Solon von Athen

[589] Weit später als die Isthmosgebiete ist Attika in den Strom des kommerziellen Lebens und damit in die Epoche der Ständekämpfe eingetreten. Seit dem Ende der mykenischen Zeit steht die Landschaft dem Leben der Nation fern. Zwar beteiligt sich Athen am delischen Fest (hymn. Apoll. 30) – die jährliche Entsendung eines Festschiffs nach Delos, welche die Sage auf die Zeit des Theseus zurückführt (Plato Phädon 58), wird sehr alt sein –, die Fühlung mit Ionien, die im Dialekt hervortritt, blieb erhalten, die ionische Dichtung und Sage fand Eingang; aber auf die Ausbildung der Sage hat Athen gar keinen Einfluß geübt. Zu Lande dehnte sich die Macht der Hauptstadt aus, die marathonische Tetrapolis und Eleusis wurden einverleibt (o. S. 312), zur Schaffung einer Seewehr teilte man das Land in 48 Distrikte (Naukrarien, o. S. 288); doch an der Entwicklung des Handels, an [589] der Kolonialgründung hat das Land keinen Anteil genommen. Das Land ist steinig und wasserarm, nur die Ebenen von Athen und Eleusis geben größeren Ertrag; ein Export der Produkte des Ackerbaus war daher unmöglich. Erst durch die Entwicklung der Ölkultur (o. S. 331) wurde ein ausfuhrfähiges Erzeugnis der Bodenkultur gewonnen. Daneben hat sich die Töpferindustrie früh entwickelt – später behauptet Athen sogar die Mutterstadt der Töpferei zu sein, weil Dädalos in Attika heimisch ist (Kritias fr. 1, 12) –; Attika war ein Hauptsitz der Fabrikation von geometrischen (Dipylon-)Vasen. Einzelne Adelsgeschlechter haben sich gewiß schon früh an kommerziellen Unternehmungen beteiligt, der ungeheure Reichtum des Alkmeonidengeschlechts z.B., den die Legende aus seinen Beziehungen zum Hof von Sardes ableitet (Herod. VI 125), stammt offenbar aus Handelsverbindungen mit Lydien. Trotzdem werden in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts nur wenige attische Kaufschiffe auf dem Strande von Phaleron gelegen haben. Die kleinen Nachbarstaaten Megara und Ägina waren politisch und in ihren Machtmitteln Athen durchaus überlegen. Ägina beherrschte den attischen Handel, von hier aus drangen die pheidonischen Maße nach Athen, das äginetische Geld kursierte in Attika wie im Peloponnes. Die Megarer besaßen Salamis und sperrten damit die Bucht von Eleusis; vergeblich versuchten die Athener ihnen die Insel zu entreißen. Nur langsam bereitet sich ein Umschwung, eine Erschütterung der bestehenden Ordnung vor, nicht am wenigsten durch die Parteiungen innerhalb des Adels selbst. Um die Mitte des 7. Jahrhunderts steht die Adelsherrschaft noch unangetastet da. Ihre Gestalt haben wir früher kennengelernt; alle politische Macht und der beste Teil des Grundbesitzes war in den Händen der großen Familien konzentriert. Auch in Athen herrscht das glänzende Leben der Aristokratie; nicht wenige attische Adlige haben in Olympia Siegespreise gewonnen; eines der reichsten Geschlechter, die Philaiden, die mehrfach das Archontat besetzt haben, verschwägerte sich mit den Tyrannen von Korinth (o. S. 578). Kylon, der im J. 640 in Olympia im Doppellauf gesiegt hatte, freite die Tochter des Theagenes von Megara. Von [590] ihm ging die erste Erschütterung des Staatswesens aus, von der wir Kunde haben. Sein Reichtum, sein Ansehen bei den Altersgenossen, seine Verbindungen verführten ihn zu dem Versuch, sich zum Tyrannen zu machen; er mochte hoffen, in der beginnenden Unzufriedenheit eine Stütze zu finden. Sein Schwiegervater gab ihm Truppen, mit seinem Anhang besetzte er die Burg. Aber der Anschlag mißlang. Die Regierung, an der Spitze der Archon Megakles aus dem Alkmeonidenhause, raffte sich auf, die Bauernschaft, damals der Adelsherrschaft noch treu ergeben, strömte vom Lande herein und belagerte ihn auf der Burg. Kylon und sein Bruder entkamen, seine Anhänger mußten kapitulieren; doch wurde ihnen, da sie an die Altäre geflüchtet waren, das Leben zugesichert. Allein das Versprechen wurde nicht gehalten; Megakles ließ die Gefangenen überfallen und niedermachen, seine Familie befleckte sich mit ihrem Blut. Über die Anhänger des Usurpators sprachen die Prytanen als politischer Gerichtshof (o. S. 324f.) das Urteil: es lautete auf ewige Verbannung (etwa 636 oder 632)848.

Die Usurpation war gescheitert; aber die Gegensätze, die in [591] ihr zutage getreten waren, nahmen eine um so schärfere Gestalt an. Die Familien und Faktionen des Adels bekämpften sich, die nichtadlige Bürgerschaft und die Bauern begannen sich zu regen. Das frevelhaft vergossene Blut bot den Vorwand und das Streitobjekt für den inneren Hader; solange es nicht gesühnt war, durfte man nicht erwarten, daß die Götter dem Gemeinwesen wieder Frieden schenken würden. Lange und gewaltsam mag hin und her gestritten sein, bis man sich zu einer Konzession entschloß; ein Gerichtshof von 300 aus den »besten Männern« gewählten Bürgern wurde eingesetzt, um den Frevlern Recht zu sprechen. Myron von Phlya erhob die Klage; die Alkmeoniden wurden verurteilt, die Lebenden auf ewige Zeit verbannt, die Leichen aus den Gräbern gerissen849. Dieser Urteilsspruch hat den ganzen weiteren Verlauf der attischen Geschichte maßgebend beeinflußt. Um den inneren Frieden herzustellen, hatte der Adel das Geschlecht fallen lassen, welches mit rücksichtsloser Energie seine Herrschaft verteidigt hatte. Der Bruch ließ sich nicht wieder ausgleichen. Die Alkmeoniden waren wohlhabend und einflußreich genug, um die Hoffnung auf Rückkehr, auf Gewinnung einer leitenden Stellung im Staate nicht fallen zu lassen. Aber nur im Kampf mit dem Adel, nicht an seiner Spitze, ließ sich das Ziel erreichen; so sind die Alkmeoniden die treibende Kraft in der attischen Geschichte geworden. – Bald darauf bewilligte die Regierung [592] eine zweite Konzession: um das J. 624 wurde Drakon mit der Abfassung eines Gesetzbuchs beauftragt850. Die Gesetze, welche er gegeben hat, tragen denselben Geist, den wir in den konservativeren unter den älteren Gesetzgebungen, z.B. bei Zaleukos, kennengelernt haben; die Härte ihrer Strafsätze ist sprichwörtlich geworden851. Dauernde Bedeutung hat nur die Regelung des Blutrechts, die Scheidung der verschiedenen Fälle des Mords, die Festsetzung des Prozeß- und des Sühneverfahrens (o. S. 530f.) gewonnen; hier hat Drakon offenbar die Institutionen, welche sich herausgebildet hatten, nicht nur rechtlich fixiert, sondern auch weiterentwickelt. Dadurch hat Drakon für die Schaffung befriedeter Zustände und die Einschränkung des Blutvergießens unter den Bürgern segensreich gewirkt852. Eine Lösung der sozialen und politischen Probleme hat er nicht versucht, sie lagen außer seiner Kompetenz. Nur die Bestrafung der selbstverschuldeten Erwerbslosigkeit (ἀργία), des Müßiggangs, angeblich mit dem Tode, dürfen wir hierherziehen853. Aber es scheint, daß er nicht einmal versucht hat, im Verkehrsrecht den neuen Strömungen irgendwie Rechnung zu tragen; die alten Anschauungen hatten noch durchaus die Oberhand.

