Allgemeine Lage. Der Samische Krieg

[710] Nach den Friedensschlüssen von 448 und 446 haben alle kontrahierenden Mächte sich ernstlich bemüht, den Frieden zu erhalten. Der Großkönig hatte zwar eine direkte Anerkennung des attischen Besitzstands nicht ausgesprochen und seine Rechte gewahrt; aber sie geltend zu machen konnte er, der 30 Jahre hindurch den Krieg nur noch defensiv geführt hatte, jetzt um so weniger versuchen. Ob man freilich nicht zugreifen würde, wenn die politische Konstellation ohne größere Anstrengungen die Wiedergewinnung der verlorenen Positionen in Aussicht stellte, war eine andere Frage. Einstweilen aber hielt das Perserreich jahrzehntelang vollständige Ruhe, die nur durch einzelne Rebellionen und das immer stärkere Hervortreten der inneren Schwäche des Weltreichs getrübt wurde. In Ägypten begnügte man sich mit der Wiederunterwerfung des eigentlichen Niltals, dessen Erträge das [710] Reich nicht entbehren wollte, ließ dagegen im westlichen Delta die kleinen libyschen Dynasten in halber Unabhängigkeit bestehen, ja gab dem Thamyras und Pausiris875, den Söhnen des Inaros und Amyrtäos, die Gebiete ihrer Väter zurück. Von größerer Bedeutung war, daß Megabyzos, der Eroberer Babylons und Ägyptens, des Königs Schwager und der treueste Mann am Hofe (o. S. 551), entrüstet über den an Inaros begangenen Treubruch (o. S. 570) sich um 448 v. Chr. in seiner Provinz Syrien empörte. Zwei persische Heere hat er mit den Truppen dieses Landes und angeworbenen griechischen Söldnern geschlagen; dann hat er sich auf billige Bedingungen unterworfen und ist dank der Vermittlung seiner Gemahlin und der Königin zeitweilig noch wieder in hohe Gunst gelangt876.

Auch Sparta und seine Bundesgenossen haben am Frieden festgehalten. Das Unentbehrlichste hatte man erreicht, aber zugleich sich überzeugen können, wie schwer es war, dem Gegner wirklich beizukommen und gar ihn niederzuwerfen. Auch bedurfte namentlich Korinth dringend der Erholung von den schweren Verlusten der Kriegsjahre. Spannung war freilich genug vorhanden. Mit Geringschätzung blickten die Landleute und Adligen der peloponnesischen Gaue und nun gar die waffenfrohe spartanische Jugend auf die attischen Bauern und Händler herab, von denen man sich doch überall wirtschaftlich abhängig fühlte. Die Küstenstädte und Handelsplätze sahen sich von Athens Übermacht umklammert und aus einer Position nach der anderen gedrängt. Und dazu gravitierte die demokratische Partei, die sich in allen Gemeinwesen regte und in manchen, wie Elis und Mantinea, bereits die Herrschaft gewonnen hatte, überall zu Athen als ihrem natürlichen Beschützer und Bundesgenossen. So war der Haß überall lebendig; wenn man sich zurückhielt und den Frieden ehrlich zu wahren suchte, war es, weil man die Leidenschaft bezwang und [711] der kühl rechnenden Vernunft die Führung überließ. Nur zu leicht aber konnte die verhaltene Stimmung zum Durchbruch gelangen; jeder kleinste Anlaß mochte unter Umständen den Kriegsbrand aufs neue entfachen.

