Krieg zwischen Korinth und Korkyra

[6] Inzwischen hatte sich im Westen Griechenlands eine Verwicklung gebildet, die, zunächst langsam anwachsend, schließlich ganz Hellas in ihre Kreise zog und die bisher mühsam niedergehaltenen Gegensätze zu verheerendem Brande entfachte. Auf einer Landzunge an der illyrischen Küste, im Gebiet der Taulantier, lag die Stadt Epidamnos, eine Kolonie von Korinth und Korkyra aus der Tyrannenzeit (Bd. III, 577). Sie war zu Macht und Wohlstand herangewachsen, damit aber auch dem inneren Hader der Parteien anheimgefallen; das gab dann wieder den Nachbarn die Möglichkeit zu erfolgreichen Vorstößen. Schließlich wurden die Aristokraten verjagt; sie versuchten aber, gestützt auf die Taulantier, durch Raubzüge zu Land und zur See ihre Rückkehr zu erzwingen. Der Demos wandte sich nach Korkyra um Hilfe, wurde aber hier, wo die aristokratischen Tendenzen vorherrschten (Bd. IV 1, 566) und zu größeren Unternehmungen wenig Neigung vorhanden war, abgewiesen. So blieb den Epidamniern nichts übrig, als sich, dem Rate des delphischen Gottes folgend, Korinth in die Arme zu werfen. Hier ergriff man mit Freuden die Gelegenheit, Korkyra einen empfindlichen Schlag zu versetzen, das Machtgebiet im Westen zu erweitern und das durch Athens Erfolge beträchtlich [6] geschädigte Ansehen wiederherzustellen. Korinth warb eine Schar neuer Ansiedler und entsandte sie mit einer durch Zuzüge aus Leukas und Ambrakia verstärkten Hilfstruppe, die auf dem Landwege nach Epidamnos gelangte. Korkyra nahm die Herausforderung an; es schloß mit den epidamnischen Aristokraten ab und sandte diesen und den mit ihnen verbündeten Illyriern 40 Schiffe zu Hilfe, die Epidamnos einschlossen und belagerten (436 v. Chr.). Darauf gingen auch die Korinther mit aller Energie vor: sie erließen eine Aufforderung zu einer neuen, größeren Verstärkung der Kolonie und rüsteten eifrig. Die Seemacht Korinths war freilich seit dem verhängnisvollen Kriege mit Athen tief herabgesunken: es besaß nur 30 Trieren. Aber von allen Staaten, zu denen es teils seit alters, teils seit dem Kriege mit Athen in näheren Beziehungen stand, erbat und erhielt es Unterstützung an Schiffen und Geld: Leukas, Ambrakia, Pale auf Kephallenia (Bd. IV 1, 565), Epidauros, Hermione, Troezen, Phlius, Elis, Megara, Theben. So brachte Korinth eine Flotte von 75 Trieren zusammen, mit denen es um so eher Korkyra gewachsen zu sein hoffte, da ein Drittel der korkyräischen Seemacht jetzt vor Epidamnos lag5.

Die korkyräischen Staatsmänner waren sich der Tragweite der Krise, die so plötzlich über sie hereingebrochen war, vollkommen bewußt. Mit Korinth allein hofften sie fertig zu werden; aber sie erkannten klar, daß ein ernsthafter Krieg sie zwingen würde, aus ihrer bisher so sorgsam gehüteten Neutralität herauszutreten und [7] bei Athen Anschluß zu suchen; und das war ebenso verhängnisvoll für die Unabhängigkeit ihres Gemeinwesens wie für ihre Stellung gegenüber der auch hier sich regenden radikalen Partei. So waren sie nichts weniger als kriegslüstern; durch Vermittlung von Sparta und Sikyon knüpften sie Verhandlungen in Korinth an und erklärten sich bereit, die Differenz einem Schiedsgericht zu überweisen. Aber von beiden Seiten war man schon zu weit gegangen; Korkyra war zu einem Waffenstillstand bereit, aber die Belagerung von Epidamnos wollte es nicht ohne Gegenkonzessionen aufheben, und noch weniger Neigung hatte Korinth, seine Ansiedler und Truppen abzuberufen oder während der Waffenruhe in ihrer gefährdeten Lage zu belassen. So war der Krieg unvermeidlich. Die Korkyräer traten der korinthischen Flotte beim Vorgebirge Leukimme, der Südspitze der Insel, mit 80 Schiffen entgegen und schlugen sie völlig (Hochsommer 436). An demselben Tage kapitulierte auch Epidamnos: die neuen Ansiedler wurden verkauft, die korinthische Garnison ebenso wie die Gefangenen aus der Seeschlacht nach Korkyra in Gewahrsam gebracht. Die Korkyräer beherrschten die See vollkommen und konnten Streifzüge gegen Leukas und Elis unternehmen. Korinth mußte alles daransetzen, die Niederlage auszugleichen. Zwei Jahre lang (435. 434) rüstete es eifrig: es brachte seine Flotte auf 90 Schiffe, warb Matrosen in ganz Griechenland und erhielt von seinen Verbündeten die Zusage kräftigster Unterstützung. Damit aber traten die Konsequenzen der Situation hervor. Korkyra fühlte sich dieser Rüstung aus eigener Kraft nicht mehr gewachsen; ihm blieb kein Ausweg als sich nach Athen zu wenden und zu versuchen, um den Preis eines Bündnisses, das tatsächlich, wenn auch nicht rechtlich, den Verzicht auf seine Unabhängigkeit enthielt, den Schutz des mächtigen Staates zu gewinnen (Hochsommer 433).

