Entwicklung der Adelsmacht und des Geschlechterstaats

[277] Die Entstehung des Grundbesitzes erzeugt und steigert überall die wirtschaftliche und damit auch die soziale und politische Ungleichheit der Stammesgenossen. Zunächst gewährt allerdings die fortschreitende Landaufteilung, die Urbarmachung entlegener Täler, die Rodung des Waldes der anwachsenden Bevölkerung noch die Möglichkeit selbständiger Existenz. Aber auf die Dauer hält die Vermehrung der Landhufen mit dem Anwachsen der Bevölkerung nicht Schritt, zumal bei dem sehr extensiven Charakter der ursprünglichen Wirtschaft. Überdies kann weniger fruchtbares oder ungünstig gelegenes Land zwar von Wohlhabenden, die über ausreichende Mittel und Arbeitskräfte verfügen, aber nur ausnahmsweise von kleinen Bauern, die sich ihre Existenz erst schaffen sollen, bewirtschaftet werden. Noch verhängnisvoller sind die unmittelbaren Folgen der Erblichkeit. Ein Erstgeburtsrecht gibt es in Griechenland nicht; wo mehrere Söhne vorhanden sind, findet Erbteilung statt454. Diese findet aber eine Grenze darin, daß das Gut groß genug bleiben muß, um wirtschaftsfähig zu sein. Daher erklärt sich, daß in Sparta häufig mehrere Brüder zusammen wirtschaften und, der spartanischen Auffassung der Ehe entsprechend455, nur eine gemeinsame Frau und gemeinsame Kinder haben (Polyb. XII 6 b). Nach wenigen Generationen ist ein Teil der Güter in kleine Parzellen zerschlagen und in vielen Fällen eine Versorgung der Söhne aus dem Familiengut überhaupt unmöglich geworden. Es gilt daher als ratsam, nur einen Sohn zu zeugen. (Hesiod op. 376: μουνογενὴς δὲ παὶς εἴη πατρῶιον οἶκον φέρβεμεν˙ ὡς γὰρ πλοῦτος ἀέξεται ἐν μεγάροισι, γηραιὸς δὲ ϑάνοις ἕτερον παῖδ᾽ [d.h. einen Sohn an deiner Statt] ἐγκαταλείπων456). Umgekehrt werden in [278] anderen Fällen durch Heirat mit einer Erbtochter, durch Rückfall an die Familie nach erblosem Abgang des Besitzers, auch durch anderweitigen Erwerb größere Landkomplexe in einer Hand vereinigt. Dazu kommen endlich die allgemeinen Faktoren, die natürliche Verschiedenheit der Ergebnisse der Wirtschaft, die Wirkungen von Epidemien, Mißwachs, Kriegen. So wächst ständig die Zahl ursprünglich freier Männer, die wirtschaftlich nicht existenzfähig und daher gezwungen sind, als Pächter oder Taglöhner in den Dienst der Besitzenden zu treten. Nur fortgesetzte Vermehrung des Gemeindelandes durch Eroberungen, wie sie in Sparta im 8. und 7. Jahrhundert stattfand, kann diese Entwicklung zeitweilig unterbrechen.

Die Ungleichheit des Besitzes führt zur Bildung eines Adels und einer Adelsherrschaft. In primitiven Verhältnissen gilt, anders als im Rechtsstaat der entwickelten Kultur, vor allem das Ansehen der Persönlichkeit; wer seine Rechte nicht selbst durch eigene Kraft oder durch den Schutz eines mächtigen Verbandes, dem er angehört, zu wahren weiß, dem schirmt sie der Staat nicht. Der wirtschaftlich Abhängige ist auf den Schutz der Mächtigen angewiesen; selbst wenn es ihm noch möglich ist, in der Heerversammlung zu erscheinen, nützen ihm seine politischen Rechte nichts; er muß dem folgen, der ihm Leben und Habe beschützt. So werden die vermögenden Familien die natürlichen Führer sowohl der Blutsverbände, der Brüderschaften und Phylen, denen sie angehören, wie der Gaue, in denen ihre Besitzungen liegen. Dazu kommt die Umgestaltung des Stammesheeres durch die Fortschritte der Bewaffnung und Kriegführung, die wir in der mykenischen Zeit kennengelernt haben. An die Stelle von Pfeil und Bogen, von Schleuder und Keule sind Lanze und Schwert getreten, die Schutzwaffen sind immer stärker und kostspieliger ausgebildet. Die besten Krieger ziehen zu Wagen in den Kampf; dadurch bewahren sie ihre volle Kraft bis zum entscheidenden Moment, durch ihre sorgfältige körperliche Ausbildung und ihre treffliche Rüstung sind sie jedem Gegner überlegen, ihr Einzelkampf entscheidet die Schlacht. Auch als mit dem Ende der mykenischen Zeit an die Stelle der für die griechische Landschaft wenig geeigneten Wagenkämpfer [279] meist die Reiterei tritt, bleibt das Verhältnis im wesentlichen dasselbe457. Kriegsrosse und kostbare Waffen halten, sich ständig für den Kampf üben kann nur, wer über reichen Besitz verfügt und über ein Gefolge und Diener gebietet. Hier wie immer stehen die Faktoren des geschichtlichen Lebens in Wechselwirkung: Großgrundbesitz, Ritterkampf und Adelsherrschaft bedingen und fördern sich gegenseitig.