Ein solcher Anlaß schien gekommen, als die alte Rivalität zwischen Samos und Milet zu einem offenen Konflikt führte877. Die Samier waren in den ersten Jahrzehnten des Bundes die eifrigsten Anhänger Athens gewesen; sie hatten 477 zu dem Übergang der Ionier zu Aristides den Anstoß gegeben (o. S. 458) und später 454 die Verlegung der Bundeskasse nach Athen beantragt (o. S. 571). Aber sie waren selbständig, unter aristokratischer Verfassung, und besaßen eine Kriegsflotte von über 50 Trieren, beträchtlich stärker als die Flotte Korinths; Grund genug für Athen, daß es strebte, sie zu demütigen. Milet dagegen stand, seit hier durch attische Intervention die Demokratie durchgeführt war (o. S. 575), bei Athen in hoher Gunst. So hat Athen um 442 die Nachbargemeinde Priëne, die seit alters mit Samos um die Besitzungen am Mykale [712] in Grenzfehde lebte (Bd. III2 S. 405, den Milesiern unterstellt: Priene verschwindet seitdem aus den Tributlisten878. Die Samier ergriffen infolgedessen gegen Milet die Waffen; die weit schwächeren Milesier wandten sich um Hilfe nach Athen. Athen ergriff die Gelegenheit, um auf Samos zu intervenieren. Die Aristokratie wurde gestürzt, die befreundeten Demokraten ans Ruder gebracht, eine Garnison in die Stadt gelegt, von den Vornehmen Geiseln genommen und nach Lemnos in Sicherheit gebracht (Frühjahr 440)879. Aber ein Teil der Aristokraten flüchtete zu Pissuthnes, dem Satrapen von Sardes, und erhielt von ihm Unterstützung. Mit 700 Mann überfielen sie Samos bei Nacht, stürzten die Demokratie, nahmen die attische Besatzung gefangen und lieferten sie an Pissuthnes aus; auch die Geiseln gelang es aus Lemnos zu befreien. Damit war der Krieg erklärt. Athen auf die Dauer zu widerstehen, konnten die Samier nicht hoffen, wenn sie allein blieben; aber wie beim Thasischen Aufstand schien auch hier die Erwartung begründet, daß die Empörung den Anstoß zur Eröffnung des allgemeinen Kriegs bieten werde. Die von Pissuthnes gewährte Unterstützung war zwar nach griechischem Völkerrecht kein Vertragsbruch; doch durfte man erwarten, daß Persien weitergehen und die einzigartige Gelegenheit, eine Position im Ägäischen Meer wiederzugewinnen, ausnützen werde. Vor allem aber richtete man seine Hoffnung auf Sparta und die Peloponnesier, denen sich jetzt eine unvergleichliche Gelegenheit zu bieten schien, Athen zu überfallen, wo seine Seemacht ernstlich engagiert war. Auch gärte es überall im attischen Reich; eine Reihe von Orten in Karien traten [713] zu Persien über, und das große und durch seine Lage am Eingang des Pontos so wichtige Byzanz880 schloß sich dem Aufstand an; aus manchen thrakischen Orten ging der Tribut nicht ein. Auch Lesbos durfte man hoffen zu gewinnen, da die Aristokraten Mytilenes längst der attischen Herrschaft überdrüssig waren.

Aber noch wirkte das Ergebnis des letzten Kriegs nach. Wohl waren manche Peloponnesier bereit, zu den Waffen zu greifen; doch die Korinther erklärten sich entschieden dagegen: die Peloponnesier hätten so wenig ein Recht, wider Athens Verfahren gegen abtrünnige Bundesgenossen zu intervenieren, wie im umgekehrten Falle Athen. Korinths Haltung gab den Ausschlag; Sparta wies das Gesuch der Samier ab881. Zweifelhafter war, wie Persien sich verhalten würde. Um so weniger hat Perikles gezögert, rasch und energisch vorzugehen. Sofort auf die Kunde von den Vorfällen auf Samos ging er mit nur 60 Trieren, aber mit sämtlichen Strategen in See. 16 Schiffe wurden zur Deckung gegen einen etwaigen persischen Angriff nach Karien und zur Heranziehung der Kontingente von Chios und Lesbos entsandt; mit den übrigen ging Perikles der samischen Flotte entgegen. Die Samier hatten ein so rasches Handeln nicht erwartet und inzwischen Milet angegriffen. Als sie jetzt zurückkehrten, 50 Kriegs- und 20 Transportschiffe für die Landtruppen, wurden sie bei der Insel Tragia zwischen Milet und Samos abgefangen und geschlagen; doch gelang es ihnen, nach der Heimat durchzubrechen882. Als dann Verstärkungen von Athen, Chios und Lesbos eingetroffen waren, konnte man landen und sich zur Belagerung von Samos anschicken. Aber man fühlte sich der Perser so wenig sicher, daß Perikles mit 60 Schiffen einer phönikischen Flotte, deren Herannahen man befürchtete, entgegenfuhr. Das gab den Samiern die Möglichkeit, die Blockade [714] zu durchbrechen und Vorräte einzuführen. Indessen die persische Flotte kam nicht; auch diesmal hatte das Reich nicht den Mut, sich zu einem voraussichtlich doch hoffnungslosen Angriff aufzuraffen. Perikles konnte mit weiteren Verstärkungen zurückkehren, die Samier schlagen und jetzt die regelrechte Belagerung beginnen. Sie wurde mit aller Energie geführt, unter Anwendung neuer Belagerungsmaschinen, die Artemon von Klazomenä erfunden hatte. Aber auch die Samier wehrten sich tapfer, unter Führung des Staatsmanns und Philosophen Melissos, der das Feldherrnamt bekleidete. Endlich nach neun Monaten mußte die Stadt kapitulieren. Sie mußte ihre Mauern niederreißen, die Schiffe ausliefern, die Demokratie wiederherstellen und Geiseln stellen, die Herrschaft über die Insel Amorgos aufgeben, außerdem aber die Kriegskosten zahlen, die sich auf mindestens 1404 Talente (ca. 7638000 Mark) beliefen883 – so viel ergeben die Bruchstücke der teilweise erhaltenen Abrechnung über die Anleihen beim Tempelschatz der Athena. Für einen Teil der Summe ließ Athen sich Land für den Staat und die Götter abtreten, 1200 Talente mußten in Jahresraten abgetragen werden. So verlor Samos seine Autonomie; ein tributärer Bundesgenosse im älteren Sinne dagegen wurde es nicht, da man jetzt prinzipiell auf eine Erweiterung des Bundesgebiets verzichtete (o. S. 694). Dafür wird Athen wohl Zölle und vielleicht auch Abgaben auf eigene Rechnung erhoben haben.