So hat Drakons Gesetzgebung dem Staate keine andauernde Beruhigung gebracht. Auch in Attika machen sich die Wirkungen des Verkehrs geltend. Das Geld dringt ins Land und damit die [593] ökonomische Umwälzung der Landwirtschaft (o. S. 507), die hier um so größere Dimensionen annimmt, da sie nicht ein kleines Stadtgebiet, sondern eine ganze Landschaft betrifft. Die Bauern geraten in Schulden und müssen Hypotheken aufnehmen – als Zeichen der Verpfändung wird auf ihrem Grundstück ein Steinpfahl (ὅρος, vgl. Solon 24, 6 DIEHL) errichtet –, die Pächter können ihren Zins nicht zahlen, die Kätner und Tagelöhner, welche die großen Güter bewirtschaften und dafür den sechsten Teil des Ertrages erhalten (ἑκτήμοροι), können davon nicht mehr leben. Die Wirkung des Megarischen Kriegs mag die Notlage noch erhöht haben. Zahlreiche kleine Güter sind offenbar damals eingegangen und von den Großgrundbesitzern aufgekauft oder zur Deckung ihrer Vorschüsse eingezogen worden854. Wer seine Schulden nicht bezahlen kann, verfällt, wenn er nicht rechtzeitig ins Ausland flieht (Solon 24, 10f.), in Knechtschaft; in der Regel verkauft man ihn über die Grenze (Solon 3, 23ff. 24, 8ff.). Denn der Gläubiger braucht selbst Geld, und überdies ist es unbequem, den ehemals freien Landsmann zum Sklaven zu haben. Auch an Gewalttaten und ungerechten Verurteilungen (Solon 24, 9), an gewaltsamem Bauernlegen hat es nicht gefehlt. Dieser Not auf dem Lande steht die Zerrissenheit in der herrschenden Bürgerschaft gegenüber. Fast mit denselben Worten wie Theognis schildert Solon die Zustände (fr. 3f.). Alles strebt nach Gewinn, der gemeine Mann wie der Adlige; die Männer, welche das Regiment [594] in Händen haben855, füllen ihre Taschen aus den Staatsgeldern und den Einkünften der Götter, Überhebung und Geldgier bringen den Staat an den Rand des Abgrunds, Bürgerkrieg und Tyrannis stehen unmittelbar bevor.

Gleichzeitig schreitet die kommerzielle Entwicklung Attikas vorwärts (vgl. Solon 1, 43ff. DIEHL). Die Töpferindustrie läßt den alten geometrischen Stil fallen und beginnt in Anlehnung an die korinthischen Fabriken ihre Vasen mit Darstellungen aus der Sage zu schmücken; auch andere Industrien werden sich zu bilden begonnen haben. Sie suchten auswärtige Absatzgebiete so gut wie die attische Ölkultur; dagegen brauchte man vielleicht auch damals schon fremdes Getreide, namentlich in Notjahren. Es wird zu Ende des 7. Jahrhunderts gar manche adlige und nichtadlige Kaufleute gegeben haben, die über See gingen wie der Medontide Solon, ein Nachkomme des alten Königshauses, der, um sein ererbtes Vermögen zu mehren, Fahrten nach Cypern und Ägypten unternahm. Die Adelsregierung suchte diese Entwicklung zu fördern; sie trat in die Konkurrenz der alten Handelsstaaten ein. Wie die Samier um dieselbe Zeit an der Propontis in Perinthos festen Fuß faßten, besetzten die Athener den Hügel von Sigeon wenig südlich von der Mündung des Hellesponts, um an der großen Handelsstraße nach dem Schwarzen Meer Anteil zu haben – diese Kolonisation, die nur aus kommerziellen Interessen hervorgegangen sein kann, nicht aus dem Bedürfnis, ein selbständiges Auswanderungsgebiet zu gewinnen, scheint zu beweisen, daß Attika schon damals die Einfuhr pontischen Getreides brauchte856. Damit waren die Athener mitten in das Kolonisationsgebiet der Mytilenäer eingedrungen, und diese waren[595] entschlossen, die Eindringlinge zu verjagen. So entstand eine lange und wechselvolle Fehde; die Mytilenäer befestigten den sandigen Vorsprung, der nördlich von Sigeon an der Skamandermündung den Hellespont abschließt; da hier nach der Ilias Achills Schiffe gelagert hatten, erhielt der Ort den Namen Achilleon. Von hier ausgriffen sie die Athener von Sigeon an. In einem der Kämpfe verlor Alkäos seinen Schild, wie früher Archilochos im Kampf mit den Saiern; er rühmt sich, daß die Attiker ihn in Sigeon im Athenatempel aufgehängt hätten (fr. 49 DIEHL). Ein andermal erschlug Pittakos im Zweikampf den attischen Olympioniken Phrynon und legte dadurch den Grund zu seiner Machtstellung in der Heimat (o. S. 588). Endlich einigte man sich, den Schiedsspruch des Periander von Korinth anzurufen (um 600 v. Chr.). Er entschied auf den status quo; so haben die Athener Sigeon behalten. Doch ist der Kampf bald wieder ausgebrochen und hat sich bis in die Zeit des Pisistratos fortgesetzt857.

