Das Zeitalter der sieben Weisen

[661] Die Volkstradition faßt die hervorragendsten unter den Staatsmännern, welche in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts an der Spitze der Griechenstädte des Mutterlandes und Kleinasiens gestanden haben, unter dem Namen der sieben Weisen zusammen: es sind diejenigen Männer, welche den tiefsten Einblick getan haben in den Gang der irdischen Dinge, welche mit fester Hand das Staatsschiff zu lenken wissen und in jeder Lage im Rat wie im Gericht die treffende Entscheidung finden. Periander von Korinth, Solon von Athen, Cheilon von Sparta, Pittakos von Mytilene, Thales von Milet, Bias von Priene, Kleobulos von Lindos bilden den Kreis der Sieben. Von manchem ist kaum mehr als der Name bekannt; von Kleobulos' Wirksamkeit wissen wir noch weniger als von der des Cheilon oder des Thales. In kurzen Kernsprüchen, so glaubt man, haben sie die Summe ihrer Lebenserfahrung – denn das ist ihre »Weisheit« – niedergelegt. Mehrere [661] derselben waren im delphischen Tempel eingegraben. Es sind Sprüche wie »Erkenne dich selbst« oder »Die Übung macht alles«, die eine Autorität als Stütze bekommen sollten; doch enthalten manche in der Tat eine treffliche Charakteristik des Mannes, dem sie zugeschrieben werden: so »alles mit Maß« (richtiger »nichts übertreiben«) für Solon, »es ist schwer tugendhaft zu sein« für Pittakos, den lesbischen Staatsmann, der allen Versuchungen widerstand und in den schwierigsten Lagen dennoch sein hohes Ziel nie aus den Augen verlor. Auch die Warnung vor der Bürgschaft (o. S. 507) paßt gut in den Mund eines vorsichtigen und mißtrauischen lakonischen Staatsmannes, wie es Cheilon gewesen sein wird. Frühzeitig hat die Legende ihre Ranken um die Sieben gewoben; man denkt sie in persönlichem Verkehr, beim Gastmahl vereinigt, man setzt sie in Verbindung mit den mächtigsten der ausländischen Herrscher, mit Amasis von Ägypten und Krösos von Lydien. An den Hof von Sardes läßt man sie alle kommen (Herod. I 29), Thales verkündet dem Lyderkönig die Sonnenfinsternis des J. 585 und bahnt ihm den Weg über den Halys, Bias oder Pittakos macht ihm das Törichte eines Angriffs auf die Inseln begreiflich, Solon repräsentiert gegenüber seiner Überhebung und seinem eitlen Stolz auf den Reichtum die Besonnenheit und Einsicht des Hellenen (vgl. u. S. 667.). Auch andere Gestalten schließen sich an; so Myson, der Bauer vom Öta, den Apollo für den weisesten der Menschen erklärt hat (Hipponax fr. 61 D.), der Repräsentant des behaglichen Friedens des in seinem Kreise aufgehenden Landmanns im Gegensatz zu den nie endenden Mühen des Staatsmanns und des Denkers, so der bildungsdurstige Skythe Anacharsis, der nicht selten an der griechischen Kultur scharfe Kritik übt, so der lydische Sklave Äsop, der den großen Weisen gegenüber die volkstümliche Lebensklugheit vertritt, die er in seinen Fabeln niederlegt. Die Gestalt Äsops enthält gewiß einen historischen Kern; auch mag es richtig sein, daß die griechische Tierfabel ihre typische Gestalt zunächst in Kleinasien unter lydischem Einfluß gewonnen hat. Aber falsch ist es, zu glauben, sie sei erst in dieser Zeit entstanden und aus der Fremde importiert. Die Tierfabel ist bei jedem Volk heimisch und so alt [662] wie Gesang und Dichtung, und sobald die Dichtung von der Höhe des Epos zum Volk herabstieg, tritt sie uns auch in Griechenland in der Literatur entgegen; schon Hesiod und Archilochos haben sie verwendet. – In derselben Weise ist die Rätseldichtung im Kreise der Sieben durch Kleobulos' kluge Tochter Kleobulina vertreten965.