Nach dem Fall von Samos ist auch Byzanz in das Untertanenverhältnis zurückgetreten; es mußte sich eine beträchtliche Erhöhung seines Tributs gefallen lassen. Andere Verluste dagegen ließen sich nicht wieder einbringen. Alle Binnenorte Kariens, die bisher zum Bund gehört hatten, wie Mylasa, Hyromos, Chalketor, Idyma, Kalynda, der Dynast Tymnes und zahlreiche kleinere Gemeinden, ferner ein großer Teil der karischen Küstenstädte wie Bargylia, Keramos, Pargasa, Krya, fielen ab und traten unter die persische Oberhoheit zurück, obwohl sie größtenteils noch im[715] Jahre 440/39, offenbar unter dem Druck der attischen Flotte, Tribut gezahlt hatten. In Anaia, südlich von Ephesos, setzten sich flüchtige Samier fest und behaupteten sich unabhängig884. Eine Wiederunterwerfung der abtrünnigen Gemeinden wäre auch unter anderen Umständen ein langwieriges und problematisches Unternehmen gewesen; diese Gebiete ließen sich gegen den Willen der Bevölkerung von der See aus auf die Dauer nicht behaupten. Jetzt kam aber hinzu, daß ein Angriff unfehlbar zum Konflikt mit Persien hätte führen müssen, das ja den Vertrag nicht verletzte, wenn es die freiwillig unter seine Herrschaft zurückkehrenden Untertanen aufnahm. So verzichtete Athen auf jedes Vorgehen. Auch der lykische Städtebund hatte, wie es scheint, schon seit Jahren keinen Tribut mehr gezahlt – in den Listen erscheint er nur 446/5 –; jedenfalls machte er sich jetzt völlig von Athen unabhängig und wurde wieder persisch885. So behauptete Athen von allen Errungenschaften des Eurymedonfeldzugs im wesentlichen nur noch die griechischen Küstenstädte und die Inseln, die hier um des nationalen Gegensatzes willen fest zu Athen hielten, auch Phaselis im Osten Lykiens. Die karische Provinz schrumpfte dadurch so zusammen, daß man sie von der Schätzung von 439 ab mit Ionien zu einem Bezirk vereinigte. Militärisch und politisch kam auf die verlorenen Gebiete nicht allzuviel an, und der Ausfall von etwa 25 Talenten Tribut ließ sich verschmerzen und eventuell durch Erhöhung anderer Tribute ersetzen. Aber fast noch deutlicher als der vorige große Krieg hatte der samische Aufstand den rein defensiven Charakter der Stellung Athens enthüllt. Die eigentlichen Gegner, Persien und die Peloponnesier, hatten nicht gewagt, in den Krieg einzugreifen, die Samier waren vollständig niedergeworfen: trotzdem ist Athen nicht ohne ansehnlichen Verlust aus dem Krieg hervorgegangen und hat nicht einmal versuchen können, die exponiertesten Positionen seines Reichs wiederzugewinnen. [716] Die Stimmung der Freiheitskriege war eben verrauscht, unter den kleinasiatischen Griechen und nun vollends unter den halbhellenisierten Asiaten gab es viele, vor allem in der aristokratischen Partei, die die persische der athenischen Herrschaft vorzogen. Um so dringender war es für Athen geboten, den Kern seines Reichs mit starker Hand und, wenn es sein mußte, mit rücksichtsloser Gewalt zusammenzuhalten, und deshalb überall den Demokraten das Regiment zu sichern, die, wenn nicht aus Idealismus, so doch um ihrer Interessen willen an Athen festhalten mußten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 710-717.
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