte er freien Abzug unter der Bedingung, daß sie sofort nach Athen zurückkehrten, damit, je mehr die Bevölkerung anwüchse, um so rascher der Hunger sein Werk tun könne354. Einzig die Demokraten von Samos harrten bei Athen aus; sie konnten von [358] den Feinden keine günstigen Bedingungen erhoffen. Um gegen jeden Verrat gesichert zu sein, richteten sie unter den Aristokraten noch einmal ein Blutbad an355. – Auch in Athen konnte man sich in die Lage nicht finden. Es war Nacht, als die Paralos, die der Katastrophe entronnen war, in den Piräeus einlief; blitzartig, unter gewaltigen Klagerufen, verbreitete sich die Schreckenskunde vom Hafen durch die Langen Mauern in die Stadt, noch furchtbarer, als da vor acht Jahren die gleiche Botschaft aus Sizilien eingetroffen war. Das Gericht brach herein: Lysanders Verfahren gegen die Gefangenen bewies, daß man auf Gnade kaum hoffen dürfe; man mußte erwarten, daß die Feinde Athen behandeln würden, wie es selbst an so vielen hellenischen Gemeinden, Hestiäa, Ägina, Skione, Torone, Melos, das Beispiel gegeben hatte. Auch im günstigsten Falle, wenn die Stadt verschont ward, war ein schweres Strafgericht zu befürchten, Hinrichtung der Demagogen und der Hauptgegner Spartas, Verjagung der demokratischen Massen, Aufrichtung eines oligarchischen Schreckensregiments. Beide Momente, die Angst vor dem Urteilsspruch der Sieger und der bevorstehende Umsturz der Demokratie, wirkten zusammen, um trotz der vernichtenden Niederlage ihrer Politik die Herrschaft der extremen Kriegspartei noch einmal zu festigen. Manche ihrer Führer mögen ehrliche Fanatiker gewesen sein, denen die Taten des Perserkrieges und die Parteiphrase jedes gesunde Urteil so vollständig erstickt hatten, daß sie wirklich glaubten, Athen dürfe niemals kapitulieren, und es sei noch eine Rettung möglich, wenn man nur nicht nachgebe, sondern standhaft hungere; andere harrten aus, weil die Ergebung zugleich das Ende ihrer Herrschaft bedeutete. So beschloß man, keinerlei Verhandlungen zu versuchen, sondern den Widerstand bis aufs äußerste zu organisieren356. Neue Strategen wurden [359] gewählt357, die Mauern instand gesetzt, die Häfen bis auf eine Einfahrt gesperrt. Den Samiern wurde für ihre Treue das höchste Lob gespendet; jetzt endlich raffte man sich auf zu einem Beschlusse, der, wenn er zwei Jahrzehnte früher gefaßt wäre, den ganzen Gang der griechischen Geschichte hätte ändern können: sämtliche Prytanen brachten den Antrag ein, daß die Samier fortan Athener sein und beide Gemeinden nur einen Staat bilden sollten; dabei sollten die Samier ihre inneren Verhältnisse nach eigenem Ermessen ordnen und ihr bisheriges Recht behalten. Jetzt, da es zu spät war, nahm man einen Anlauf zu der politischen Gestaltung, durch die später Rom den Stadtstaat überwunden und den Grund zu seiner Größe gelegt hat. – Auch eine andere Forderung, die von einsichtigen Männern längst ausgesprochen war (s.S. 345), wurde erfüllt: auf Antrag des Patrokleides wurde, in Nachahmung des Verhaltens zur Zeit des Angriffs des Xerxes (IV 1, 363), jede Atimie aufgehoben und die Staatsschuldner sowie die Anhänger der Vierhundert und die sonst Verurteilten, soweit sie in Athen lebten, in den Vollgenuß der bürgerlichen Rechte eingesetzt358. Nur die Exilierten blieben von der Amnestie ausgeschlossen, und vor allem wer wegen Mordes verurteilt oder zum Feinde übergegangen war, d.h. die im Jahre 411 am schwersten Kompromittierten, wurde ausdrücklich ausgenommen359.

