Stesichoros und die Anfänge des Rationalismus

[669] Das ethische Ideal, welches die Solonische Zeit geschaffen hat, sucht die Dichtung zu verwirklichen, indem sie Götter und Helden nach seinem Bilde gestaltet und an ihnen die Probleme behandelt, [669] welche die Zeit bewegen. Vor allem die Neubearbeitung der Sagenstoffe für den Chorgesang, wie sie Stesichoros vornahm, hat diese Aufgabe ergriffen. Zwar ist uns von ihm kein einziges größeres Fragment erhalten, aber die gewaltige Wirkung, die er geübt hat in Verbindung mit den Angaben über seine Behandlung der Stoffe läßt es nicht zweifelhaft erscheinen, daß die spätere ethische Auffassung der Sage, wie sie uns bei seinen Nachfolgern, z.B. Pindar, ausgebildet entgegentritt, großenteils sein Werk ist. Er hat die Sagen nicht nur erweitert und den ganzen Westen in die Mythologie eingeführt, indem er z.B. den Äneas nach Sizilien und Italien, den Herakles nach Tartessos ziehen ließ, sondern vor allem hat er sie sittlich vertieft; er hat die großen ethischen Probleme, die in ihr schlummern, herausgeholt und neue eingeführt. Wohl ist es auch ihm (fr. 17 Diehl) wie dem Hesiod (fr. 93 Rzach) das Werk der von Tyndareos beleidigten Aphrodite, daß dessen Töchter Helena, Klytämnestra, Timandra fremden Männern nachlaufen; aber für ihn bedürfen ihre Taten zugleich einer sittlichen Motivierung. Die Hinopferung der Tochter treibt Klytämnestra in die Arme des Ägisthos und zur Rache an Agamemnon; und ihr Sohn ringt mit dem Konflikt der Pflichten, er frevelt, wenn er den Mord des Vaters nicht rächt, er frevelt, wenn er die Rache an der Mutter vollzieht; nur ein Gott, nur der reine Apollo vermag das Problem zu lösen und Orestes den rechten Weg zu weisen. Die spätere Gestaltung der großen Tragödie des Atridenhauses, die von Generation zu Generation sich steigernde Verkettung des Frevels und der sich forterbenden Verschuldung ist von Stesichoros geschaffen973. Und Helena, die Tochter des Zeus, die mächtige Göttin von Sparta, ist sie wirklich das leichtfertige Weib gewesen, das namenloses Elend über die ganze Welt gebracht hat? Dem Epos war das kein Gegensatz, ihm bleibt sie die gefeierte Heroine, auch wenn sie, von Aphrodite verführt, dem fremden Manne folgt. Aber die geläuterte religiöse Auffassung [670] kann das nicht mehr ertragen; für sie besteht nur die Alternative: entweder war Helena eine Frevlerin oder die Tradition ist falsch. Auch Stesichoros hat die Helena geschmäht; dann aber kamen ihm die Bedenken – die Legende erzählt, daß die zürnende Göttin ihm das Augenlicht raubte – und er widerrief, was er gesungen hatte: »nicht wahr ist diese Erzählung; nicht bestiegst du die schöngebordeten Schiffe, noch kamst du nach Trojas Burg.« Ein Trugbild haben die Götter dem Paris gegeben, sie selbst nach Ägypten entrückt, wo Menelaos am Ende seiner Kämpfe und Irrfahrten die reine Gattin wiederfindet. Ähnlich wird Stesichoros andere Mythen umgewandelt haben. Mehrere seiner Gedichte behandelten die Heraklessage; wie er dem Zuge zu den Rindern des Geryoneus fern auf der Insel Erytheia bei Gades und von da zum Atlas und zu den Gärten der Hesperiden an den afrikanischen Küsten des Ozeans die maßgebende Gestalt gegeben hat, so wird er auch das Idealbild des Helden geschaffen haben, wie es von da an weiterlebt. Herakles ist fortan der Typus des Heros, das Vorbild des unverzagten, auf seiner eigenen Kraft ruhenden Mannes, des wahren Adligen; den Genuß des Weins und der Liebe verschmäht er nicht, aber ohne Ermatten schreitet er vorwärts von Kampf zu Kampf, bis er alle Ungeheuer und Frevler auf Erden bezwungen hat und sich fern im Westen die Äpfel der Unsterblichkeit gewinnt974.

Nicht nur für die Dichtung, sondern noch mehr für die Fortbildung der Religion ist diese Mythenwandlung von der größten Bedeutung. Auch die homerischen Dichter haben den Mythus umgestaltet, Hesiod und seine Nachfolger haben Widersprüche beseitigt und neue Motive eingeführt – um die Allmacht des Zeus gegenüber der Sage von der Mißhandlung der Io durch Hera zu [671] retten, wird erzählt, daß Zeus selbst die Io in eine Kuh verwandelt, um schwören zu können, er habe sie nie berührt, und dann die Bitte der Hera, ihr das schöne Tier zu schenken, nicht abschlagen kann, da er sich in seinem eigenen Netze gefangen hat (Forsch. I 70). Gleichartig ist die Erklärung des Todes der Semele in der Umarmung des Zeus u.a. Aber alle diese Änderungen enthalten noch keinen Zweifel an der Überlieferung – wenn Hesiod die Erfindungen der Aöden für Lügen erklärt, so ist das ein Protest gegen die bisherige Art der Dichtung, nicht gegen die Tradition –, im Gegenteil, sie setzen den Glauben an dieselbe voraus; sie ergänzen nur, was in ihr unvollkommen erscheint. Stesichoros jedoch erhebt Widerspruch gegen die Tradition; er zitiert und bekämpft seine Vorgänger (fr. 12. 67 Bergk, ebenso in der »Helena«). Bei ihm zuerst tritt der bisher latente Gegensatz zwischen dem ererbten Glauben und den fortgeschrittenen Anschauungen ins Bewußtsein. Die Unterschiede sind so groß und die Anstöße so augenfällig geworden, daß sie sich nicht mehr übersehen lassen. Damit entsteht der Rationalismus, die verstandesmäßige Kritik der Tradition, der Versuch, ihre Mängel durch rationelle Umdeutung zu erklären. Seinem Ursprunge nach ist er hier so wenig wie sonst irgendwo irreligiös, im Gegenteil, er erwächst aus einer Steigerung des religiösen Bedürfnisses: um den Glauben an Helena zu retten, wird die Helenasage verworfen. Zunächst sind es immer nur einzelne Erzählungen, an denen das erwachende Denken ethisch oder physisch Anstoß nimmt. So hat Stesichoros an Wunder und an die Intervention der Götter so gut geglaubt wie alle vor ihm; aber daß Artemis einen Menschen in ein Tier verwandelt hat, erscheint ihm unmöglich: sie hat dem Aktäon ein Hirschfell übergeworfen, und da haben ihn seine Hunde für einen Hirsch gehalten (Pausan. IX 2, 3, dargestellt auf einer Metope von Selinus). Von da bis zu einer systematischen Kritik und Bekämpfung der Tradition ist noch ein weiter Weg. Doch der entscheidende Schritt ist geschehen. Indem der Verstand die geheiligte Tradition kritisiert, erhebt er sich zum Richter über sie; nicht mehr die gemeinsame Überlieferung, sondern die individuelle Überzeugung ist fortan die Grundlage des religiösen Glaubens.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 669-672.
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