In Athen hat die Masse des Volkes den Krieg zwischen Korkyra und Korinth vermutlich nicht ungern gesehen. Direkt schien er Athen nicht zu berühren; es konnte nur als Gewinn erscheinen, wenn die beiden einzigen neben ihm überhaupt noch in Betracht kommenden Seemächte sich gegenseitig aufrieben. Daher hat man Korinth die Anwerbung von Matrosen im attischen Reich bereitwillig [8] gestattet6. Perikles blickte tiefer; damals wird er das Wort gesprochen haben, das von ihm im Gedächtnis geblieben ist: er sehe bereits den Krieg vom Peloponnes herankommen. Wenn im Jahre 434, nachdem die früher beschlossenen Zahlungen an den Schatz der Athena geleistet und den übrigen Göttern zurückgegeben war, was man von ihnen entliehen hatte (Bd. IV 1, 687.), auf Antrag des Kallias7 bestimmt wurde, daß hinfort die Tempelschätze nicht mehr angerührt werden sollten, es sei denn, daß vorher Indemnität erteilt sei, wie bei einem Antrag auf Erhebung einer Vermögenssteuer, und daß die bei den Hellenotamien jährlich bleibenden Überschüsse zu einem weiteren im Opisthodomos verwahrten Staatsschatz aufgesammelt werden sollten8, so spricht sich darin die Rücksicht auf die drohende Kriegsgefahr deutlich aus. Die Zeiten, wo Athen seine Einkünfte zu Luxusbauten verwenden durfte, waren vorbei. Perikles sah, daß das Hilfsgesuch Korkyras kommen mußte: und damit war seines Erachtens der Krieg, nicht mit Korinth, sondern mit Sparta und dem gesamten peloponnesischen Bunde, so gut wie gewiß, mochte Athen sich entscheiden, wie es wolle. Gewährte man das Bündnis, so war Korinth, bisher die Hauptstütze der peloponnesischen Friedenspolitik, aufs schwerste verletzt und mußte fortan alles daransetzen, den Entscheidungskampf herbeizuführen; wies man Korkyra ab, so erlag es entweder den Gegnern, oder es unterwarf sich ohne Kampf. Das aber ergab nicht nur eine Verschiebung der Machtverhältnisse, die Athen nicht dulden durfte, sondern es zeigte auch, daß Athen sich vor dem Krieg fürchtete, und stärkte den Gegnern den Mut. Alsdann mußten die feindlichen Stimmungen im Peloponnes das Übergewicht er halten, und so hatte man den Krieg doch, nur daß man die Macht der Gegner durch eigene Schuld hatte anwachsen lassen und mit einer schweren moralischen Niederlage in denselben eintrat. So gab es, als die korkyräischen Gesandten und zugleich [9] Gesandte von Korinth mit Gegenvorstellungen in Athen eintrafen, die lebhafteste Diskussion in der Volksversammlung. Perikles, in der Überzeugung, daß der Krieg bereits nicht mehr zu vermeiden sei, scheint für den Abschluß eines vollen Bündnisses eingetreten zu sein9. Ein formeller Friedensbruch war das nicht, da der Vertrag von 446 die Aufnahme bisher neutraler Staaten beiden Kontrahenten ausdrücklich freigegeben hatte; indessen tatsächlich involvierte es die Kriegserklärung an Korinth. Daher ist die Mehrheit so weit nicht gegangen; Athen sollte den Krieg nicht selbst provozieren, und die Worte der Korinther, die mit vollem Recht auf ihr loyales Verhalten zur Zeit des samischen Aufstands verweisen konnten, hatten tiefen Eindruck gemacht. In der ersten Versammlung kam es nicht zur Entscheidung. Am nächsten Tage aber gelangte die Überzeugung zum Durchbruch, daß man Korkyra nicht fallen lassen dürfe, zumal auch mit Rücksicht auf die Verbindung mit Italien und Sizilien, wo Athens Ansehen soeben durch den Abfall Thuriis einen schweren Schlag erlitten hatte (Bd. IV 1, 731); es müsse für Athen weitaus das Erwünschteste sein, wenn Korinth und Korkyra ernsthaft aufeinander losschlügen und sich gegenseitig schwächten, so daß, wenn der große Krieg wirklich ausbräche, die Peloponnesier zur See ohnmächtig wären. Daher müßte man Korkyra unterstützen. Den offenen Bruch glaubte man vermeiden zu können, indem man nicht ein volles Bündnis, sondern nur ein Schutzbündnis mit Korkyra abschloß, das zu einem Angriff auf die Korinther nicht verpflichtete. Vermutlich hat Perikles selbst auf diesen Ausweg hingewiesen, durch den sich der Ausbruch des großen Krieges vielleicht doch noch umgehen ließ, ohne Athen etwas zu [10] vergeben. So wurden unter Führung des Lakedaimonios, des Sohnes Kimons, und zweier anderer Strategen zu Anfang August 433 zehn Schiffe nach Korkyra geschickt, mit dem Auftrag, einem Angriff auf die Stadt oder ihr Gebiet entgegenzutreten, im übrigen aber jeden Kampf mit den Korinthern zu vermeiden10.