[596] Wichtiger noch war die Befreiung aus der Umklammerung durch Megara, und auch diese hat der attische Adel versucht. Aber alle Unternehmungen gegen Salamis858 scheiterten; die Megarer behaupteten den Besitz der Insel. Schon wollte man den Kampf aufgeben, da trat Solon auf, der Kaufmann aus dem Medontidenhause; durch begeisterte Verse, in denen er, im Heroldskostüm auftretend, »gebundene Worte an Stelle der Rede setzte« und den Athenern die Schmach vorhielt, die sie erwarte, wenn sie ihre Ansprüche auf Salamis fallen ließen, entflammte er[597] das Volk zu einem nochmaligen Angriff. Daß dieser erfolgreich war, lehrt nicht nur die attische Sage, daß Solons Asche über Salamis ausgestreut sei und er als Schutzgenius über dem attischen Besitz wache859, sondern vor allem die Stellung, die er dadurch in Athen gewonnen hat. Von dem Hergang des Kampfes haben wir freilich keinerlei Kunde; was darüber erzählt wird, ist nicht Geschichte, sondern Deutung von Festbräuchen und überdies zum Teil erst in späterer Zeit von Pisistratos auf Solon übertragen860. Die Insel ist fortan wahrscheinlich dauernd von Athen [598] behauptet, das Land unter attische Bürger aufgeteilt worden (vgl. u. S. 615.)861. Aber Megara gab seine Sache noch keineswegs verloren; auch dieser Krieg hat sich lange fortgesetzt, bis Pisistratos ihn gleichfalls zum Abschluß brachte.

Wie für Pittakos bildete auch für Solon der äußere Erfolg die Vorstufe für die Gewinnung der höchsten Macht im Staate. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Unumwunden verurteilte er das adlige Mißregiment. In einem großen Gedicht, das von Mund zu Mund gegangen sein wird, schilderte er die traurigen Zustände des Gemeinwesens, die Begehrlichkeit und die Korruption der Parteiführer, die Notlage des Landvolks, die drohende Krisis, und ermahnte zu Gerechtigkeit und Mäßigung. Zum Schluß erklärte er unumwunden: »Ihr, die ihr übergenug der Güter habt, haltet Maß und bezwingt euren stolzen Sinn; denn wir werden nicht folgen« (fr. 4, 5ff. DIEHL). Das politische Glaubensbekenntnis, das Solon in diesem Gedicht niederlegte, war zugleich ein Regierungsprogramm. Daran schloß sich die bestimmte Erklärung, daß er sich der Aufgabe gewachsen fühle, die Schäden des Staats zu heilen (fr. 23, 21. 24, 17). Die Masse des Volks war ihm mit Begeisterung ergeben und erhoffte von ihm die Durchführung einer radikalen politischen und sozialen Revolution und die Befriedigung der ausschweifendsten Wünsche. Die gemäßigte Mittelpartei und die besseren Elemente des Adels schlossen sich seiner Führung an, die übrigen waren unfähig, Widerstand zu leisten. Auch mochten gar manche erwarten, Solon werde, erst einmal im Besitz der Macht, zu seinen Standesgenossen zurückkehren und die [599] Opposition energisch zu Boden werfen. So wurde Solon im Sommer 594 als Archon mit unbeschränkter Machtvollkommenheit an die Spitze des Staats gestellt. Er erhielt den Auftrag, die soziale Krisis zu lösen, die Verfassung zu ordnen, ein neues Gesetzbuch an Stelle des unbrauchbaren Drakontischen einzuführen; die gesamte Zukunft des Staats war in seine Hände gelegt.

Solon ist der erste griechische Staatsmann, dessen Persönlichkeit in der Geschichte weiterlebt862. Sein Werk ist uns in den [600] Grundzügen genau bekannt, über seine Motive und die Art, wie er sie durchgeführt hat, hat er in seinen Gedichten ausführlich gesprochen, seine ganze Denkweise liegt klar vor unseren Augen. Er ist eine der idealsten Gestalten, welche die Geschichte kennt, und zugleich die typische Verkörperung des Griechentums seiner Epoche. Eine sonnige Klarheit durchdringt sein ganzes Wesen. Gern genießt er die Freuden des Lebens, er freut sich seines Wohlstands und bestreitet nicht, daß er ihn mehren möchte. Aber alles Unrecht verabscheut er, denn jedem Frevel folgt früh oder spät die Strafe. Auch lehrt die Erfahrung, daß übergroßer Reichtum keinen Segen bringt, sondern Übersättigung; glücklich ist der, dem die Götter ein behagliches Auskommen beschert haben. Überall im Leben ist der Mittelweg der beste; »alles mit Maß« (μηδὲν ἄγαν) ist der Wahlspruch, den die Tradition ihm zuschreibt. So sind seine Elegien der vollendetste Ausdruck der ethischen und religiösen Anschauungen dieser Epoche (o. S. 551f., u. S. 667f.). Unerschütterlich wie die Liebe zur Heimat ist ihm der Glaube an die göttliche Gerechtigkeit, an den Sieg des Wahren und Guten; er ist durch und durch Idealist, aber ganz frei von [601] Schwärmerei und Mystizismus. Mit warmer Hingebung geht er an sein Werk, und wo es nötig ist, scheut er sich nicht vor rücksichtslosem Durchgreifen; aber aller Radikalismus liegt ihm fern. Immer wird die Leidenschaft, ohne die nichts Großes geschaffen werden kann, beherrscht von dem ruhigen Verstande des Staatsmannes, der das Wirkliche und Erreichbare klar erkennt. Er weiß, daß sein Weg der richtige ist, gerade weil alle an seinem Werk etwas zu tadeln finden, weil er nicht im Dienste der Parteien steht; so lassen ihn die Vorwürfe unbekümmert, mit denen man ihn überhäuft. Bis ins höchste Alter hat er sich die ungetrübte Heiterkeit und Genußfähigkeit gewahrt; immer ist er bereit, aus den Ereignissen zu lernen.

