Verhandlungen. Annahme des Kriegs durch die Athener

[19] So war seit dem Spätherbst 432 der Krieg beschlossene Sache; aber beginnen konnten ihn die Peloponnesier erst im nächsten Frühjahr, wenn die Zeit zum Einfall in Attika gekommen war. Die Zwischenzeit benutzte Sparta zu diplomatischen Verhandlungen, um möglichst starke Kriegsgründe zu gewinnen, das Vertrauen in die Gerechtigkeit der eigenen Sache zu stärken und bei den Feinden und ihren Untertanen zu erschüttern; auch war es ja möglich, daß Athen in einzelnen Punkten nachgab und dadurch seine Stellung[19] selbst schwächte, oder selbst daß es so große Konzessionen machte, daß die Peloponnesier sich ohne Krieg zufrieden geben konnten. Man wußte, daß nichts zu erreichen war, solange Perikles die Zügel der attischen Politik fest in der Hand hielt, der gefährlichste Führer der Feinde im bevorstehenden Kriege und zugleich der Mann, der allen Ansprüchen der Peloponnesier schroff abweisend entgegengetreten war. Gelang es, ihn zu stürzen oder wenigstens seine Stellung so zu erschüttern, daß die Athener ihm nicht mehr mit vollem Vertrauen folgten und er selbst in seinen Entschlüssen wankend wurde, so hatten die Peloponnesier von Anfang an das Spiel fast gewonnen. So war die erste Forderung, die Sparta an Athen stellte, direkt gegen ihn gerichtet; wie ehemals, als Kleomenes gegen Kleisthenes vorging (Bd. III2, S. 740), verlangte es die Verjagung des fluchbeladenen Geschlechts, dem Perikles von Mutterseite angehörte. Daß Athen das bewilligen werde, erwartete man natürlich nicht; und als Athen mit der ironischen Gegenforderung antwortete, man solle in gleicher Weise ein an schutzflehenden Heloten begangenes Verbrechen und den bei Pausanias' Tod im Tempel der Chalkioikos verübten Frevel sühnen, ließ Sparta die Sache fallen. Aber man hatte den Athenern zu Gemüt geführt, daß ein mit altererbtem Fluch beladener Mann an ihrer Spitze stehe, unter dessen Führung die Götter ihnen nimmermehr den Sieg verleihen konnten, und den Gegnern, die sich daheim gegen Perikles erhoben, einen neuen dankbaren Stoff zu ihren Angriffen gegeben. Wie stark die Insinuation gewirkt hat, lehrt am deutlichsten, daß wenige Jahre später Herodot in seinem Geschichtswerk den freilich vollkommen mißglückten Versuch gemacht hat, den bei der Hinrichtung der Kyloneer begangenen Frevel von dem Archon Megakles auf die Prytanen der Naukraren abzuwälzen (Bd. III2, S. 591)18.

Auf dieses klug berechnete Vorspiel folgten ernsthaftere Forderungen. Die Spartaner verlangten die Aufhebung der Belagerung Potidäas, die Freigebung Äginas, vor allem aber die Aufhebung des megarischen Psephismas. Auf letzteres legten sie den Hauptnachdruck; [20] denn hier war am ersten ein Erfolg zu erreichen, da es Athen keinerlei materiellen Gewinn brachte, wohl aber die Gehässigkeit der Maßregel offenbar war. So fehlte es denn auch in Athen nicht an Leuten, die rieten, in diesem Punkte nachzugeben und nicht um seinetwillen einen Krieg auf Tod und Leben herbeizuführen. Aber eben darum hatte Perikles es in den Konflikt hineingeworfen: es sollte den Prüfstein abgeben für den unweigerlichen Entschluß Athens, auch nicht um Haaresbreite von seinen Rechten zu weichen. Daß die Spartaner nicht um seinetwillen zum Kriege rüsteten, hatten sie selbst bewiesen, indem sie zuerst die Verbannung der Alkmeoniden verlangt hatten und auch jetzt andere Forderungen daneben erhoben; es war für sie nichts als ein Versuch, Athen zur Nachgiebigkeit zu verleiten und dadurch von Anfang an moralisch zu schwächen; jeder, der die Situation übersah, mußte überzeugt sein, daß, wenn Athen diese Forderung bewilligte, sofort andere nachfolgen würden. »Glaube niemand von