Stimmungen in Griechenland. Angriffe auf Perikles

[1] Der Friede von 446 ist über ein Jahrzehnt lang von beiden Seiten sorgfältig beobachtet worden. Selbst in den Zeiten des samischen Aufstands haben die Peloponnesier nicht zu den Waffen gegriffen, so sehr die Umstände dazu zu locken schienen. Freundlich gesinnt freilich war man den Athenern keineswegs; die Stimmung gegen den seemächtigen und überall die demokratische Propaganda begünstigenden Staat war etwa dieselbe, wie im neunzehnten Jahrhundert bei allen Kontinentalmächten Europas und Amerikas gegen England. Gern hätten die Bauernschaft des Binnenlands und die Kaufleute der Küstenstädte sich von den drückenden Fesseln befreit oder gar die nach militärischen Lorbeeren dürstende Jugend Spartas sich mit dem Rivalen gemessen, auf den sie voll Geringschätzung herabsah. Sollte es zum Kriege kommen, so lag in diesen Stimmungen ein bedeutender Vorteil; der Kampf war durchaus populär. Aber von da bis zu offener Feindseligkeit ist ein weiter Schritt, zumal in konservativen und aristokratischen Gemeinwesen, wo nicht die Leidenschaft der Volksmassen, sondern, auch wenn die Besetzung der Ämter alljährlich wechselte, die gereifte Erfahrung der Älteren den Ausschlag gab. Die besonnenen Männer, welche an der Spitze der ausschlaggebenden Staaten Sparta und Korinth standen, haben die Aussichtslosigkeit eines neuen Kriegs aufs lebhafteste empfunden. Trotz kleiner Verluste an den Grenzen seines Machtbereichs (s. Bd. IV 1, 715.), trotz der für Athens Ansehen besonders peinlichen Stellung, welche Thurii eingenommen hatte, war die attische Macht in den Friedensjahren innerlich gekräftigt und gewachsen; sie hatte sich konsolidiert und ihre materiellen Mittel gewaltig vermehrt. Trotz aller populären Strömungen [1] konnte der Friede noch lange bestehen, wenn Athen sich der Provokationen enthielt und wenn keine Verschiebung der Verhältnisse eintrat, welche entweder die Aussichten des Erfolges steigerte oder aber Athens Macht so zu vermehren drohte, daß man zu den Waffen greifen mußte, wenn man nicht ohne Kampf in die Abhängigkeit vom Gegner hinabsinken wollte1.

In Athen hielt Perikles die Zügel des Regiments fest in den Händen. Bei günstig scheinenden Anlässen zur Erweiterung der Macht des Staats hat auch er zugegriffen, freilich, wie das Beispiel von Thurii lehrt, nicht immer mit dauerndem Erfolg; die Kriegspolitik der Radikalen, welche die Kraft des Staats in weitaussehenden Unternehmungen zu erschöpfen drohte, hat er nicht hochkommen [2] lassen. An Angriffen auf seine übermächtige Stellung fehlte es freilich nicht; die Opposition, welche seit Thukydides' Ostrakismos zu Boden lag, begann aufs neue ihr Haupt zu erheben. Wiederfanden sich, wie bei allen ähnlichen Kämpfen, von rechts und links die Gegner zusammen, um den Herrscher zu stürzen und an seine Stelle zu treten, die Oligarchen in der stillen Hoffnung, nach seinem Falle im Bunde mit Sparta auch die Verfassung über den Haufen werfen zu können, die demokratischen Heißsporne in dem Streben, eine konsequente Expansionspolitik im Sinne der städtischen Massen zu treiben, die geradewegs auf den Krieg lossteuerte und die Stellung ihrer Führer festigte, indem sie der seefahrenden und von Industrie und Handel lebenden Bevölkerung reichen Gewinn brachte und neue Absatzgebiete erschloß, mochte auch die reaktionäre Landbevölkerung darüber vollends zugrunde gehen. Unmittelbar gegen den allmächtigen Mann vorzugehen, wagte man allerdings noch nicht; aber gegen seine Vertrauten versuchte man bald hier bald dort einen Angriff, um so allmählich seine Stellung zu erschüttern. Als im Jahre 438 das von Phidias geschaffene Götterbild der Athena aus Gold und Elfenbein vollendet war und im Parthenon aufgestellt wurde, hat man einen ersten Vorstoß gewagt. Es lief eine Denunziation gegen Phidias ein, er habe einen Teil des kostbaren Materials unterschlagen. Daraufhin wurde Phidias