In weiten Kreisen erwartete man, daß Solon seine allmächtige Stellung benutzen werde, sich zum Tyrannen zu machen; nicht wenige Athener mögen von der Gründung der Monarchie für sich wie für den Staat große Vorteile erhofft haben. Aber wie Pittakos widerstand auch Solon der Versuchung, der so manche vor ihm erlegen waren; hinter dem Flitter der Krone sah er die Vernichtung für sich und sein Haus. Um so kräftiger griff er seine Aufgaben an. Die schwerste und dringendste war die Rettung des Bauernstandes. Hier konnte nur ein radikales Mittel, ein Bruch des formellen Rechts, Hilfe bringen. Durch ein Gesetz wurden alle Schulden, welche auf den Grundstücken lasteten oder bei denen die Person des Schuldners selbst verpfändet war, für ungültig erklärt, die Schuldsklaven freigegeben und die Aufnahme von Schulden auf den Leib sowie der Verkauf der Kinder für alle Zukunft untersagt863. Außerdem wurden zahlreiche in die Fremde [602] verkaufte attische Bürger auf Staatskosten zurückgekauft – woher Solon das Geld dazu genommen hat, ob aus den Erträgen der Silberminen von Laurion, die jedenfalls seit Solon stärker bearbeitet wurden, oder etwa aus dem Verkauf von Domänen, darüber haben wir leider gar keine Kunde. Das waren durchaus revolutionäre Maßregeln; »durch die Macht des Gesetzes habe ich Gewalt und Recht verbunden und so durchgeführt, was ich versprochen hatte«, sagt Solon von ihnen. Daß sie ohne Blutvergießen durchgeführt werden konnten, ist ein Beweis sowohl für die Größe des Notstands wie für die Ohnmacht des Adels. Freilich war die Masse des Volks noch keineswegs zufrieden; sie forderte eine Landaufteilung und Plünderung der großen Vermögen. Diesen Aspirationen trat Solon ebenso energisch entgegen wie der Habgier der Reichen; er war nicht gewillt, »dem Gesindel und den Edlen gleichen Anteil am fetten Boden der Heimat zu gewähren« (23, 23). Gestützt auf die Mittelpartei gelang es ihm, die Begehrlichkeit der Massen im Zaum zu halten und den drohenden Bürgerkrieg zu vermeiden. Dem attischen Adel blieb sein großer Landbesitz und damit der leitende Einfluß im Staate erhalten. Dagegen wurden dem Güterkauf gesetzliche Grenzen gesetzt und so dem weiteren Anwachsen des Großgrundbesitzes ins Ungemessene gewehrt (Aristot. pol. II 4, 4).

Der sozialen Befreiung der Bauernschaft folgte die politische Emanzipation der Landbevölkerung. Ererbte Vorrechte erkennt Solon nirgends an; mit den Privilegien des Adels fallen die des Stadtbürgers. Damit fällt auch die rechtliche Abhängigkeit der Hintersassen von den Grundherrn fort; das erbliche Klientelverhältnis [603] ist durch Solon wenn nicht durch Gesetz, so tatsächlich aufgehoben. Wenn bisher der Patron seine Gefolgschaft, die πελάται, schirmte und vor Gericht vertrat, so bestimmte Solon, daß es jedem Bürger freistehe, über ein Unrecht, das einem anderen zugefügt wird, Klage zu erheben. Andererseits zeigt Solon auch hier dasselbe Maßhalten wie auf sozialem Gebiet. Er war kein Demokrat und weit entfernt von dem Glauben, als sei jeder Bürger, ob bemittelt und sozial unabhängig oder nicht, gleich berufen und berechtigt zur Teilnahme am Regiment. Der Demos sollte emanzipiert werden, sozial und politisch, aber keineswegs die Herrschaft führen. Daraus ergab sich von selbst, da die Privilegien der Geburt aufgehoben waren, eine Abstufung der politischen Rechte nach dem Vermögen, eine timokratische Gliederung der Bevölkerung.