Besäßen wir für das griechische Mittelalter so viel Material wie für das deutsche, so würden wir die einzelnen Phasen dieser Entwicklung verfolgen können und auch deutlicher erkennen, wie das mykenische Königtum nur einen Durchgangspunkt für sie bildet. Denn offenbar beruht Blüte wie Untergang des starken Königtums wesentlich darauf, daß die mit Hilfe der Erträgnisse des Handels ausgebildete Kriegsmacht, auf die es sich stützt, ihm über den Kopf wächst und es verschlingt, daß dieselben Elemente, welche den Staat gegründet haben, ihn auch zersetzen. Unsere Quellen lassen uns im wesentlichen nur die Ergebnisse erkennen. Im allgemeinen zerfällt die griechische Welt in drei Gruppen: in Sparta und Kreta hat sich aus den ältesten Lebensformen ein Staat gleichberechtigter Krieger gebildet, in dem für eine Reiterei und einen Adel kaum oder gar nicht Platz ist. Im nordwestlichen Griechenland – so bei den Lokrern, »die Rüstung und Lanze nicht kennen, sondern nur mit Schleuder und Bogen kämpfen«, Il. N 714 –, und ursprünglich wohl auch in Arkadien und Elis, haben sich die älteren, unentwickelten Zustände kaum geändert. In den Kolonien, in Argolis, Attika, Euböa, Böotien, ist mit dem Ritterkampf die Herrschaft »der Besten« eingetreten, und ständig setzt sich diese Entwicklung von Ost nach West fort.

Für den kleinen Bauern ist der Heerdienst eine schwere Last. Er ist an seine Hufe gefesselt, er kann die Kosten der Ausrüstung und Verpflegung kaum erschwingen, geschweige denn sich in den Waffen üben. Ebenso ist es ihm fast unmöglich, zur Stammesversammlung [280] zu erscheinen, seine Rechte als Genosse des Stamms, der Phyle, der Phratrie auszuüben. Dazu fehlt ihm jeder Rechtsschutz; er kann seinen Besitz nicht verteidigen, keinen Prozeß führen, wenn ihm mächtige Männer seine Habe rauben – denn die Prozesse sind langwierig und erfordern Geschenke an den Richter, in ihnen entscheidet oft genug das Ansehen der Person und ihres Anhangs –, seine Verwandten können sein Blut sowenig rächen wie er das ihre. So ist die Freiheit für ihn ein prekärer Besitz, er wird gern bereit sein, sie hinzugeben, wenn er dafür den Schutz eines mächtigen Mannes gewinnt. Offenbar ist in Griechenland ebenso wie im germanischen Mittelalter wesentlich auf diesem Wege ein großer Teil der Landbevölkerung unfrei oder wenigstens politisch rechtlos und vom Adel abhängig geworden. Der Tagelöhner (ϑής) vollends, der höchstens ein kleines Stück Land sein eigen nennt, ist weder kriegspflichtig noch mit politischen Rechten ausgestattet. Ihn kümmert es nicht, was in der Gemeinde vorgeht; seine Existenz beruht auf der Gnade seines Brotherrn.