Euch«, läßt Thukydides den Perikles in der Volksversammlung sagen, »daß wir um eine Kleinigkeit Krieg führen, wenn wir das megarische Psephisma nicht aufheben, wenn die Feinde Euch auch vorspiegeln, es werde wohl nicht zum Kriege kommen, wenn dies beseitigt werde, und laßt in Euch nicht den Vorwurf aufkommen, daß Ihr um eine geringe Sache in den Krieg geraten seid. Denn diese Kleinigkeit enthält die Bewährung und den Prüfstein Eures Urteils: wenn Ihr ihnen hierin nachgebt, wird sofort irgendeine größere Forderung an Euch gestellt werden in der Erwartung, daß Ihr aus Furcht auch diese bewilligen werdet; wenn Ihr es aber zurückweist, stellt Ihr dadurch klar, daß sie wie Gleiche zu Gleichen mit Euch verhandeln müssen.« Im Falle von Differenzen schrieb der Friedensvertrag ein Schiedsgericht vor; dazu ist Athen jederzeit bereit, aber nicht zur Erfüllung einer mit Kriegsdrohung verbundenen Forderung, deren Erfüllung tatsächlich einer Unterwerfung unter die Gegner gleichkommt. »Daher müßt Ihr Euch sogleich jetzt entschließen, entweder überhaupt ohne Kampf nachzugeben, oder aber, und das ist meine Ansicht, weder in großen noch in kleinen Fragen nachzugeben und daher den Krieg aufzunehmen.« Perikles hat seine Ansicht durchgesetzt. Bei allen Verhandlungen erhielt Sparta nur die Antwort, daß Athen [21] bereit sei, alle schwebenden Fragen einem Schiedsgericht zu überweisen, daß es aber bis dahin ablehnen müsse, irgendeine der spartanischen Forderungen zu erfüllen. Dabei blieb es auch, als Sparta bei der letzten Verhandlung, als es sah, daß in Athen nichts mehr zu erreichen war, mit der allgemeinen Erklärung hervortrat, Sparta wünsche den Frieden, aber es könne ihn nur bewilligen, wenn Athen seine Bundesgenossen ihrer Verpflichtungen entlasse und die Autonomie von Hellas wiederherstelle.

So hat Perikles den Entschluß zum Kriege in Athen durchgesetzt; in den Augen der Mitwelt wie der Nachwelt lastet auf ihm die Verantwortung für den gewaltigen Kampf, der in seinem weiteren Verlauf, nachdem der Versuch, ihn zum Stillstand zu bringen, binnen wenig Jahren gescheitert war, den Untergang Athens herbeigeführt hat. Aber nicht aus freier Wahl hat er die Entscheidung gesucht und erzwungen, sondern aus der festbegründeten Überzeugung des weitblickenden Staatsmanns, daß die Entscheidung bereits gefallen sei, daß es für Athen keinen anderen Ausweg gebe, es sei denn, daß es freiwillig sich fügen und dadurch selbst seine Großmachtstellung vernichten wolle. Die Gegner wollten den Krieg, weil sie sich auf allen Seiten von Athen beengt fühlten, weil dieses Korinth auf einem Gebiet entgegengetreten war, wo es sich nicht zurückhalten durfte, da dasselbe an die Grundlage der attischen Macht, die absolute Seeherrschaft, rührte: Korinth hatte das widerstrebende Sparta und seinen Bund zum Kriege gezwungen. Jetzt traten die Peloponnesier in den Krieg mit dem umfassendsten Programm, das allein sie zum Ziel führen konnte: es galt, den gefährlichen Gegner, der ihnen die Bewegungsfreiheit raubte, zu vernichten, nachzuholen, was man 446 kleinmütig versäumt hatte. Die letzte Forderung Spartas hatte das Ziel vor aller Welt enthüllt, und eben deshalb war sie ausgesprochen worden: nicht um kleiner Vorteile und streitiger Interessen willen unternahm Sparta mit seinen Bundesgenossen den Krieg, sondern um ganz Hellas von der drückenden Gewaltherrschaft zu befreien, die auf ihm lastete. Erst dadurch erhielt der Krieg seinen wahren Inhalt; zugleich gewann man so die Sympathien der ganzen Griechenwelt. Die Angreifer, die den vertragsmäßig gebotenen Ausweg eines Schiedsgerichts verschmähten, [22] befanden sich in Wahrheit in der Notwehr gegen unerträglich gewordene