Die Grundlage dieser Gliederung bilden die militärischen Verhältnisse. Auch in Attika wird die ärmere Bevölkerung, die ϑῆτες, die nicht aus eigenem Besitz, sondern durch Arbeit für andere ihr Brot verdient, wohl zur Ergänzung des Hoplitenheeres durch Schützen und Schleuderer und zum Ruderdienst auf den Schiffen, welche die Naukrarien stellen, herangezogen – dafür müssen sie von Staats wegen eine Löhnung oder wenigstens Ausrüstung und Verpflegung erhalten haben –; aber eine Wehrpflicht besteht nur für die Besitzenden, welche sich selbst ausrüsten und im Felde unterhalten können864. Die Bürger, die ein Grundstück [604] ihr eigen nennen, sei es auch nur ein Häuschen in der Stadt, wie Sokrates, dienen als Hopliten (ζευγῖται)865, die Reicheren, die sich ein Reitpferd halten können (ἱππεῖς), im Ritterkorps. Aus der Ritterschaft hat Solon die Reichsten ausgesondert, die »Fünfhundertscheffler« (πεντακοσιομέδιμνοι), die ein Landgut von mindestens 200 bis 250 Morgen besitzen. Sie allein haben Zutritt zu den höchsten Staatsämtern, zum Archontat und damit zum Rat auf dem Areshügel, ebenso zu dem Finanzamt der ταμίαι, welche den Staatstempel der Athena auf der Burg und seine Einkünfte verwalten. Den übrigen Rittern und den Zeugiten, zwischen denen eine Abstufung der Rechte nicht bestanden zu haben scheint, sind die kleineren Ämter und die Ratsstellen zugänglich, die Theten haben lediglich Stimmrecht in der Volksversammlung. Nach der Überlieferung hat Solon die Abstufung der »Abteilungen« (τέλη; auch dieser Name ist wohl militärischen Ursprungs, vgl. Il. Λ 730. K 56. 470 u.a.) auf einen festen Zensus begründet. Bei der Ritterschaft (ἱππάς) schwanken die Angaben, ob die Zugehörigkeit durch die Haltung des Ritterpferdes oder durch ein Einkommen von 300 Scheffeln Getreide (resp. Wein und Öl, das als Äquivalent gerechnet wird), also durch ein Grundstück von etwa 100 bis 150 Morgen, bedingt gewesen sei. Für die Zeugiten wird ein Ertrag von 200 Scheffeln, also ein Gut von etwa 70 bis 100 Morgen angegeben866. Ist diese Angabe richtig, so waren alle Mittel- und [605] Kleinbauern, selbst wenn sie einen Hof von 50 bis 60 Morgen besaßen, mit der besitzlosen Masse zusammengeworfen und zählten zu der Klasse der »Tagelöhner«867. Das erscheint indessen kaum denkbar. In den Rat werden sie allerdings, selbst wenn es ihnen frei stand, kaum gekommen sein; auf längere Zeit konnten sie schwer abkommen, und die meisten Dörfer waren weit von der Stadt entfernt. Doch daß man auf ihre Kriegsdienste verzichtet haben sollte, ist nicht denkbar; das Hoplitenheer wäre dadurch auf eine winzige Truppe zusammengeschmolzen. Überdies aber ist es höchst unwahrscheinlich, daß Solon einen wirklichen Zensus der Bürgerschaft eingeführt hat; dazu fehlt in seiner Verfassung jedes Organ. Seine Klassen bestanden noch zu Aristoteles' Zeit, wenn sie auch damals längst alle praktische Bedeutung verloren hatten868; aber nie hören wir von einer Gesamteinschätzung und Verteilung der Bürgerschaft in die Klassen, vielmehr ist erst im J. 378 eine Aufnahme des gesamten beweglichen und unbeweglichen Vermögens, aber nicht auf Grund der Klassen, sondern mittels einer Einteilung der Bürgerschaft in Steuerbezirke durchgeführt worden. Vielmehr werden die überlieferten Zahlen mit der Steuererhebung zusammenhängen. Regelmäßige direkte Steuern kennt das freie Athen so wenig wie ein anderer alter Staat; sie sind das Zeichen der absoluten Monarchie, der Unfreiheit. Wohl aber erhebt der Staat in Fällen der Not, namentlich für den Krieg, eine außerordentliche Vermögenssteuer (εἰσφορά – d.h. die Bürger tragen einen Teil ihrer Einkünfte in die Staatskasse); und zu diesem Zweck sind die Einkünfte der drei Klassen – die Theten bleiben steuerfrei – auf 500, 300 und 200 Scheffel angesetzt; davon haben sie einen jedesmal durch [606] Volksbeschluß festgesetzten Prozentsatz zu steuern. Eine genaue Abschätzung des Vermögens und des Einkommens eines jeden Bürgers ist ja in einfachen Verhältnissen undurchführbar und setzt überdies einen komplizierten Apparat für die Steuererhebung voraus, der noch einer weit späteren Zeit durchaus fremd ist; die runden Sätze ermöglichen eine einfache Rechnung. Freilich werden dabei die mittleren Vermögen stärker betroffen als die großen; indessen ist das ein Mißstand, den selbst die Gegen wart noch nicht überwunden hat, und es war immer schon ein Fortschritt, daß überhaupt eine Abstufung stattfand und man nicht wie König Menachem von Israel (o. S. 12) das Geld, das man brauchte, einfach gleichmäßig auf alle Kriegspflichtigen verteilte. Es kommt hinzu, daß die Reichen zu »öffentlichen Leistungen« (ληιτουργίαι – der Name bezeugt das Alter der Institution) wie Speisungen der Phylen, Ausstattung von Chören und Festen, vielleicht auch schon der Ausrüstung der Kriegsschiffe (der späteren Trierarchie), stark herangezogen wurden. Die reichen Fabrikanten und Kaufleute, die keinen Grundbesitz hatten – ihrer hat es schon zu Solons Zeiten nicht wenige gegeben, da die Fabrikanten im J. 581 zwei Archontenstellen besetzen –, sind offenbar nach ihrem Einkommen den Klassen zugewiesen worden, wobei man nach damaligem Marktpreis (Plut. Sol. 23) den Scheffel zu 1 Drachme rechnete. Die Verteilung der Bürger in die Klassen und damit die Regelung der Wehrpflicht ist nicht durch ein staatliches Organ, sondern durch die Vorstände der Verwaltungsbezirke der einzelnen Phylen, die Naukraren, erfolgt, welche auch die Steuern beizutreiben hatten. Später scheinen die Einkommensätze der einzelnen Klassen kapitalisiert und dabei herabgesetzt zu sein; eine durch ihre knappe Fassung fast unverständliche Notiz (Pollux VIII 130) scheint zu besagen, daß die Pentakosiomedim nen 1 Talent, die Ritter 3000, die Zeugiten 1000 Drachmen (= 10 Minen) versteuerten. Als dann der Geldwert sank, hat man die alten Sätze nicht mehr geändert. Die Folge war, daß die Klassengrenzen tatsächlich immer tiefer herabsanken und ihre untere Grenze nicht mehr innegehalten wurde, bis sie seit Anfang des 4. Jahrhunderts allen Wert verloren und die Klassen zu einer praktisch [607] bedeutungslosen, wenn auch nie rechtlich aufgehobenen Antiquität wurden869.

An der Organisation der Behörden und der Verwaltung hat Solon nicht viel geändert. Die Gliederung des Volks in Phylen und Naukrarien mit Königen und Naukraren an der Spitze (die Phratrien haben keine politische Bedeutung) blieb unangetastet und dadurch den Blutsverbänden und den großen Geschlechtern ein maßgebender Einfluß auf die Wahlen und Abstimmungen gesichert. Sie finden durchweg phylenweise statt, die Wahl (oder Erlosung?) für den »Rat der 400« – vielleicht hat erst Solon die Mitgliederzahl des alten Prytanenrats so weit erhöht – wahrscheinlich in den Naukrarien. Auch für das Finanz- und Militärwesen waren die Naukrarien die maßgebenden Verwaltungsbezirke, ihre Vorstände treiben die Gelder ein und leiten wahrscheinlich wie die Schiffsrüstung so auch die Aushebung (o. S. 607). Für die Archonten scheint jede Phyle zehn Kandidaten ernannt zu haben, auf die dann die definitive Wahl (durch die Volksversammlung?) beschränkt war870. Andere Ämter, wie das des [608] Schatzmeisters der Athena (o. S. 605), wurden durch das Los besetzt, eine Institution, die vielleicht hoch in die Zeiten des Adelsstaats hinaufragt. Auch an den Kompetenzen der Ämter hat Solon wohl kaum etwas geändert. Der Archon hat die Oberleitung des Staats und die Exekutive, daneben eine ausgedehnte Strafgewalt bei Vergehungen der Bürger und die Rechtsprechung in allen Dingen, die den Staat angehen, wie Ehe- und Erbrecht, Vernachlässigung der Bürgerpflichten, Verschwendung u.ä., der König leitet das Sakralwesen und ist Vorsitzender der Mordgerichte, der Kriegsherr verwaltet das Heerwesen und führt das Bürgeraufgebot; zugleich ist er der Gerichtsstand für die Fremden und Schutzbefohlenen. Die sechs Rechtssetzer haben die Ziviljudikatur. Niedere Ämter sind z.B. die Kolakreten (o. S. 293), die Poleten, welche die staatlichen Verpachtungen leiten, die Staatsschulden beitreiben, die konfiszierten Vermögen einziehen und verkaufen, die Elfmänner, die Leiter der Polizei, welche über Räuber und Diebe zu Gericht sitzen. Auch die beiden Ratskollegien hat Solon beibehalten. Der allen drei oberen Klassen zugängliche Rat der Vierhundert leitet die Verwaltung und das Finanzwesen und bringt die Anträge an das Volk. Ihm gegenüber repräsentiert der Areopag das konservative und dauernde Element im Staatsleben. Er kontrolliert die Beamten und nimmt ihre Rechenschaftsablage entgegen, er verhängt nach seinem Ermessen Geldbußen. Außerdem hat Solon ihn an Stelle des Prytanenrats zum politischen Gerichtshof gemacht871. Wie weit er die Beschlüsse [609] des Rats und des Volks kontrollieren und ändern konnte, wissen wir nicht, wie denn überhaupt von dem Wesen seiner politischen Funktionen und seiner Stellung zu Rat und Volk bereits unsere Quellen kein klares Bild mehr entwerfen konnten. Innerhalb dieser Grenzen ist die Volksversammlung souverän und entscheidet über alle politischen Fragen nach freiem Belieben; es ist bezeichnend, daß der einzige aus dem 6. Jahrhundert erhaltene Volksbeschluß die vorhergehende Zustimmung des Rats nicht erwähnt872, die später niemals weggelassen wird. Falls ein Ausnahmebeschluß über einen Einzelnen (Erteilung des Bürgerrechts, Aufhebung der Atimie, Erlaß von Staatsschulden u.a.) gefaßt werden soll, wird zur Vermeidung von Parteilichkeit die Anwesenheit von 6000 Bürgern gefordert. Ein Ausfluß der Volkssouveränität ist es, daß Solon in Fällen, wo die Rechtssätze unklar und umstritten waren oder nicht ausreichten, eine Appellation gegen den Spruch des Beamtengerichts an ein Volksgericht freigab – auch Zaleukos hat ja eine derartige Berufung, freilich nur gegen Einsetzung des eigenen Lebens, gestattet (o. S. 528). Aber auch in anderen Fällen, vielleicht zunächst bei Verhängung empfindlicher Strafen, tritt den Thesmotheten ein Volksgericht zur Seite, das den Namen Heliäa (vermutlich nach dem Sitzungslokal) führt und aus unbescholtenen Bürgern aller Klassen, die über dreißig Jahre alt sind, durch das Los gebildet wird873.