Dagegen sind die Großgrundbesitzer durch Besitz und Erziehung, durch das Vorbild der Väter berufen und befähigt, den Stamm in Krieg und Frieden zu leiten, die Gesamtheit und das ärmere Volk zu verteidigen, den Heerbann zu führen, Vermögen und Ämter der Gemeinde zu verwalten und, wenn sie das nötige Alter erreicht haben, im Rate des Königs zu sitzen. Sie sind die »Führer und Pfleger« des Volks (ἡγήτορες ἠδὲ μέδοντες), die »besten Männer« (ἀριστῆες). Wie kleine Könige sitzen sie auf ihrem Hof. Sie umgibt ein Gefolge abhängiger Leute (ἑταῖροι), die an ihrer Tafel speisen und mit ihnen in den Kampf ziehen. Sie gebieten über eine Schar von Tagelöhnern und leibeigenen Knechten (δμῶες). Zum Teil sind diese aus verarmten Gemeinfreien hervorgegangen, zum Teil gekauft oder im Kriege erbeutet. Doch darf man sich die Zahl dieser, der eigentlichen Sklaven, nicht groß vorstellen; die homerischen Schilderungen zeigen, daß die männlichen Gefangenen weit häufiger erschlagen als geknechtet wurden – gab es doch Arbeitskräfte in Fülle, und der ehemalige Feind war ein Besitz von zweifelhaftem Wert. Regelrechten Sklavenhandel trieben nur die phönikischen Kauffahrer. Um so größer [281] war dagegen in den Herrenhäusern die Zahl erbeuteter Sklavinnen. – Weithin über das Land liegen ihre Grundstücke, die teils von den Knechten und Tagelöhnern bestellt, teils verpachtet werden. Den Hauptbestandteil ihres Reichtums aber bilden die großen Herden. In Attika finden wir zahlreiche Dörfer nach adligen Geschlechtern benannt, die offenbar ursprünglich458 hier ihren Sitz hatten (Philaidai, Paionidai, Ionidai, Titakidai, Semachidai, Lakiadai, Skambonidai u.ä.); das Gebiet von Teos zerfällt in »Türme«, d.h. offenbar Adelsburgen, die den Namen einzelner Personen tragen (u. S. 286); ähnlich war das Gebiet von Ephesos organisiert. Derartiges wird vielfach vorgekommen sein; »die Besten, welche die Städte, d.i. die befestigten Ansiedlungen des Gebiets, beschirmen« (ἀριστήων, οἵτε πτολίεϑρα ῥύονται, Il. I 396), heißt es einmal bei Homer. Den Königen sind sie zur Heeresfolge verpflichtet – es sei denn, daß sie sich durch reiche Geschenke loskaufen (Ψ 296, vgl. Od. ξ 239) –, aber daneben unternehmen sie Kriegszüge und Raubfahrten auf eigene Hand, die freilich bei schlechtem Ausgang den Zorn des Volks über sie bringen können (Od. ξ 216ff. π 426). So geht mit Recht der Titel des Herrschers (άναξ, βασιλεύς) zuerst auf die höchstgestellten, dann auf alle Adligen über, welche im Rat sitzen, oder ein Amt bekleiden. Die Einheit der Heergemeinde wird aufgelöst, sie verwandelt sich in einen lockeren Verband gleichgestellter und von der Gesamtheit rechtlich und tatsächlich fast unabhängiger Magnaten. Mehr und mehr schwindet neben ihnen die Macht des Königs wie die der Volksversammlung zusammen.

Wie der Besitz ist der Kriegsberuf der »Besten« und ihre politische Stellung erblich. Durch eine weite Kluft fühlen sich die Herrensöhne von dem gemeinen Mann geschieden, der von seiner Hände Arbeit lebt und weder in den Waffen geübt ist noch [282] an der Verwaltung der gemeinen Angelegenheiten teilnehmen kann. Damit ist die ideale Grundlage gewonnen, auf der aus den grundbesitzenden Kriegern ein Adelsstand erwächst: nicht mehr die reale Übermacht und das persönliche Verdienst, sondern die Abstammung an sich begründet die Vorrechte der »Besten«. Tatsächlich ist der Adel der Einzelnen in sehr verschiedener Zeit auf historischer Grundlage erwachsen; aber der Idee nach ist er ewig und unwandelbar. Er beruht auf der Abstammung von einem adligen Vater (εὐπα τρίδης, lat. patricius); der Adel der gegenwärtigen Generation setzt den aller vorangehenden bis zum Uranfang hinauf voraus. Daher erhebt sich jetzt über der Familie das Geschlecht (γένος); die Zugehörigkeit zu einem adligen Geschlecht ist das Kennzeichen des Adels. Der Geschlechtsname ist in manchen Fällen vom Wohnsitz, von einem erblichen Beruf, einem Priestertum oder einer Eigenschaft hergenommen, in der Regel aber trägt er gentilizische Form, er bezeichnet die Geschlechtsgenossen nach ihrem Ahnherrn, sei es, daß dieser einen echten Personennamen trägt – in vielen Fällen mag es wirklich eine Person gegeben haben, nach der das Geschlecht benannt ist459 –, sei es, daß der Name des Ahnen nur fingiert, aus der uns nicht mehr verständlichen Geschlechtsbezeichnung abgeleitet ist.