Übergriffe; sie griffen zu den Waffen, um die natürliche Ordnung der Hellenenwelt wiederherzustellen, sie stellten den Untertanen Athens die Freiheit in lockende Aussicht. Der Inhalt der ganzen bisherigen Entwicklung faßt sich zu einer großen Aktion zusammen, die die definitive Entscheidung bringen zu müssen schien: gegen die demokratische Großmacht erhebt sich ihr zurückgedrängter Rivale mit dem Programm des Partikularismus und der alten aristokratisch-konservativen Staatsordnung. Es ist Perikles' unsterbliches Verdienst, daß er, was eine Notwendigkeit geworden war, in einen freien Entschluß der attischen Bürgerschaft umzuwandeln vermochte19. Das Verdienst ist um so größer, da sich gegen Perikles' Stellung gerade jetzt die erbittertsten Angriffe erhoben hatten, Angriffe, die von Sparta eben infolge seiner [23] kriegerischen Haltung mit großem Geschick unterstützt wurden. Jetzt zeigte sich, wie gewaltig Perikles' Persönlichkeit gewachsen war, seit er vom Parteihaupt zum leitenden Staatsmann emporgestiegen war: in dieser entscheidenden Krisis seines Lebens hat er sich als der große Staatsmann bewährt, der ganz und untrennbar mit seinem Staat verwachsen ist, und so fällt von hier aus ein helles Licht zurück auf seine ganze Laufbahn, das alle Gebrechen überstrahlt, die früher seiner Politik anhafteten. Jeder Politiker, der auch nur die geringste Rücksicht auf seine eigenen Interessen, auf seine persönliche Machtstellung genommen hätte, wäre vor einer Entscheidung zurückgebebt, deren Folgen bei jedem Rückschlag auf sein Haupt zurückfallen mußten, er hätte versucht die Dinge hinzuhalten und durch Konzessionen die Gegner abzufinden. Denn nicht als Eroberungskrieg, wie die Kämpfe seiner Jugendzeit, nicht in glänzenden Kriegszügen und Schlachten dachte Perikles den neuen Krieg zu führen, sondern als reinen Defensivkrieg. Immer aufs neue warnte er die Athener vor dem Versuch, »während des Kriegs eine Erweiterung ihres Machtgebietes zu erstreben oder sich freiwillig in Gefahr zu begeben«; aber sie waren imstande, ihn länger auszuhalten als die Feinde, so daß diese schließlich erschöpft von dem Versuch abstehen mußten, Athen zu bewältigen – eine Voraussage, die sich trotz der Pest und trotz aller Mißgriffe im einzelnen [24] durch den Ausgang des archidamischen Krieges buchstäblich erfüllt hat. Er mutete den Athenern nicht weniger zu als seiner Zeit Themistokles: sie sollten das einzige Pressionsmittel, das die Feinde hatten, das flache Land Attikas, freiwillig räumen und ohne Schwertstreich zusehen, wie jene es Jahr für Jahr verwüsteten –: »dürfte ich glauben, Euch dafür gewinnen zu können, so würde ich Euch auffordern, selbst Euere Besitzungen zu verwüsten und den Peloponnesiern zu zeigen, daß Ihr um dieser Güter willen nicht nachgeben werdet«, läßt Thukydides ihn sagen. Das waren Verluste, die sich, so empfindlich sie den einzelnen treffen mußten, nach dem Frieden in wenig Jahren wieder ausgleichen ließen; jetzt aber kam alles darauf an, die Kräfte zu schonen, vor allem die Kräfte an Menschenleben, und nicht in einer Feldschlacht nutzlos alles aufs Spiel zu setzen. Denn schwerlich konnte diese jemals siegreich enden, und auch im Falle eines Sieges brachte sie keinen dauernden positiven Gewinn, da die feindlichen Heere an Zahl wie an militärischer Ausbildung Athen weitaus überlegen waren. Mit einem solchen Programm führt kein Staatsmann sein Volk in den Krieg, weil er seine im Innern erschütterte Stellung durch die Lorbeerendes Siegers stärken will, sondern nur dann, wenn er über jede persönliche Rücksicht erhaben ist.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 19-25.
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