Weit einschneidender war die neue Gesetzgebung; sie hat mit den überlebten Ordnungen gründlich aufgeräumt. Im Solonischen Recht sind die beiden Tendenzen, welche wir in den übrigen [610] Gesetzgebungen kennengelernt haben, die Idee der völligen rechtlichen Gleichheit innerhalb des Staatsgedankens und der bürgerlichen Zucht und die freie Entwicklung des Verkehrslebens, mit bewunderungswerter Konsequenz durchgeführt. Nicht wenig Sätze Solons sind von Rom übernommen und noch im heutigen Recht lebendig. Das Familienrecht, die Bestimmungen über die Erbtöchter u.a. hat Solon nicht wesentlich geändert. Aber indem er für den Fall, daß keine Kinder da sind, Testierfreiheit einführte, traf er das Gentilrecht in seiner Wurzel und zersprengte die materielle Geschlossenheit der Geschlechter. Noch wichtiger ist die tatsächliche Aufhebung des Klientelverhältnisses, die Freigebung der Klage über ein anderen zugefügtes Unrecht (o. S. 604). Dadurch wird der ärmeren Bevölkerung der kräftigste Schutz verliehen und die Idee des Rechtsstaats verwirklicht, der alle in gleicher Weise schützt. Damit berührt sich das Gesetz, welches jeden, der bei einem Aufruhr nicht Partei ergreift, für des Bürgerrechts verlustig erklärt; alle Bürger werden gezwungen, am politischen Leben teilzunehmen und für den Staat einzutreten. Gegen allen Prunk des Adels, gegen die üppigen Totenfeiern mit Klageweibern und Verstümmelungen, gegen die Verschwendung bei der Bestattung, gegen den Luxus der Frauen ist Solon ebenso energisch eingeschritten wie die anderen Gesetzgebungen. Die Mitgift wird beschränkt, der Verschwender wird bestraft, ebenso wahrscheinlich der Erwerbslose (über den νόμος ἀργίας o. S. 593). Am Blutrecht hat Solon nichts Wesentliches geneuert; nur die Ordnungen des Areopags wurden geändert, wir wissen nicht in welcher Weise, dagegen für die ephetischen Gerichtshöfe Drakons Satzungen bestätigt. Die Mordklage bleibt nach wie vor Sache der Angehörigen, behält also ihren privaten, auf dem Blutsverbande beruhenden Charakter. Bezeichnend ist, daß noch Solon auf den Vatermord keine Strafe gesetzt hat, wenn er auch sonst die Pflichten der Kinder gegen ihre Eltern genau regelte. – Dem Verkehrsleben hat Solon nur da Beschränkungen auferlegt, wo das Interesse des Landes es erforderte. So wurden dem unbegrenzten Landerwerb Schranken gesetzt (o. S. 603), und mit Rücksicht auf den geringen Ertrag des Bodens, der schon damals zur Ernährung der Bevölkerung [611] kaum ausreichte, die Ausfuhr aller Bodenprodukte mit Ausnahme des Öls bei schwerer Strafe verboten. Sonst aber herrscht volle Freiheit. Ausdrücklich wird der Zinsfuß vollständig freigegeben (Lysias 10, 18), ebenso das Koalitionsrecht – was eine religiöse oder soziale oder kaufmännische Genossenschaft festsetzt, ist gültig, wenn es nicht den Staatsgesetzen widerspricht (Dig. 47, 22, 4). Um die bürgerlichen Erwerbszweige zu heben, bestimmt das Gesetz, daß der Sohn, den sein Vater kein Handwerk hat lernen lassen, ihn im Alter nicht zu ernähren braucht. Fremde Gewerbetreibende, die mit ihrer Familie nach Athen übersiedeln, können das Bürgerrecht gewinnen, sonst nur, wer auf ewige Zeiten aus seiner Heimat verbannt ist. Auch sonst wurden den Fremden, die sich als Metöken in Athen niederließen, wohl schon durch Solon günstigere Bedingungen gewährt als in den meisten anderen Gemeinwesen. So beginnt Athen sich seit und durch Solon in eine Handels- und Industriestadt umzuwandeln. Daß die Amtslokale der Behörden und des Rats vom Fuß der Burg an den Markt verlegt wurden und dieser fortan den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens bildete, ist ein Symptom dieser Wandlung. Um den Handel zu heben, hat Solon die Maße und Gewichte neu geordnet und eine eigene Geldprägung eingeführt, zu der die Laurischen Bergwerke das Metall lieferten. Er führte Athen vom pheidonischen zum euböischen System über. Die kommerzielle Vorherrschaft Äginas sollte gebrochen werden; der Anschluß an Euböa und Korinth machte es dem attischen Handel möglich, selbständig zu werden, und erleichterte ihm die Anknüpfung von Verbindungen mit dem chalkidisch-korinthischen Kolonialgebiet sowohl an der thrakischen Küste, auf die sich Athens Augenmerk alsbald sehr stark richtete, wie in Sizilien und Italien874.