[360] Inzwischen war Agis von Dekelea aus vor die Stadt gerückt, und ein zweites starkes Heer führte König Pausanias, der Sohn des im Jahre 408 gestorbenen Pleistoanax, aus dem Peloponnes heran; Lysander aber legte sich mit 150 Schiffen vor den Piräeus und sperrte die Zufuhr ab360. Im Gefolge der Feinde erschienen die attischen Exulanten, namentlich die im Jahre 411 geflüchteten oder später in die Verbannung geschickten Oligarchen, wie Kritias und Aristoteles. Eine regelrechte Belagerung zu unternehmen, war nicht nötig; man konnte die Kräfte sparen. Bald begann der Hunger sich fühlbar zu machen. Athen entschloß sich, eine Gesandtschaft zu schicken, zuerst an Agis, dann, als dieser sich inkompetent erklärte, nach Sparta. Aber als dieselbe an der Landesgrenze erklären mußte, daß sie nur Vollmacht habe zu verhandeln, wenn die Mauern intakt blieben, wurde sie von den Ephoren ohne weiteres abgewiesen. Indessen waren die Spartaner geneigt, milde Bedingungen zu gewähren: sie ließen wissen, daß sie Athen Frieden bewilligen, ja sogar seine Kolonien Lemnos, Imbros und Skyros lassen würden, wenn es die Langen Mauern auf eine Strecke von 10 Stadien (1/4 Meile) niederlege – alsdann konnte die Stadt durch ein feindliches Heer vom Meere abgeschnitten und so an Spartas Politik gefesselt werden. Im Rat beantragte Archestratos, ein derartiges Anerbieten zu machen. Aber Kleophon und seine Genossen terrorisierten die Stadt vollständig: sie ließen Archestratos in Fesseln werfen und setzten einen Beschluß durch, der jede Erwähnung einer Schleifung der Mauern verbot. Kleophon soll gedroht haben, er werde jedem den Hals abschneiden, der von Ergebung spreche. Man fürchtete, die Spartaner könnten, wenn erst einmal die Bresche in die Mauer gelegt sei, ihr Wort brechen und Athen vernichten. Alle Verständigen, die Gemäßigten wie die Oligarchen, waren außer sich über ein derartiges Verhalten; aber sie sahen ein, daß sie für den Augenblick nichts machen konnten und daß sie zunächst die Radikalen stürzen mußten, wenn sie ans Ziel [361] gelangen wollten. Wie in der ganzen bisherigen Entwicklung setzte sich auch im Todeskampf Athens das Ringen um die richtige äußere Politik sofort um in einen Kampf um die inneren Fragen und die Verfassung. Die Demokraten selbst wollten es nicht anders: mit dem attischen Reich mußte auch die Demokratie fallen, die es geschaffen hatte361.

Die Führung der Opposition übernahm Theramenes. Als Kleophons Antrag angenommen war (Anfang Januar 404), beantragte er, man solle ihn zu Lysander schicken, damit er die wirklichen Absichten der Spartaner erforschen und in privaten Verhandlungen vielleicht mildere Bedingungen erreichen könne. Das wurde bewilligt; aber seine Absicht war nicht, alsbald zurückzukehren – dann wäre seine Mission sofort gescheitert, denn er wußte sehr wohl, daß Besseres nicht zu erlangen war –, sondern Lysander zu informieren, mit den Emigranten in Verbindung zu treten und im übrigen abzuwarten, bis Athen mürbe sei. Über drei Monate ist er bei Lysander geblieben. Währenddessen konnten seine Gesinnungsgenossen daheim für ihre Sache wirken; und unter ihnen fiel die Leitung schon jetzt den Extremsten und Skrupellosesten zu, Männern wie Satyros und Chremon. Unter der Wirkung des Hungers erlangten sie den maßgebenden Einfluß im Rat, während Kleophons Stellung ins Wanken kam. Von den Vorgängen im einzelnen ist uns nur weniges bekannt; so wissen wir, daß man zunächst gegen die; Urheber des Arginusenprozesses, Kallixenos und seine Genossen, vorging und sie festsetzte, um sie aburteilen zu lassen. Schließlich führten die Gegensätze zu blutigen Tumulten. Während derselben – ob sie den Anlaß gaben oder umgekehrt dadurch herbeigeführt wurden, ist nicht bekannt – wurde Kleophon unter dem Vorwand, seinen Posten verlassen zu haben, verhaftet und von einem außerordentlichen Gerichtshof, zu dem auch der [362] Rat zugezogen wurde, zum Tode verurteilt362. Das geringe Vermögen, das er gegen alle Erwartungen hinterließ, erwies seine persönliche Integrität, und der Ruhm, daß in ihm die sterbende Demokratie sich verkörpert hat, soll ihm nicht geraubt werden. Aber eben darum ruht auf ihm die Schuld, daß jetzt auch der letzte Rest der athenischen Macht verloren war, und daß die Leitung des Staates den erbittertsten Gegnern der Demokratie überantwortet ward. – Die Gegenpartei gab ihre Sache noch nicht verloren; eine Anzahl von Strategen und anderen Offizieren, darunter Nikias' Bruder Eukrates und Strombichides, der Stratege von 411 (s.S. 267f.), organisierten ein Gegenkomplott, um den Frieden zu hintertreiben. Aber sie erreichten nichts mehr. Als Theramenes etwa Anfang April zurückkehrte mit der Erklärung, Lysander habe ihn so lange festgehalten und jetzt an die Ephoren verwiesen, erhielt er nebst neun anderen Gesandten unumschränkte Vollmacht, in Sparta auf jede Bedingung den Frieden abzuschließen363.