Das Zeitalter der sieben Weisen bildet den Höhepunkt der archaischen Kulturepoche Griechenlands. Überall entfalten sich die Keime, welche das 7. Jahrhundert gepflanzt hat, zu neuen, kräftigen Trieben. Ein reger Eifer, das errungene Können und Wissen zu betätigen und zu vermehren, eine frische Schaffensfreudigkeit geht durch die ganze Zeit. Der Staatsmann, sei er ein Selbstherrscher oder der erwählte Leiter eines freien Gemeinwesens, [663] gestaltet den Staat nach den Grundsätzen, die ihm Weisheit und Erfahrung gegeben haben, er lenkt seine Politik mit weitem Blick nach einem festen Ziel. Aus dem Werk des Künstlers, der wieder und wieder versucht, sein Ideal im Stein zu verkörpern, spricht der Stolz über jeden neuen Fortschritt, über jede Annäherung an Naturwahrheit und lebensvollen Ausdruck, so naiv und unbeholfen es auch noch ausgefallen ist. Die belebten Szenen aus dem Leben und der Sage, mit denen der Maler die Vasen, der Bildhauer und Erzarbeiter den Tempel oder auch, wie in Sparta Bathykles von Magnesia, den Thronsitz eines Gottes schmückt, sie zeigen in ihrer Gestaltenfülle, in der Masse der sich drängenden und nicht selten sich ausschließenden Motive die helle Freude über das erreichte Können, die Lust, dem Beschauer möglichst viel zu erzählen, Heiteres und Ernstes, die Überlieferung lebendig auszugestalten und weiterzubilden, womöglich in eine einzige Szene ein ganzes Epos zusammenzudrängen. Der Tempelbau nimmt immer größere Dimensionen an; um die Mitte des Jahrhunderts werden Wunderwerke geschaffen, wie auf Samos der Tempel der Hera, den Rhoikos errichtete (Herod. III 60), und der von Chersiphron erbaute Tempel der ephesischen Artemis. Als im J. 548 (Pausan. X 5, 13. Euseb.) der delphische Tempel abbrannte, beschlossen die Amphiktionen einen Neubau im größten Maßstabe. Von den auf 300 Talente angesetzten Kosten haben die Delpher ein Viertel durch eine große, in der ganzen griechischen Welt veranstaltete Sammlung aufgebracht, zu der auch Amasis von Ägypten beisteuerte; die drei übrigen Viertel sind aus dem Tempelschatz und vielleicht aus Beiträgen der amphiktionischen Staaten beschafft worden (Herod. II 180). Der ausgeführte Bau übertraf, dank der berechneten Munifizenz der Alkmäoniden (u. S. 738), noch den Entwurf; der neue Bau war der erste dorische Tempel mit einer Front von parischem Marmor (Herod. V 62; vgl. Pindar Pyth. 7, 10).

In der Elegie hat zu Anfang des 6. Jahrhunderts Mimnermos von Smyrna das höchste geschaffen. Nur bei ihm trägt sie einen wahrhaft lyrischen Charakter; das erotische Element und die subjektive Empfindung bestimmen den Ton seiner Gedichte. [664] Gleichzeitig erreichte die Spruchdichtung ihren Höhepunkt in Solon und Theognis und den zahlreichen namenlosen Elegikern, von denen Bruchstücke in der großen, unter Theognis' Namen gehenden Sammlung erhalten sind966. Etwa in derselben Zeit hat in Milet Phokylides seine Weisheit in ganz knappen, regelmäßig mit seinem Namen gezeichneten Sprüchen niedergelegt967. Gleichzeitig schaffen in Mytilene Sappho und Alkäos das abgerundete, für den Einzelgesang bestimmte Lied, den echten Träger der Lyrik. Wenig später ersteht in dem Sikelioten Stesichoros von Himera968 der Gesetzgeber des Chorgesangs969. Im Gegensatz zu der volkstümlichen Weise des Liedes und der Elegie herrscht hier eine getragene hochtönende Weise, die namentlich weniger begabte Dichter leicht zur Manieriertheit, zu gesuchtem, fast unverständlichem Ausdruck verführt hat. Stesichoros ist vor allem maßgebend geworden durch den Inhalt seiner Gesänge. Auch seine Vorgänger haben vielfach aus der Sage geschöpft; aber erst Stesichoros macht die Sage zum Inhalt seiner Dichtungen. All die Stoffe, die das Epos behandelt hat, werden von ihm aufs neue [665] bearbeitet und dabei nach den Bedürfnissen der Zeit vertieft und neu gestaltet. Damit wird der Untergang der epischen Dichtung besiegelt. Träger des fortschreitenden Lebens war sie schon lange nicht mehr, so gern sie auch überall gehört, so vielfach sie noch von den kraftlosen Nachkommen der Aöden weiter fortgesponnen wurde; jetzt muß sie auch ihren Stoff an eine neue Dichtungsform abgeben. Mit Recht macht die Legende den Stesichoros zum Nachkommen Hesiods.