Mit einer allgemeinen Amnestie, welche allen Verbannten die Rückkehr gewährte, soweit sie nicht von den Blutgerichtshöfen oder wegen Aufruhr und Tyrannis vom Prytaneon verurteilt [612] waren, schloß Solon die Wirren der älteren Zeit ab. Durch die Klausel blieb den Kyloneern die Heimat verschlossen, aber den Alkmeoniden war sie geöffnet. Die mächtige Familie wurde, da eine Versöhnung mit dem Adel für sie unmöglich war, eine Hauptstütze der neuen Ordnung. – Nachdem Solon sein Werk vollendet hatte, verpflichtete er die Athener, seine Gesetze in der nächsten Zeit (10 J. nach Herod. I 29, 100 J. nach Arist. und Plut.) nicht zu ändern, legte sein Amt nieder und verließ die Heimat auf längere Zeit, um sich allen Reklamationen zu entziehen. An Vorwürfen fehlte es nicht; die Adligen waren über den Verlust ihrer Macht und mehr noch ihrer Zinsen, die ärmere Bevölkerung über die Enttäuschung ihrer auf Landaufteilung und Tyrannis gesetzten Hoffnungen erbittert, weite Kreise mit dem Maß der politischen Rechte, das ihnen zugewiesen war, wenig zufrieden. Aber mit Stolz konnte Solon auf seine Schöpfung blicken. Nie hatte er das Ziel außer Augen verloren, jedem Teile zu geben, was ihm gebührt; den Gegnern gegenüber berief er sich auf das Zeugnis der Mutter Erde selbst, die er aus der Knechtschaft befreit hatte, auf das gleiche und klare Recht, das er für Gute und Schlechte geschaffen; durch die feste Stellung, die er inmitten der sich bekämpfenden Forderungen genommen wie ein Wolf in der Meute der Hunde, habe er die Stadt von schwerem Unheil gerettet. Die Geschichte hat ihm Recht gegeben. Der politische Ausgleich freilich, den er geschaffen hatte, konnte nicht von Dauer sein. Die Parteikämpfe gingen weiter, und wie der Staat auf den Bahnen vorwärts schritt, die Solon ihm gewiesen hatte, mußte auch die Verteilung der Gewalten sich verschieben. Aber die soziale Not hat Solon definitiv behoben, und sein Recht ist zu allen Zeiten die feste Grundlage des attischen Staats geblieben.

Während Solons Abwesenheit begann der innere Hader aufs neue. Vor allem war das Amt des Archon, d.h. des Regenten, das Kampfobjekt. Die Eupatriden suchten ihre früheren Ansprüche zu behaupten, die reichen Nichtadligen es für sich zu gewinnen. Zwei mal, in den Jahren 589 und 584, kam es überhaupt nicht zur Besetzung des Oberamts. Dann wurde Damasias gewählt, gewiß der Nachkomme eines gleichnamigen Adligen, der [613] im J. 639 das Archontat bekleidet hatte (Dion. Hal. III 36). Es gelang ihm, sich widerrechtlich zwei Jahre und zwei Monate (583-81) im Amt zu behaupten, bis er verjagt wurde; das ist offenbar ein Versuch, die Tyrannis, zu gewinnen875. Dann kam ein Kompromiß zustande; für den Rest des Jahres 581 wurde das Oberamt einer Kominission von zehn Männern übergeben, in der alle drei Stände vertreten waren [fünf Eupatriden, drei nichtadlige Großbauern (ἀγροῖκοι), zwei reiche Industrielle (δημιουργοί)], so daß keiner bei ihren Beratungen die absolute Majorität hatte, aber auch der Adel nicht durch den Zusammenschluß der beiden anderen überstimmt werden konnte. Als eine dauernde Einrichtung scheint das Zehnmännerkollegium in Athen so wenig geplant gewesen zu sein wie in Rom. Jedenfalls ist man im nächsten Jahre zu den alten Ordnungen zurückgekehrt. Vielleicht hatte man sich überzeugt, daß die πολυκοιρανίη die Sache nur schlimmer mache und daß es besser sei, wie vordem, so auch fortan das Regentenamt einem einzigen Manne anzuvertrauen, der sich das Vertrauen der Gemeinde erworben hatte. Jedenfalls sind ähnliche Krisen nicht wiedergekehrt; als es zwanzig Jahre später doch zur Tyrannis kam, ist das Regentenamt nicht das Mittel gewesen, durch das sie begründet wurde876.

Über die beiden nächsten Jahrzehnte versagen unsere Nachrichten; nur das wissen wir, daß sich drei große Parteien bildeten877. Auf der einen Seite stand der Adel, der sich auf den Grundbesitz in der Ebene um Athen, dem Kephissosgebiet, stützte. Ihm gegenüber forderten die Kleinbauern, die jetzt zu politischen Rechten gelangt waren, ein energisches Fortschreiten auf der betretenen Bahn, Landaufteilung und volle bäuerliche Demokratie. Sie hatten ihren Hauptsitz in dem Bergland des Parnes und Brilessos und in der [614] marathonischen Tetrapolis. Zwischen den »Leuten aus der Ebene« (πεδιακοί) und »denen aus den Bergen« (διάκριοι) standen die »Küstenbewohner« (πάραλοι), die Schiffer und Kaufleute, die eine kräftige Förderung der von Solon inaugurierten Handelspolitik und der materiellen Interessen des Mittelstandes und daher die Ausbildung einer städtischen Demokratie erstrebten. Es ist die Partei, auf die sich Solon vor allem gestützt hatte. Diese Gegensätze durchsetzen sich mit der Rivalität der großen Familien im Kampf um die politische Leitung des Staats. An der Spitze des Adels stand Lykurgos, Sohn des Aristolaidas, wohl aus dem Hause der Eteobutaden; die Führung der Paraler gewannen die Alkmeoniden, Alkmeon der Sohn des Megakles, der als Archon die Kyloneer hatte umbringen lassen, und sein Sohn Megakles, der bei der Freiwerbung um die Tochter des Kleisthenes von Sikyon (o. S. 582) wie andere Rivalen so den Hippokleides aus dem Philaidenhause ausgestochen hatte. An der Spitze der Diakrier suchte ein anderer Adliger, Pisistratos, zu herrschender Stellung zu gelangen. In die einzelnen Phasen dieser Kämpfe würden wir wenigstens gelegentlich einen Einblick gewinnen können, wenn uns die Archontenliste erhalten wäre. Wie weit Solon nach seiner Rückkehr – er war in Ägypten878 und wohl auch in Lydien879, vor allem aber auf Cypern880 gewesen, wo er beim König Philokypros (oder Kypranor) von Soli freundliche Aufnahme fand und ihm ratend zur Seite stand, als er die Stadt von der Höhe des Felsens an den Meeresstrand hinabverlegte – sich an ihnen beteiligt hat, ist uns nicht bekannt.