[363] In der entscheidenden Versammlung in Sparta forderten die alten Todfeinde Athens, Korinth und Theben, unterstützt von den Abgeordneten vieler anderer Staaten, die Vernichtung der Stadt, welche so lange der Griechenwelt ihre Zwingherrschaft auferlegt hatte364. Aber weder Lysander, der sich sofort mit der Regierung ins Einvernehmen gesetzt hatte, noch die Ephoren noch die Masse der spartanischen Bürgerschaft wollten so weit gehen. Politische Erwägungen spielten dabei mit; man wußte, daß man Athen als Gegengewicht gegen Theben und Korinth, die mächtigsten der Bundesgenossen, werde gebrauchen können365. Aber den Ausschlag haben ohne Zweifel ideale Erwägungen gegeben: man wollte Spartas Namen nicht schänden durch die Vernichtung eines Gemeinwesens, welches ehemals Hellas die Freiheit erkämpft hatte und seitdem der Mittelpunkt seines geistigen Lebens geworden war. Sparta hatte den Krieg niemals als einen Vernichtungskrieg aufgefaßt; es wollte Athen demütigen und in die Stellung hinabdrücken, die ihm von Rechts wegen zukam, aber nicht aus Hellas austilgen; es wollte die führende Stellung in Hellas gewinnen, auf die es Anspruch hatte, aber ihm zugleich die wahre Freiheit bringen, nicht es nach athenischem Muster unterjochen. So ist Sparta trotz des beispiellosen Erfolges, den es errungen hatte, mit außerordentlicher Milde aufgetreten. Es forderte von Athen die Herausgabe aller auswärtigen Besitzungen, jetzt auch der Kolonien auf Lemnos, Imbros [364] und Skyros, die Schleifung der Langen Mauern und der Mauern des Piräeus – die Stadtmauer des Themistokles durfte stehenbleiben – und die Rückkehr der Verbannten; die Entscheidung über die Flotte wurde Lysander überlassen, und dieser bestimmte, daß Athen alle Schiffe bis auf zwölf auszuliefern habe. Weiter mußte Athen sich verpflichten, mit Sparta denselben Feind und Freund zu haben und ihm überall hin Heeresfolge zu leisten, mit anderen Worten, auf eine selbständige Politik zu verzichten. Von einem Strafgericht war keine Rede, selbst nicht von einer Verfassungsänderung; für diese mochten die Freunde in Athen sorgen, dem spartanischen Staat war es gleichgültig, wie Athen sich im Inneren einrichtete. Als Theramenes mit diesen Bedingungen heimkehrte, war die Erschöpfung aufs äußerste gestiegen; der Hunger hatte bereits zahlreiche Opfer gefordert. Wohl versuchten die Gegner noch Einspruch zu erheben, aber vergebens; die Menge wollte sie nicht mehr hören. Der Friede wurde ratifiziert366. Am 16. Munychion [365] (24. April) 404367 hielt Lysander seinen Einzug in den Piräeus und mit ihm die Emigranten; mit Flötenmusik wurde die Niederlegung der Mauern begonnen, unter dem Jubel der Hellenen, die den Tag als den Beginn der Freiheit begrüßten.

Noch blieb ein Nachspiel, die Unterwerfung der Samier, die sich wie Athen mit äußerster Hartnäckigkeit wehrten. Während Agis die Peloponnesier heimführte und entließ, ging Lysander mit der Flotte nach der Insel hinüber. Bis der Widerstand gebrochen war, vergingen noch mehrere Monate; dann kapitulierte die Stadt. Lysander gewährte, wie ehemals die Athener den Potidäaten, den Freien Leben und unbehelligten Abzug; aber alle Habe mußten sie zurücklassen mit Ausnahme der Kleidung, die sie trugen. Die Verbannten fanden an der kleinasiatischen Küste Zuflucht und wurden durch Ephesos und Notion unterstützt. Samos aber hat Lysander den Resten der verjagten Oligarchen zurückgegeben (Spätsommer 404). Damit war auch das letzte Stück des attischen Reichs in den Händen der Feinde368.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2.
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