gefangengesetzt und die Untersuchung eingeleitet. Die Beschuldigung traf indirekt auch Perikles als Vorsteher der Baukommission. Daß die Anklage, soweit sie das Gold betraf, gänzlich unbegründet war, ließ sich leicht zeigen, da dasselbe abgenommen und gewogen werden konnte; um so schwieriger war der Nachweis beim Elfenbein. Phidias, der schon in höherem Alter stand, ist im Gefängnis gestorben – denn Philochoros' Angabe, er sei entflohen und habe jetzt erst den olympischen Zeus ausgeführt, darauf sei er von den Eliern hingerichtet, offenbar wieder wegen Unterschlagung, ist schwerlich historisch –, und darauf, so scheint es, der Prozeß nicht weiter verfolgt worden2. Gegen Perikles selbst vorzugehen, [3] wäre aussichtslos gewesen; aber der Vorgang hatte gezeigt, wie leicht die nichtswürdigste Beschuldigung bei der Menge Glauben fand und sich unter günstigen Umständen zu einer großen Staatsaktion aufbauschen ließ. – Daneben gingen die Angriffe der Komödie einher: es war offenbar ein neuer Erfolg der Opposition, wenn das Gesetz von 440, welches ihren zügellosen persönlichen Invektiven Schranken gesetzt hatte, schon 437 wieder aufgehoben wurde. Um die Wette richteten Kratinos, Telekleides, Hermippos ihre Pfeile gegen die Tyrannengestalt des neuen Pisistratos und gegen die milesische Omphale. Damit verbanden sich schwere Beschuldigungen gegen seinen Lebenswandel, die namentlich dadurch Nahrung gewannen, daß er mit seinem ältesten Sohn Xanthippos vollkommen zerfallen war; man behauptete, er habe mit dessen Gemahlin und mit anderen Frauen Ehebruch getrieben3. Unmittelbare politische Wirkung konnte die Komödie nicht üben; aber indem sie offen aussprach, was in dem vielgestaltigen Demos gar manche im stillen dachten oder auch nur halb unbewußt empfanden, machte sie Stimmung für die Opposition. Auch die Broschüre des Stesimbrotos über die attischen Staatsmänner, welche die stärksten Angriffe gegen Perikles' politisches und sittliches Verhalten [4] vorbrachte, gehört vielleicht in diesen Zusammenhang. Schließlich, als der äußere Horizont sich bereits verdunkelte, versuchte man einen neuen Vorstoß, diesmal auf dem Boden des Volksglaubens, der durch die neuen gottlosen Lehren gefährdet sei, die Perikles begünstige. Der Komiker Hermippos verklagte die Aspasia auf Grund der Zusammenkünfte in ihrem Hause wegen Gottlosigkeit und zugleich, weil sie freie Frauen an Perikles verkupple. Diopeithes, einer der attischen Orakelpropheten und Priester der Geheimkulte im Stile Lampons, brachte einen Antrag ein, der zu Denunziationen gegen die Neuerer aufforderte, welche an die Religion nicht glaubten oder Lehrvorträge über die Himmelskörper hielten – mit deutlicher Spitze gegen Anaxagoras, dessen Behauptung, daß die Sonne ein glühender Steinklumpen sei, ganz besonderen Anstoß erregt hatte. Die Freisprechung der Aspasia durchzusetzen, ist Perikles gelungen; den Anaxagoras wagte er nicht zu schützen. Er entfloh nach Lampsakos, der Heimat seines Schülers Metrodoros, und hat hier, während in Athen das Todesurteil über ihn gesprochen war, hochgeehrt von der Bürgerschaft in Frieden sein Leben beschlossen (†428)4. – So empfindlich diese Angriffe waren, zum Ziele konnten sie nicht führen. Wenn Perikles' Einfluß bei der Menge ins Wanken kam, so scharte sich die Mittelpartei nur um so [5] energischer um ihn. Er, der Begründer der radikalen Demokratie, wurde jetzt der Hort des Bestehenden, an den jeder sich anschließen mußte, der Athens Politik nach außen wie nach innen in besonnenen und gemäßigten Bahnen halten wollte. Aber die Gefahren zeigten sich, die auch seine allmächtige Stellung bedrohten; sie konnten zu einem gewaltigen Sturm anwachsen, wenn ein schwerer äußerer Konflikt entstand, bei dem der Gegensatz zwischen seiner Politik und den Aspirationen der Massen deutlich zutage trat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 1-6.
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