Wie im Leben der Adlige unabhängig dasteht, gestützt auf seine eigene Macht, so ruht das Geschlecht durchaus auf sich selbst. Sein Anspruch wird nicht auf ein vom König oder vom Volk verliehenes Privileg zurückgeführt, sondern ist mit ihm von Anfang an gegeben. Daher hat der Adlige neben den Göttern, welche gleichmäßig jede Familie für sich als ihre Schirmherren verehrt, wie den Zeus oder in Ionien und Athen den Apollon patroios, seine besonderen Schutzgötter, die nur ihm angehören und darum [283] bei jedem Geschlechte andere sind460. Deshalb gelten die Adligen, wenn auch alle Menschen vom Vater Zeus abstammen, doch in ganz besonderem Sinne als seine Nachkommen und von ihm gezeugt und auferzogen (διογενεῖς βασιλῆες, διοτρεφής) – daß sie daneben andere Götter als die eigentlichen Ahnen verehren, empfindet man nicht als Widerspruch; gelten doch alle Götter als Kinder des Zeus. Daher gilt der Ahne nicht, wie in den hebräischen und arabischen Genealogien, als Nachkomme des Stammvaters des ganzen Volkes, also etwa des Ion, des Doros, der Thebe, sondern er steht ausnahmslos selbständig da, sei es, daß man ihn als Sohn eines Gottes, des Zeus, des Apollon, des Poseidon, betrachtet oder daß man ihn unmittelbar aus der Erde oder dem Flusse der Heimat hervorgehen läßt (αὐτόχϑων)461. Diese Anschauung scheint namentlich bei den Geschlechtern geherrscht zu haben, welche zu mehr als lokaler Bedeutung nicht gelangt sind. Die angesehensten Geschlechter dagegen haben vielfach, je mehr die Sagendichtung zu Ansehen und weiter Verbreitung gelangte, ihre Vorfahren an die gefeierten Gestalten des Epos, an Agamemnon, Herakles, Nestor, Kadmos usw., angeknüpft und so den Stammbaum nach oben erweitert. Ursprünglich kennt der einzelne Adlige nur den Namen seines Geschlechts und den seines Vaters, durch den sein Anspruch erwiesen wird. Je mehr aber der Adel sich abschließt und seine Herrschaft festigt, desto mehr beginnt [284] man auch auf den Nachweis der Filiation im einzelnen Gewicht zu legen. Bis zum Anfang des 9. Jahrhunderts etwa reichen in den uns bekannten Stammbäumen die wirklich geschichtlichen Namen hinauf; ihnen wird, sei es unmittelbar, sei es nach einigen Zwischengliedern, der Eponymos des Geschlechts vorangestellt. So gewinnt der Adlige einen vollständigen Stammbaum (γενεαλογία), durch den er seine Abstammung in gerader Linie bis zum Gott hinauf nachweisen kann (ἰϑαγενής)462.

So tritt das Geschlecht als ein neues Element zwischen die älteren Gliederungen des Volks, die Phylen und Phratrien. Aus Genossenschaften Gleichstehender verwandeln sieh diese unter der Herrschaft der »Besten« in Adelsverbände mit einer abhängigen Gefolgschaft. Daher tragen die Phratrien meist gentilizische Namen, als seien sie wirklich aus Geschlechtern erwachsen; [285] auf Kalymna und sonst heißen die Unterabteilungen der Phylen geradezu »Geschlechtsgenossenschaften« (συγγένειαι). Die Seßhaftigkeit führt zur Fixierung ihrer Zahl und ihres Bestandes, die gesamte Bevölkerung wird in Geschlechter verteilt, so widersinnig auch die Anwendung des Geschlechtsbegriffs auf den gemeinen Mann ist. Daß diese Einteilung nicht spontan erwachsen, sondern durch eine einmalige Organisation geschaffen ist, lehrt ihr Schematismus. Ursprünglich waren die »Brüderschaften« freie Verbände, jetzt zerfällt jede Phyle in eine fest bestimmte Zahl gleich großer Phratrien, innerhalb) dieser stehen die einzelnen »Geschlechter« (γένη, γενεαί) oder »Vaterschaften« (πάτραι). So besteht in Attika jede der drei Phratrien, in die die vier Phylen zerfallen, der Theorie nach aus 30 Geschlechtern zu 30 Mann – ein Schema, das allerdings in der Praxis niemals völlig durchgeführt sein kann463. In vielen Fällen macht die durch die Ansiedlung und durch Aufnahme zugezogener oder unterworfener Elemente geschaffene Vermengung der alten