Wie die Kunst, zeigt auch die Literatur ihre lokalen Schulen. Aber ihre Wirkung ist universell; sofort verbreitet sich, was an einem Orte geschaffen ist, weithin durch ganz Hellas. Theognis kann sich rühmen, daß er bei allen Menschen einen Namen hat (23); seinem Kyrnos hat er Flügel gegeben, mit denen er über das weite Meer in jedes Land fliegt, bei allen Gastmählern und Schmäusen ist er zugegen, die jungen Leute singen von ihm beim »Komos« zur Flöte (237ff.). Ein reger Austausch umspannt die ganze Griechenwelt von Italien und Sizilien bis Kyrene und bis an die pontischen Küsten. Wie die Kaufleute ziehen die Sänger und Künstler, die Athleten und Wagenkämpfer von Ort zu Ort970. Das Nationalfest in Olympia und die neuen Stiftungen zu Delphi, Korinth, Nemea bilden die großen Mittelpunkte des nationalen Lebens; aber auch zu den Gymnopädien in Sparta und den Panathenäen in Athen, zu den Lykäen Arkadiens, den Festspielen in Argos, Theben, Sikyon, Eleusis, Marathon usw. strömen die Wettbewerber und die Zuschauer von überall her zusammen971. Einen zweiten großen Zentralpunkt bildet das delphische Orakel. Überall tauscht man aus, was man an Neuem und Eigenem mitzuteilen hat. Das Interesse an den Vorgängen der Fremde, an allem Merkwürdigen und Eigenartigen ist erwacht. Daher entsteht in der Zeit der sieben Weisen auch eine gesamtgriechische Tradition. Ihren Charakter haben wir schon kennen gelernt (o. S. 565f.); nicht das nackte Faktum ist es, das sie bewahrt und im Gedächtnis erhält, sondern das Außergewöhnliche und Charakteristische, [666] das Individuelle, vor allem aber der Gegensatz zwischen dem menschlichen Tun und dem jäh hereinbrechenden Schicksal, zwischen Schuld und Sühne, das große Schicksalsproblem, das die Ereignisse den Mitlebenden immer wieder vor Augen führen und das die Tradition immer aufs neue und immer tiefer zu erfassen sucht.

Auf diesem Boden erwächst das Größte und Unvergängliche, was die Zeit der sieben Weisen geschaffen hat: ihr sittliches Ideal. Eine derartige Verbindung heiterer Lebensfreude mit tiefem sittlichen Ernst, ein derartiges Gleichmaß, das sich von der Rigorosität des Sittenpredigers ebenso fern hält wie von roher Genußsucht, hat kein Volk und keine Zeit wieder geschaffen. Der große frische Zug, der die Zeit durchdringt, weht auch uns noch daraus entgegen. Die neuerwachte Individualität schaut in das Leben hinaus und sieht mit frohem Erstaunen, wie reich und wie schön es ist. Sie genießt mit vollen Zügen. Aber eben deshalb lernt sie, was der ausgereiften, mit allen Gütern gesättigten Zivilisation das schwerste ist, das Maßhalten. Wohl gibt es Männer genug, die nicht verstehen, sich selbst zu beschränken, denen das Gewonnene nur die Vorstufe ist zu immer größerer Macht, zur Aufhäufung immer neuer Schätze, bis sie zu schwindelnder Höhe sich erheben, von der den Verblendeten der nächste Schritt jäh in den Abgrund stürzt. Aber gerade ihr Schicksal zeigt dem, der das Leben wirklich durchschaut hat, die Grenzen der Menschheit; schon das übermäßige Glück, schon die übergroße Macht ist Überhebung, ist eine sittliche Verschuldung, die die göttliche Strafe herbeiführt. Wer es wirklich versteht, täglich Neues zu erwerben, geistig und materiell, strebt nicht ins Ungemessene, er begnügt sich mit dem, was er hat, weil ihm das Nächstliegende so viel bietet. So löst sich das große Problem der Verschuldung, das im Mittelpunkt des gesamten sittlichen und religiösen Denkens steht. Mannigfach verschieden sind die Wege des Schicksals, oft schiebt Zeus die Strafe hinaus; erst Kinder und Enkel büßen für das, was der Vater gesündigt. Aber unbeirrt hält der Glaube daran fest: wo Strafe ist, ist auch Schuld, sei es auch nur die Überhebung, das leichtsinnige Vertrauen auf das eigene Glück. Daher übt der Weise [667] Tugend und Gerechtigkeit; er weiß, daß sie allein ein unvergängliches Gut ist, daß sie allein ihm die Gnade der Götter bewahrt. Eine philosophisch genügende Lösung des Problems ist das nicht, und die folgende Zeit hat den Schleier hinweggerissen, mit dem Solon und seine Zeitgenossen den Gegensatz zwischen der ethischen Forderung und den Tatsachen des Weltregiments zu verhüllen suchen972; aber auf ihr beruht der feste Glaube an sich selbst, an die Lösbarkeit der großen politischen Aufgaben, an die Gerechtigkeit des göttlichen Regiments, der einen Solon, einen Pittakos und so viele andere fast verschollene Staatsmänner dieser Zeit nie verlassen hat, der durch keinen Mißerfolg erschüttert werden kann; daher ihr sicherer Blick für das Erreichbare und ihre freiwillige Unterordnung unter die große Idee des Gemeinwohls; daher jene Harmonie des Wollens und Könnens, jenes innere Gleichgewicht der Stimmung und der Kräfte, wie es uns am großartigsten in Solons Tun und Denken entgegentritt.