Als die Entscheidung in Athen gefallen war, stachen die Korinther mit 150 Schiffen in See, 90 eigenen, 60 von Elis, Megara, Ambrakia und Leukas gestellten11. Das Fußvolk Korkyras, durch 1000 Hopliten von Zakynthos verstärkt, deckte die Südspitze der Insel; die Flotte, 110 Schiffe stark, dazu die Athener auf dem rechten Flügel, nahm auch diesmal im Sunde zwischen Leukimme und dem Festland, bei den Sybotainseln an der epirotischen Küste, Stellung. Hier kam es denn in den ersten Tagen des September 433 zur Schlacht. Auf beiden Seiten waren die Verdecke dicht mit Hopliten, Schleuderern, Schützen besetzt; die entwickelte Seetaktik der Athener und ihre Schiffsmanöver waren beiden noch fremd. So drängten und verbissen die Schiffe sich ineinander; der Kampf gewann fast den Charakter einer Landschlacht. Den rechten Flügel der Feinde, wo die Megarer und Ambrakioten standen, gelang es den Korkyräern zu werfen und meilenweit bis zum Lager, das sie ausplünderten, zu verfolgen. Die Korinther dagegen behaupteten sich nicht nur, sondern brachten schließlich den durch das unbesonnene [11] Vordringen ihres linken Flügels geschwächten Hauptteil der Korkyräer in die ärgste Not. Die Athener hatten sich bis dahin vom Kampfe ferngehalten und nur einzelne Schiffe zu decken versucht; jetzt aber blieb ihnen nichts übrig, als einzugreifen und zu retten, was noch zu retten war. Es war zu spät, und sie waren zu schwach; die Korkyräer wurden vollständig geschlagen. 70 Schiffe, über die Hälfte ihrer Flotte, hatten sie verloren, dazu eine sehr große Zahl Tote und 1000 Gefangene; der Verlust der korinthischen Flotte betrug 30 Schiffe. – Gegen Abend des Schlachttages gingen die Korinther gegen die Insel vor; die Korkyräer und Athener, um ihnen die Landung zu wehren, stellten sich zu einem zweiten Verzweiflungskampf. Da erschien plötzlich im Rücken der Korinther ein neues Geschwader von 20 Schiffen, das die Athener in der Besorgnis, das erste möge für seine Aufgabe zu schwach sein, ihm drei Wochen später nachgesandt hatten. Es kam gerade noch zur rechten Zeit: die Korinther wagten jetzt nicht mehr, den Kampf aufzunehmen, sondern zogen sich nach Sybota und von hier, nachdem sie Anaktorion am Eingang des Golfs vom Ambrakia in ihre Gewalt gebracht hatten, nach Hause zurück, von den Feinden nicht verfolgt, da die Athener auch jetzt noch den offenen Friedensbruch meiden wollten. Das unmittelbare Ergebnis des Kampfes war für die attische Politik so günstig wie möglich: beide Gegner hatten sich gründlich geschwächt, und Korkyra blieb nichts übrig, als sich ganz Athen in die Arme zu werfen. Dafür hatte man freilich die Gewißheit eingetauscht, daß Korinth alles daransetzen würde, um für den Eingriff Athens Rache zu nehmen. Die Gelegenheit dazu ließ nicht auf sich warten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 6-12.
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