Verbände eine völlige Neuteilung der Bürgerschaft nötig; in dem Antagonismus zwischen dem Blutsverbande und der auf dem Wohnsitz beruhenden Gemeinschaft trägt die letztere den Sieg davon – wenn auch die neugeschaffenen lokalen Einheiten sofort wieder als blutsverwandt, als Nachkommen desselben Ahnherrn gedacht werden. In Teos zerfällt die Bürgerschaft in »Abteilungen« (συμμορίαι), die meist nach denselben Personen benannt sind, deren Namen die »Türme«, die Adelsburgen des Gebiets von Teos, tragen (o. S. 282). Auch im Mutterlande finden wir derartige Neuordnungen. Während man sich in Argolis und auf Kreta damit begnügte, aus der nichtdorischen [286] freien Bevölkerung eine oder mehrere neue Phylen zu bilden, sind in Sparta schließlich die alten Phylen aufgegeben. Die späteren spartanischen Phylen haben ihre Namen von den Ortschaften, aus denen der Vorort besteht (o. S. 271), und zerfallen in Oben (ὠβαί), die wahrscheinlich nach den Dörfern benannt sind, in denen der Grundbesitz ihrer Mitglieder lag464. Ebenso zerfallen die Korinther in acht, die Elier in zwölf lokale Phylen; in Tegea sind die Phylen Bezirke, die meist nach Heiligtümern benannt sind465. Bekanntlich ist eine derartige lokale Neueinteilung der Bürgerschaft in späterer Zeit auch in Attika durchgeführt.

Nach wie vor bleiben die Phylen466 und Phratrien die grundlegenden Elemente, jene des politischen, diese des sozialen Lebens. Sie haben eigenes Vermögen an Land und Vieh – die Überschüsse des Ertrags werden ursprünglich wohl immer unter alle vollberechtigten Genossen verteilt –, eigene Beamte, eigene Götter und Feste. Die Phylen sind die Stimmkörper in den Volksversammlungen, nach ihnen, ist das Aufgebot geordnet (Il. B 362), aus ihnen werden die Gemeindebeamten entnommen; in den kretischen Städten z.B. lösen sich die Phylen Jahr für Jahr ab in der Besetzung der höchsten Ämter (der Kosmen), so daß das Jahr nach der regierenden Phyle benannt wird. In Attika steht an der Spitze jeder Phyle ein »Herzog« (König), dem ursprünglich wohl die politische und militärische Leitung der Phyle und die Verwaltung ihres Vermögens zusteht; die φυλοβασιλεῖς entsprechen den römischen tribuni [militum]467. Die vier Phylenkönige tagen im Prytaneon – ob dem Landeskönig untergeordnet oder selbständig neben ihm, wissen wir nicht – und gehören zu den höchsten Verwaltungs- und Gerichtsbeamten des Staates (u. S. 325); neben [287] jedem standen eine Anzahl Ratsherren des Stammes, so daß der Rat in vier Kollegien zerfiel. Auch die spätere Ordnung, daß die Leitung der Staatsgeschäfte und der Vorsitz im Rat während des Jahres der Reihe nach bei diesen Ratskollegien herumging und das Jahr so in vier gleiche Verwaltungsabschnitte (Prytanien) geteilt wurde, wird schon auf die älteste Zeit zurückgehen. In den rhodischen Gemeinden werden die Gauverbände (κτοῖναι, o. S. 271), die zu Unterabteilungen der Phylen geworden sind, von »Suchern« oder »Eintreibern« (μαστροί) geleitet, die das Gemeinvermögen zu verwalten haben – ihre ursprüngliche Aufgabe ist, wie der Name sagt, die Abgaben von Land und Vieh beizutreiben, welche der Genossenschaft zustehen. Sie sind die Kassenbeamten der Gemeinde und entsprechen dem Namen wie der Funktion nach genau den ältesten Beamten Roms, den Quästoren. Später zerfällt jede attische Phyle in 12 Verwaltungsbezirke (ναυκραρίαι, u. S. 589), deren jeder ein Schiff zu stellen hat; an ihrer Spitze stehen Finanzbeamte, die Naukraren (Aristot. pol. Ath. 8, 21; vgl. u. S. 324). Ähnliche Organisationen bestanden in allen griechischen Gemeinden, und wenn auch später die zugrunde liegende Anschauung völlig geschwunden ist und die alten Ordnungen zu religiösen Bräuchen verkümmerten, so sind die Phylen doch in den meisten griechischen Staaten allezeit die natürlichen politischen und militärischen Abteilungen geblieben.