Freilich fehlt auch die Gegenströmung nicht. In der fortgeschrittenen ionischen Welt ist man hinaus über die hehren und naiven Ideale, die im übrigen Griechenland noch so zweifellos geglaubt werden. Phokylides kritisiert nicht nur die unberechtigten Ansprüche der gedankenarmen Vornehmen, die sich einbilden, den Staat regieren zu können (fr. 3. 11 Diehl), er zieht auch die Konsequenzen aus den Sätzen, die von Solon so zuversichtlich vorgetragen werden. Wenn es wahr ist, daß das Wandeln auf den Höhen die Lebensgefahr bringt, warum denn überhaupt sich hinaufwagen? »Vieles ist für den Mittelstand am besten; dem Mittelstand im Staat will ich angehören« (fr. 12). Auch er mahnt zur Tugend und Gerechtigkeit; aber wenn für die Erreichung des sittlichen Ideals das behagliche Auskommen die Voraussetzung bildet, wie kann der Arme tugendhaft sein? »Erst suche dir Lebensunterhalt, die Tugend, wenn du bereits zu leben hast« (fr. 9). Es ist die Zersetzung der herrschenden Staatsidee, die sich zum erstenmal [668] in leisen Ansätzen hier ankündigt. Und auch der frohe Glaube an das Leben, der heitere Lebensgenuß, dessen Solon und Alkäos sich erfreuen, dessen Verlust Theognis beklagt, geht den Ioniern der Lyderzeit verloren. Die Weisheit ist schal, der Genuß sättigt nicht mehr. Ohne ihn wäre das Leben nichts; aber er ist vergänglich und nie zu stillen; die Jugend entflieht, dahinter lauert das trostlose Alter und der bittere Tod. Das ist der Gedanke, den Mimnermos von Smyrna immer aufs neue wiederholt. Auch er hat in seinen Elegien seine Heimat verherrlicht und zum Ausharren im Kampf gegen die Lyder nach der Väter Weise, freilich vergeblich, ermahnt (o. S. 570). Aber die Grundstimmung seiner Poesie bildet das unendliche Sehnen einer ewig ungestillten Liebessehnsucht, der tiefe Weltschmerz einer reichen, aber übersättigten und am Leben verzweifelnden Kultur. Die schrankenlose Subjektivität der Lyrik offenbart sich hier zum erstenmal. Nichts als Mühe und Not bringt das Leben selbst für Götter und Heroen, geschweige denn für die armen Sterblichen; auf die kurze Zeit der Jugend folgt die entsetzliche Zeit des freudlosen Alters. »Dem Tithonos gab Zeus nie endendes Übel, das Alter, das schlimmer noch ist als der arge Tod.« »Möchte ohne Krankheit und schwere Sorgen im sechzigsten Jahre mich das Los des Todes ereilen«, ist sein höchster Wunsch. Auch Solon hat an den – seinen eigenen Gedichten an poetischer Kraft weit überlegenen – Schöpfungen des Mimnermos seine Freude gehabt; er hatte die Fähigkeit, auch die Sentimentalität zu verstehen. Aber sie ist ihm fremd und er weist sie von sich: »Laß dich auch jetzt noch bereden, nimm den Vers heraus und weigere dich nicht, weil ich es besser als du erkannt habe; ändere ihn und singe so: ‹im achtzigsten Jahre möge mich das Todeslos treffen›.« Es sind zwei entgegengesetzte Weltanschauungen, die hier aufeinanderstoßen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 661-669.
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