Die inneren Kämpfe haben äußere Erfolge nicht gehindert. Die späteren Phasen des Kriegs um Sigeon gehören jedenfalls in diese Zeit, ebenso die Teilnahme am Heiligen Kriege (u. S. 620), wo Alkmeon den attischen Heerbann führte (Plut. Sol. 11). Auch Kämpfe mit Ägina, von denen nur noch eine seltsame Legende Kunde bewahrt (Herod. V 82ff.), mögen dieser Zeit angehören. Vor allem aber ging der Kampf gegen Megara erfolgreich weiter. Salamis wurde behauptet; in den Bruchstücken des ältesten erhaltenen [615] attischen Volksbeschlusses, der dieser Zeit angehört, finden sich Bestimmungen über die Stellung der nach der Insel entsandten Kolonisten. Sie bleiben Athener, ziehen im attischen Heer zu Felde und steuern nach Athen; aber sie sind verpflichtet, das ihnen überwiesene Grundstück selbst zu bebauen, wer es verpachtet und wer es in Pacht nimmt, wird bestraft. Die attischen Aspirationen gingen weiter; wie man in früheren Zeiten Eleusis einverleibt hatte, so strebte man jetzt Megara zu annektieren, Attika bis an die Geraneia und die korinthische Grenze auszudehnen. In der Sage hat man diese Annexion wirklich vollzogen; sie macht Nisos, den Eponymos der Hafenstadt von Megara, zum Sohn des attischen Königs Pandion, der, als er sein Reich unter seine vier Söhne verteilt, dem Nisos Megara überweist (Sophokles und Philochoros bei Strabo IX 1, 5 u.a.); ebenso wird in dem in dieser Zeit entstandenen Abschnitt des Schiffskatalogs der Ilias, welcher Attika behandelt, Megara in das attische Gebiet eingerechnet. Auch gelang es vorübergehend, das Ziel wenigstens zum Teil zu erreichen; unter Führung des Pisistratos haben die Athener Nisäa erobert881. Dagegen konnte Megara selbst nicht genommen werden. Schließlich wandte man sich an Sparta um einen Schiedsspruch. Die fünf Schiedsrichter haben Salamis den Athenern zuerkannt, dagegen offenbar Nisäas Rückgabe gefordert882. Trotz dem aber war Megaras Macht gebrochen (vgl. o. S. 586). Daß in der nächsten Zeit, um 558 v. Chr., eine starke megarische Kolonie, durch Böoter verstärkt, nach Heraklea am Pontos geschickt wird (u. S. 627), ist vermutlich eine Folge dieser Kämpfe; die megarischen Bauern, denen die Existenz unterbunden ist, suchen sich eine neue Heimat. Die Einverleibung von Megara ist fortan nie wieder aus dem Programm der attischen Politik verschwunden. [616] – Der große Aufschwung, den Athen genommen hatte, fand seinen äußeren Ausdruck in dem im J. 566, wahrscheinlich auf Antrag des Pisistratos, begründeten Feste der Panathenäen883. Es knüpft vielleicht an ältere Festbräuche an, an die Überreichung des von den attischen Mädchen alljährlich dem Bilde der Burggöttin dargebrachten Mantels (πέπλος, vgl. Il. Z 271ff.). Aber jetzt wurde es im Gegensatz zu den Kulten der einzelnen Gaue und Heiligtümer in ein Nationalfest der gesamten, zu einem Staatswesen geeinigten Bürgerschaft Attikas umgewandelt. In feierlicher Prozession führt die Ritterschaft der mächtigen Schirmgöttin des Landes ihre Rosse vor, die gesamte Bevölkerung beteiligt sich am Festzug und am Opfer, Festspiele aller Art, gymnastische und musikalische Wettkämpfe, auch ein Rhapsodenagon, schlossen sich an. Alle vier Jahre wurde das Fest mit besonderem Glanze gefeiert, unter zahlreichem Fremdenzufluß; eine Aufnahme in den Kreis der allgemeinen griechischen Feste war freilich durch seinen spezifisch attischen Charakter ausgeschlossen.

Wie die Eroberung von Salamis für Solon, so war die von Nisäa für Pisistratos die Staffel zur Gewinnung des Regiments. Eine Verwundung durch seine Feinde – er soll sie sich selbst beigebracht haben – verschaffte ihm die Erlaubnis, sich eine Leibwache von Keulenträgern zu halten. Mit diesen besetzte er die Burg und machte sich zum Tyrannen von Athen (561 v. Chr.). Vergeblich hatte der greise Solon das Volk gewarnt; jetzt ergriff er, seinem Gesetze gehorsam, Schild und Schwert, und rief zum Kampf gegen den Usurpator auf. Es war umsonst; niemand wagte sich zu erheben, weite Kreise namentlich der Landbevölkerung begrüßten die Monarchie offenbar mit Freude884. Pisistratos war [617] weise und human genug, Solon nicht anzutasten; er ist bald darauf gestorben, bis ins höchste Alter lebensfrisch und bereit, seine Persönlichkeit für das einzusetzen, was er als Recht erkannte. Ein Teil der adligen Gegner des Pisistratos verließ die Stadt, andere machten ihren Pakt mit dem Tyrannen. Miltiades, der Sohn des Kypselos, das Haupt der Philaiden, folgte einer Aufforderung der Dolonker auf dem thrakischen Chersones, sie gegen ihre Nachbarn, die Apsinthier, zu verteidigen; auch die griechischen Ansiedlungen vermochten sich hier nur mit Mühe der Thraker zu erwehren. Pisistratos unterstützte das Unternehmen; es war ein weiterer Schritt auf der mit der Besetzung von Sigeon betretenen Bahn. Miltiades deckte den Chersones durch eine Mauer über die Landenge nördlich von Kardia und gründete hier ein selbständiges Fürstentum, das doch der engen Anlehnung an Athen nicht entbehren konnte885. Auch mit dem lydischen Reich trat er in Verbindung und gewann Krösos' Schutz; als er von den Lampsakenern, die auf die gegenüberliegende Küste Anspruch erhoben, gefangen wurde, erwirkte Krösos durch Drohungen seine Freilassung (Herod. VI 34ff.).


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 589-618.
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