Seit der Entwicklung des Adels sind die »Besten« die berufenen Leiter und Schirmer der Blutsverbände. Sie verwalten ihr Vermögen, leiten ihre Feste, führen ihr Aufgebot, die Ämter werden »nach der Tüchtigkeit« (ἀριστίνδην, i.e. κατ᾽ ἀρετήν), d.h. tatsächlich aus dem Adel besetzt. Das Geschlecht wird das maßgebende, herrschende Element im Leben. Der Adlige stützt sich auf »seine Sippen und Gefolgsleute« (σούς τε μάλιστα έτας καὶ ἑταίρους, οἵ τοι ἔασιν Il. H 295); die Geschlechtsgenossen, die »Brüder und Sippen« (κασίγνητοί τε έται τε Il. II 456. Od. ο 273) oder »Sippen und Vettern« (έται καὶ ἀνεψιοί Il. I 464) halten fest zusammen. Es ist sehr bezeichnend, daß das Wort έτας, bei Homer den Verwandten oder Geschlechtsgenossen, in den peloponnesischen Staaten einfach den Bürger bedeutet (IGA. 110. Thuk. V 77. [288] Hesych.)468. Wer keine Verwandtschaft hat, die ihn schirmen kann, muß sich in den Schutz eines Mächtigen begeben – darauf beruht offenbar die Durchführung des Geschlechterschematismus für die gesamte Bevölkerung. Daher sind die Kleinbauern Attikas größtenteils Hörige (πελάται), persönlich und politisch von den Adligen abhängig, und ähnlich ist die Lage der Tagelöhner (ϑῆτες) wohl überall. Es ist möglich, daß die Unfreiheit der Landbevölkerung in den dorischen Staaten und in Thessalien wesentlich auf diese Weise entstanden ist (o. S. 258f.). Dafür ist aber der Adlige durch Herkommen und Religion verpflichtet, den Ärmeren zu beschützen. Drakons Satzung, daß bei der Blutsühne, wenn keine Verwandten des Verstorbenen vorhanden sind, die zehn besten Männer aus den Phratriengenossen ernannt werden sollen (ἀριστίνδην), um über die Annahme der Sühne zu entscheiden (IG I2 115), kodifiziert jedenfalls nur älteres Gewohnheitsrecht und zeigt die »Besten« als Vertreter der Phratrien in der Blutrache. Ebenso gilt der Adlige als berufen zum Schutz der Flüchtigen und Bedürftigen, der Witwen und Waisen, wenn er auch oft genug seine Stellung wider göttliches und menschliches Recht mißbraucht und durch Unrecht seinen Besitz mehrt (vgl. z.B. Il. Ω 260ff., über das Treiben ungeratener Königssöhne und Hesiod. op. 326ff., wo allerdings nicht speziell von Adligen die Rede ist).

Schon in den ältesten Zeiten – das beweist der Kult der ϑεοὶ πατρῷοι und Zeus' Beiname »Vater der Götter und Menschen« – haben die Angehörigen der Blutsverbände sich als Nachkommen eines einzigen. Ahnen und durch ihn der Gottheit betrachtet. Jetzt wird jede menschliche Gemeinschaft, Völker, Stämme, Städte, Dörfer, auf einen Eponymos zurückgeführt. Dieser Glaube hat sich erst unter der Adelsherrschaft und nach dem Vorbilde der Adelsgeschlechter entwickelt. Das ältere Epos kennt ihn nicht, erst in die jüngeren Schichten finden eponyme Gestalten mehr und mehr Eingang. Vor allem aber hat die Hesiodeische Dichtung, deren Hauptaufgabe die Erforschung der Ursprünge war, sie [289] systematisch ausgebildet und verarbeitet; durch sie ist z.B. der Hellenenstammbaum geschaffen und den Athenern Ion, den peloponnesischen Doriern Doros und die Genealogie des Hyllos, Pamphylos, Dyman oktroyiert. Die genealogische Auffassung des Ursprungs der Völker und Staaten ist in Griechenland immer herrschend geblieben und für die späteren Staatstheorien verhängnisvoll geworden; aber in der scharfen Konsequenz, in der sie bei den semitischen Stämmen herrscht, ist sie nie durchgeführt. Bei diesen sind weitaus die meisten Stammnamen singularische Eigennamen, wie Israel, Joseph, Juda, Qain, Qoreiš, Kaleb usw., zugleich – und ohne daß ein Unterschied empfunden wird – den Stamm selbst und den Ahnen bezeichnend; an die Ahnen knüpfen zahlreiche Sagen, welche Wesen und Schicksale des Stammes veranschaulichen, aber zu ihrer Zeit existierte der Stamm noch nicht. Auch den Griechen ist diese Auffassung nicht fremd. Ionier sind alle, die von Ion und seinen vier Söhnen stammen (Aristot. metaph. IV 28), denn Pelasgos hat die Erde hervorgehen lassen, »damit ein Geschlecht sterblicher Menschen entstehe« (Asios fr. 8 bei Pausan. VIII 1, 4), ebenso sind Aiolos, Hellen, Lakedaimon, Thebe, Mykene ursprünglich gedacht. Aber früh schiebt sich dem die andere Anschauung unter, welche neben den Ahnen bereits das Volk existieren läßt und sie zu seinen Führern macht, nach denen es benannt ist. So sind Dardanos, Tros, Ilos nicht die Ahnen der Troer, sondern ihre ältesten Könige, Pelasgos und Hellen herrschen über die Volksstämme Thessaliens, Danaos ist der König des Volks von Argos usw. Hierin tritt die selbständige Stellung des Adels hervor. Die Adelsstammbäume gehen, wie schon erwähnt, prinzipiell niemals auf die Ahnen des Volkes zurück wie bei den Semiten – die hebräischen und arabischen Geschlechter [nicht die Familien] entsprechen weit mehr den Phratrien und Clans als den griechischen, aus der Erweiterung der Familie erwachsenen Geschlechtern –, sondern auf selbständige Gestalten. Daher sind die Eponymen der Stämme, Städte und Landschaften meist farblose Gestalten ohne wirkliches Leben, eine echte Sage haben sie kaum je entwickelt; die Dichtung, in Ursprung und Tendenz auf das engste mit dem Adel verwachsen, [290] hat an den Eponymen des Volks kein tieferes Interesse. Daher rührt zugleich der Dualismus in den Genealogien, der der geschichtlichen Erkenntnis so große Schwierigkeiten bereitet hat. Wie alle Ionier stammen auch die ionischen Adligen von Ion, die äolischen von Äolos; aber ihr Stammbaum führt nicht auf diese zurück, die Könige Kyrenes stammen nicht von der Nymphe Kyrene, sondern von dem Argonauten Euphemos, die Thebaner und Ägineten sind verwandt, weil Thebe und Ägina Schwestern waren (Herod. V 80), der thebanische Ägide Pindar nennt die Arkaderin Thebe seine Urmutter (Olymp. 6, 84), doch sein Stammbaum geht auf den Sparten Aigeus (o. S. 285, 1) zurück. Soweit man diesen Gegensatz empfand, wird man einen Ausgleich durch Heiraten herbeigeführt haben. Aber nirgends tritt deutlicher als hier die selbständige Stellung des Adels und die Umwandlung hervor, welche die Ausbildung des Geschlechts in die älteren Ordnungen des Volkes gebracht hat469.

[291] Während die rechtliche, religiöse und politische Bedeutung der Phylen und Phratrien durch die neue Entwicklung nur gesteigert wird, wird mit der Ausbildung des Ackerbaues und des Privatbesitzes die gemeinsame Lebensweise der Urzeit bei den meisten griechischen Stämmen unhaltbar und macht der vollen Einzelwirtschaft Platz; doch nicht, ohne vielfache wichtige Spuren zu hinterlassen. Was früher Gewohnheit war, wird zur Ausnahme; die alte täglich geübte Sitte schrumpft zu einer religiösen Feier zusammen. Im Dienst der Schirmgötter der Phratrie, der Phyle, des Dorfs – denn jede Ansiedlung hat ihre Gottheiten – vereinigen sich nach wie vor die Genossen zu Opferschmaus und Zechgelage, am Festtage der großen Stammgötter strömt das ganze Volk zusammen, dann werden an hundert Rinder geschlachtet (ἑκατόμβη) und jeder Mann erhält seinen Anteil. Je 9 Reihen zu 500 Mann sitzen in einer Schilderung der Telemachie (γ 5ff. 59) die Pylier beim Poseidonsfeste am Strande des Meers, 81 Rinder werden geopfert – eine Schilderung, die in Wirklichkeit vielleicht nicht für Messenien, aber jedenfalls für Ionien Gültigkeit hat (vgl. z.B. auch Od. υ 276ff.). Die Kosten sind später zum Teil vielleicht aus Beiträgen der Einzelnen oder aus einer Umlage (vgl. Hesiod op. 723), ursprünglich aber wohl immer aus dem Vermögen des feiernden Verbandes bestritten worden; für ihre Beitreibung sorgen besondere Beamte, wie die μαστροί (o. S. 288). Für gewöhnlich aber lebt der Einzelne daheim; der gemeine Mann ist ja an sein Grundstück gefesselt, nur der Wohlhabende mochte auch jetzt die Sippen und Nachbarn und sein Gefolge zum Schmaus um sich versammeln und dadurch seinen Einfluß mehren.

Dagegen hat sich die alte Lebensweise bei dem Rate der Alten erhalten. Regelmäßig sitzen die Ratsherrn wie auf dem Markt bei Rat und Gericht, so auch im Männersaal (μέγαρον) beim Mahl zur Seite des Königs und trinken den Ratswein (γερούσιον αἴϑοπα οἶνον Il. Δ 259 Od. ν 8). Auch auf die übrigen Adligen werden diese öffentlichen Mahle ausgedehnt; die alte Gemeinfreiheit ist ja jetzt wesentlich auf sie beschränkt. In weitem Umfang werden in Krieg und Frieden die »Besten« zur Tafel des Königs entboten,[292] je feierlicher der Anlaß ist, um so mehr, und niemand darf sich der Ladung entziehen (Od. η 188. ϑ 41). Eine sehr alte Stelle der Odyssee (λ 185) zeigt, daß ursprünglich der Herrscher nicht nur den Ertrag des Königsguts genoß, sondern auch von den Untertanen regelmäßig zu Gaste geladen wurde – eine Art Verpflegungspflicht, die auf den angesehensten Männern der Gemeinde lastete, wie sie sich z.B. auch bei Iren und Deutschen findet. Zum Teil vermutlich durch den Glanz großer königlicher Hofhaltungen, zum Teil aber auch durch das Anwachsen der Adelsmacht, welche sich von einer lästigen Verpflichtung befreite, ist diese Sitte später verschollen; in den meisten homerischen Schilderungen, namentlich in dem Idealbild ionischer Zustände, welches die Schilderung der Phäakenstadt enthält, sind die Adligen regelmäßig die Gäste des Königs, und in Ithaka lagern sie sich dem Erben des Herrschers ins Haus, um seine Mutter zur Ehe zu zwingen. Die Kosten werden zum Teil aus dem Königsgut bestritten worden sein – Odysseus' Hirten liefern das Schlachtvieh für die Gelage der Freier –, ein Hauptbeitrag aber wurde von der Gemeinde, vielleicht aus dem Ertrage des Gemeinvermögens an Land und Vieh, geliefert (Il. Δ 344 ὁπότε δαῖτα γέρουσιν ἐφοπλίζωμεν Ἀχαιοί. P 250 ἡγήτορες ἠδὲ μέδοντες, οἵτε ... δήμια πίνουσιν καὶ σημαίνουσιν ἕκαστος λαοῖς). Ebenso werden fremde Gäste auf Kosten der Gemeinde (δημόϑεν) verpflegt (Od. τ 197), die Gastgeschenke, welche die Fürsten der Phäaken dem Odysseus zu geben haben, werden ihnen durch eine von dem gesamten Volk erhobene Umlage vergütet (ν 14). Derartige Zustände haben überall in Griechenland bestanden. Daher erhält in Sparta der König außer dem Königsgut in den untertänigen Gemeinden »von jedem Opfer eine Ehrengabe« und »von jedem Wurf einer Sau ein Ferkel, damit er nie Mangel an Opfertieren leidet« (Xen. rep. Lac. 15, vgl. Herod. VI 57, der noch weitere Realabgaben aufzählt). Daher gehören in Attika die »Fleischschneider« (κωλακρέται) zu den ältesten und wichtigsten Beamten [ihre Zahl und ihr Verhältnis zu den Phylen ist leider nicht bekannt.]. Sie verwalten wie die μαστροί die Einnahmen der Gemeinde und rüsten daraus die öffentlichen Speisungen (im Prytaneion) her, bei denen sie die Fleischstücke verteilen. Auch [293] die allgemein griechische Benennung des Finanzbeamten, ταμίας. bezeichnet ursprünglich den Schaffner, der das Fleisch zerschneidet. Bis in die späteste Zeit ist es allgemein griechischer Brauch, daß die Gemeindebeamten auf Staatskosten zusammen speisen und nicht nur angesehene Fremde, sondern auch Bürger, die geehrt werden sollen, zur Staatstafel geladen werden (παρασιτεῖν).


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 277-294.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon