Neuordnung des Rechts. Die neuen Gesetzgebungen. Die Blutgerichtsbarkeit

[521] Das Streben nach bürgerlicher Gleichheit ist nirgends früher und stärker zum Ausdruck gekommen als auf dem Gebiete des Rechts. Die alte Rechtsordnung genügte nirgends mehr. Daß Beamte und Rat nach freiem Ermessen Recht sprechen und dafür Geschenke erhalten, führt zu den schwersten Mißständen: schon bei Hesiod hören wir die Klagen über parteiische Rechtspflege und Bestechung. Die ererbten Rechtssatzungen wirken in den neuen Verkehrsverhältnissen überall hemmend und drückend, die Bedürfnisse dieser finden in ihnen nirgends die entsprechende Rechtsform. Freilich bestand namentlich in den Staaten, wo die große Mehrheit der Bevölkerung vom Ackerbau lebt, durchaus keine Neigung, allen Anforderungen des Verkehrs zu genügen; im Gegenteil, man suchte die Übelstände der Geldwirtschaft durch oft recht naive und auf die Dauer niemals zum Ziel führende Palliativmaßregeln zu bekämpfen. Aber die Forderung nach freier Bewegung macht sich überall geltend; die alte Geschlossenheit der Blutsverbände und des Erbrechts hat sich überlebt, die Emanzipation des Individuums, die sich im sozialen Leben vollzieht, muß auch im Recht ihren Ausdruck finden. Vor allem aber braucht man ein festes, der Willkür des Einzelnen enthobenes Recht, und zugleich ein gleiches Recht für alle. Die bürgerliche Zucht soll durchgeführt, die Sonderstellung des Adels im Leben beseitigt werden773. So erhebt sich überall der Ruf nach Neuordnung und [521] schriftlicher Festsetzung des Rechts. In den meisten griechischen Staaten ist er im Laufe des 7. Jahrhunderts erfüllt worden, oft vermutlich erst nach heftigen Kämpfen. Regelmäßig wird die Aufgabe einem Einzelnen anvertraut, einem Bürger oder einem dazu berufenen fremden Vermittler, der nach bestem Ermessen mit absoluter Machtvollkommenheit die neue Rechtsordnung festsetzt774. In Lokri hat Zaleukos durch äußerst energische Bestimmungen eine Änderung seiner Gesetze fast unmöglich gemacht; in anderen Staaten, so z.B. Athen, hat sich derselbe Akt mehrfach wiederholt. Es ist begreiflich, daß in den oft starke Gegensätze umschließenden, aber materiell rasch entwickelten Kolonien das Bedürfnis besonders früh erwachte. Die Gesetze, die Zaleukos für die unteritalischen Lokrer, Charondas für Katana gegeben hat, gelten als die ältesten geschriebenen Rechtsordnungen Griechenlands und werden noch vor die Mitte des 7. Jahrhunderts gesetzt. Beide Rechte haben sich weit verbreitet; das des Charondas hat bei den Chalkidiern in Unteritalien und Sizilien, namentlich in Rhegion, Eingang gefunden, das lokrische Recht in Sybaris775. [522] In dieselbe, ja in noch frühere Zeit werden die Gesetze des Pheidon in Korinth und die des Korinthers Philolaos in Theben gesetzt. [523] Die Chalkidier in Thrakien beriefen den Androdamas von Rhegion als Gesetzgeber776. Um 624 wurde in Athen Drakon (u. S. 593), im J. 594 Solon, um dieselbe Zeit in Mytilene Pittakos (u. S. 588) mit der Abfassung von Gesetzen betraut. Ebenso haben alle andern griechischen Staaten, je nachdem sie von der fortschreitenden Kulturentwicklung ergriffen wurden, ihr Recht reformiert und aufgezeichnet, nur daß die Namen der Gesetzgeber später verschollen waren oder wenigstens uns nicht mehr bekannt sind – so erfahren wir zufällig, daß der Gesetzgeber von Keos Aristides hieß777. In manchen Staaten, z.B. Athen und Mytilene, ist die Festlegung des Rechts ein Ergebnis der später zu besprechenden politischen Kämpfe. Nur in Sparta hat man sich gegen diese wie gegen jede Neuerung prinzipiell verschlossen: »Keine geschriebenen Gesetze zu haben«, d.h. die Rechtssätze nicht aufzuzeichnen, gilt als Verordnung Lykurgs (Plut. Lyc. 13. Aristot. pol. II 6, 16), aber auch als Anomalie gegenüber allen anderen Griechenstädten. Auf Kreta dagegen ist die Gesetzgebung sehr früh und sehr intensiv betrieben worden. In Gortyn haben sich zahlreiche Bruchstücke von Aufzeichnungen der Rechtssätze erhalten, die [524] mindestens hoch ins 7. Jahrhundert hinaufreichen; ihren Abschluß finden sie in dem großen im J. 1884 aufgefundenen »Recht von Gortyn«778, das wohl der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts angehört. In den anderen kretischen Städten wird es nicht anders gewesen sein. Daher erklärt es sich, daß auf den Namen des kretischen Propheten Epimenides779 ein Gesetzbuch umlief, daß der Kreter Thales (u. S. 545, 1) als Lehrer der Gesetzgeber Lykurgos, Zaleukos, Onomakritos gilt (Aristot. pol. II 9, 5) und daß Ephoros die historisch allerdings grundverkehrte Behauptung aufstellen konnte, Zaleukos habe seine Gesetze dem kretischen, spartanischen und areopagitischen Recht entnommen780.

Alle diese Gesetzgebungen, sowenig wir auch die meisten von ihnen im einzelnen kennen, tragen den gleichen Charakter, der später auch in dem Gesetz der Zwölf Tafeln in Rom wiederkehrt. Vor allem wird das Strafmaß der Willkür des Richters entzogen und fest bestimmt. Auch die ersten Ansätze zu besserer Gestaltung des Prozeßverfahrens finden sich in Charondas' Bestimmungen über falsche Zeugen. Die Strafsätze trugen noch ganz den Charakter des Vergeltungsrechts, namentlich bei Zaleukos: der Ehebrecher wird geblendet, Körperverletzung durch Wiedervergeltung gesühnt. Analog werden überall die Bestimmungen über Diebstahl, Raub, gewalttätige Beleidigung (ὕβρις) u.a. gewesen sein. Wie Zaleukos' Gesetze sind auch die Drakons durch ihre harten Strafsätze sprichwörtlich geworden. Immer aber ist die Voraussetzung, daß der Geschädigte selbst die Klage erhebt. Nur wo die Götter oder die Interessen des Staats verletzt sind, z.B. durch Tempelraub, können die Beamten oder auch jeder beliebige als Kläger auftreten; sonst gilt der Grundsatz, daß, wo [525] kein Kläger ist, auch kein Richter sein kann. Daher gehört der Mordprozeß nicht hierher; er hat sich aus ganz anderen Ansätzen entwickelt. Eingehende Berücksichtigung fordern die durch den Verkehr neu geschaffenen Institutionen, so das Sklavenrecht – hier bedarf namentlich die unrechtmäßige Knechtung und der sehr häufige Raub Freier und fremder Sklaven (ἀνδραποδισμός) genauer Bestimmungen –, und vor allem das sich ausbildende Obligationenrecht (περὶ συμβολαίων). Hier nehmen die Gesetzgebungen verschiedene Stellung ein. In Lokri herrscht die ältere Auffassung vor, welche der Geldwirtschaft feindlich gegenübersteht. Zaleukos gab nur kurze Bestimmungen. Ein Kaufmannsstand sollte nicht aufkommen; daher wurde der Zwischenhandel verboten, der Bauer soll seine Produkte selbst verkaufen. Ebenso werden schriftliche Kontrakte (συγγραφαί) nicht anerkannt, sondern nur das vor Zeugen abgeschlossene Geschäft. Charondas dagegen hat, dem entwickelten Handel der chalkidischen Städte entsprechend, eingehende und sehr sorgfältige Bestimmungen gegeben. Nach Pittakos' Satzungen gewinnt ein Kaufgeschäft rechtliche Gültigkeit nur, wenn es vor den Königen und dem Prytanen abgeschlossen ist (Theophrast bei Stob. 44, 22). Wieweit das alte harte Schuldrecht von den älteren Gesetzgebungen gemildert ist, wissen wir nicht. Auch die Satzungen über Grundbesitz, Erbrecht, Erbtöchter, Adoption suchten, wie es scheint, die älteren soviel wie möglich zu halten, so z.B. Pheidon und Philolaos, wenn auch die neue Zeit überall Konzessionen und freiere Bewegung forderte. Bewußt gebrochen hat mit ihnen Solon, während die aristokratischen Staaten den Grundbesitz möglichst stabil zu erhalten suchten und daher eine freie Verfügung darüber gar nicht, so z.B. in Sparta, oder nur in sehr beschränktem Umfange zuließen (Aristot. pol. V 7, 12), ja Philolaos' νόμοι ϑετικοί in Theben für den Fall, daß kein Leibeserbe da war, die Adoption erzwungen zu haben scheinen (Aristot. II 9, 7). Gleichartig sind dagegen alle Gesetzgebungen in der Durchführung der bürgerlichen Zucht. Das Gepränge der adligen Begräbnisse, der Luxus der zahlreichen Klageweiber, die Ausstattung der Toten mit reichen Schätzen wird nicht nur von Zaleukos, Solon, Pittakos [526] (Cic. leg. II 66) und den Gesetzen von Keos beschränkt oder ganz verboten, sondern die Bestattungsgebräuche lehren, daß die gleichen Forderungen in der ganzen Griechenwelt durchgeführt sind. In Sparta darf nur dem, der vor dem Feinde gefallen ist, sein Name auf die Grabstele gesetzt werden. Ebenso wird überall gegen den Luxus eingeschritten, der Weingenuß beschränkt oder verboten (vgl. Pittakos, Aristot. pol. II 9, 9), scharfe Frauenzucht geübt und die Adelssitte verpönt, daß die vornehme Frau nur mit großem Gefolge ausgeht. Auch die Erwerbsverhältnisse der Bürger werden kontrolliert; wie Drakon und die Tyrannen Periander und Pisistratos sind gewiß auch andere Gesetzgebungen gegen den Müßiggang eingeschritten, der die Arbeit verschmäht und durch Bettelnden Bürgern zur Last liegt. Zaleukos' Gesetze bestrafen die Neugier und den schlechten Umgang, die athenischen Gesetze den Verschwender. Über die Verwaltung des Vermögens der Waisen und Witwen, über die Einführung einer Stiefmutter ins Haus (Zaleukos) u.ä. werden Gesetze erlassen, der schlechte Vormund zur Verantwortung gezogen. Deutlich sehen wir, wie immer mehr die Idee der festen Staatsordnung sich erhebt, die Sonderstellung des Adels beseitigt, regelnd und strafend in das Leben jedes Bürgers eingreift.

Mit der Neuordnung des Rechts ist eine Umwandlung der Gerichtsverfassung verbunden. Nach wie vor übt der Rat die Aufsicht über den Staat und kontrolliert und straft mit Geld, Gefängnis und Tod (so in Athen bis in späte Zeit, Aristot. pol. Ath. 3. 45), wo das Gemeinwohl es verlangt. Dagegen die Rechtsprechung des Adelsrats, die wir bei Homer und Hesiod und ebenso in Attika kennengelernt haben (o. S. 325f.), ist in der Folgezeit überall verschwunden. An ihre Stelle sind – von Ausnahmefällen, wie den Elfmännern in Athen, denen die Kriminalgerichtsbarkeit zusteht, abgesehen – Einzelrichter getreten, die obersten Magistrate des Staats für die ihrer Kompetenz unterliegenden Fälle, für die Masse der Zivilprozesse die mit diesen betrauten richterlichen Jahrbeamten (o. S. 326). Aber sehr früh werden neben oder auch an Stelle der Beamten Bürger zu Richtern berufen, sei es nach fester Reihenfolge, sei es durch Ernennung [527] seitens der Beamten. So hat Charondas alle Bürger durch Strafandrohungen – höhere bei den Reichen, geringe bei den Armen – zur Übernahme des auf sie fallenden Richteramts gezwungen (Arist. pol. IV 10, 6). In Athen und Sparta sprachen die Beamten Recht. Im Recht von Gortyn dagegen findet sich ein Beamtengericht überhaupt nicht, sondern nur der – erwählte oder ernannte? – Einzelrichter. Die Richter sind verpflichtet, nach den Bestimmungen der Gesetze Recht zu sprechen (δικάζειν); wo diese nicht ausreichen, entscheiden sie nach bestem Ermessen (ὀμνύντα κρίνειν in Gortyn, ψηφιοῦμαι κατὰ τοὺς νόμους καὶ τὰ ψηφίσματα ... περὶ ὧν δ᾽ ἂν νόμοι μὴ ὦσι, γνώμῃ τῇ δικαιοτάτῃ καὶ οὔτε χάριτος ἕνεκα οὔτ᾽ ἔχϑρας im späteren attischen Richtereid). Daß in diesen Fällen und ebenso da, wo es ein geschriebenes Recht überhaupt nicht gibt, das Herkommen für die Urteilsfindung maßgebend ist, ist natürlich; aber gesetzlich ist der Richter nicht daran gebunden, ein Gewohnheitsrecht kennt das griechische Recht nirgends. Auch die spartanischen Ephoren sprechen das Urteil nur nach eigenem Ermessen (αὐτογνώμονα κρίνειν Arist. pol. II 6, 16). In besonders wichtigen Fällen mag in manchen Staaten früh die Berufung an die Entscheidung der Volksversammlung aufgekommen sein. In Lokri ist sie gegen Gesetzesauslegungen, die dem Verurteilten ungerecht erscheinen, zulässig, aber der Appellierende verwirkt das Leben, wenn die Entscheidung gegen ihn ausfällt781. Ähnliches gilt wohl auch von anderen Staaten; zu voller Entwicklung aber ist die Volksgerichtsbarkeit überall erst durch die Demokratie gelangt.

Das alte Blutrecht ist zuerst durch das Fortschreiten der ethischen Anschauungen erschüttert worden782. Die Urzeit kennt den Begriff des Verbrechens nicht. Wer im Zorn oder aus Haß oder durch Zufall einen Menschen erschlagen hat, muß fliehen,[528] um sein Leben zu retten; aber die Empfindung, daß er eine Schuld auf sich geladen hat, liegt noch der homerischen Zeit völlig fern. Dann kommt zunächst der Gedanke auf, daß die Befleckung mit Blut unrein macht, daß der Mörder daher der Gottheit nicht nahen darf, bis er entsühnt ist. Im jüngeren Epos herrscht dieser Gedanke durchaus. Der flüchtige Mörder – so namentlich Herakles wieder und wieder, so in der »Äthiopis« Achill, als er den Thersites erschlagen hat, so Danaos und die Danaiden usw. – sucht in der Fremde nicht nur Schutz, sondern vor allem die Vollziehung der Sühnzeremonien, welche die verletzten Götter wie die Rachegeister des Erschlagenen versöhnen. Das eine kann nach göttlichem Recht sowenig versagt werden wie das andere. Auch die Götter bedürfen der Reinigung, wenn sie mit Blut befleckt sind, sei es selbst mit dem eines Unholds, wie des Drachen Python, den Apollo erschlägt: so werden die Sagen von der Dienstbarkeit des Apoll, des Herakles umgedeutet, die Knechtschaft wird zur Buße für das vergossene Blut. Die Sühne geschieht im Namen des Zeus »des Reinigers« (καϑάρσιος), der den ersten Mörder Ixion von der Blutschuld befreit hat; aber auch andere Götter, wie Apollo, Athene, Hermes, vollziehen die Reinigung. Namentlich im Kult Apollos, des reinen lichten Gottes, haben sich diese Anschauungen entwickelt, wahrscheinlich hat Delphi auf ihre Verbreitung großen Einfluß geübt.

Die Blutsühne ist zunächst ein äußerlicher Akt, so gut wie die Blutbuße, der Abkauf der Blutrache von den Verwandten des Ermordeten. Der Gedanke der sittlichen Verschuldung fehlt ursprünglich auch hier noch; durch Vollziehung bestimmter Opferbräuche wird dem Mörder die Fähigkeit zurückgegeben, aufs neue vor die Gottheit zu treten. Aber die Blutsühne führt weiter. Nicht nur der Tote und seine Blutsgenossen sind durch den Mord verletzt, sondern auch die Götter: sie verabscheuen das vergossene Blut und wenden sich von der Stätte der Tat ab, bis sie gesühnt ist. So befleckt die Tat des Mörders das ganze Gemeinwesen, in dem sie verübt wurde. Wenn bisher der Mord nur die Blutsverwandten und die Phratrie anging, so wird jetzt der Staat gezwungen, zu ihm Stellung zu nehmen. Er muß den Mörder ausstoßen oder strafen, [529] um dadurch seine Reinheit wiederzugewinnen; ungesühntes Blut schreit zum Himmel und führt den Zorn der Götter über das Land. Nicht minder wirksam ist das gesteigerte Bedürfnis nach Sicherheit. Die Zeiten, wo jeder bereit und in der Lage war, sich seiner Haut selbst zu wehren, sind vorüber. Wenn die Gesetze den Stadtfrieden erzwingen und das Tragen von Waffen in der Volksversammlung oder überhaupt in der Stadt, z.B. in Lokri und Sparta, unter schwere Strafe stellen, so sind sie auch genötigt, in die Blutrache, die nur zu leicht in permanente Blutfehde ausarten kann, regelnd einzugreifen. Man kann sie nicht mehr frei gewähren lassen; der Staat muß feststellen, ob der des Mordes Beschuldigte die Tat auch wirklich begangen hat und dem Bluträcher überantwortet wer den darf. Es ist sehr bezeichnend, daß diese Entscheidung nicht von den Gerichtsbeamten, sondern vom Staatsrat – in Sparta den Geronten, in Athen dem Rat der abgetretenen Beamten (o. S. 324) – oder von einer besonders dazu ernannten Behörde – so in Athen den Epheten, in Rom den »quaestores paricidii« (o. S. 473) – gefällt wird. So beginnt die neue Rechtsordnung, sich auch das Blutrecht zu unterwerfen und wie das Eigentum, so auch das Leben jedes Bürgers unter ihren Schutz zu stellen. Die Folge ist, daß man – in der gleichen Zeit, wo bei den Hebräern das Deuteronomium denselben Unterschied zuerst gesetzlich fixiert – zwischen den verschiedenen Arten des Mordes zu unterscheiden anfängt, was der früheren Zeit völlig fernlag. Genauer bekannt sind uns nur die Bestimmungen Drakons; doch bestätigen einzelne Zeugnisse in Sage und Geschichte, daß auch in den anderen Staaten gleiche Grundsätze galten. Nur in Sparta scheint man bei den alten Anschauungen beharrt zu haben; auch den unfreiwilligen Mörder trifft hier lebenslängliche Verbannung wie in der Urzeit (Xen. Anab. IV 8, 25). In Athen wird nur der vorsätzliche Mörder, wenn er verurteilt ist, dem Bluträcher überantwortet; ist er vor dem Urteil geflohen, so darf er das Land nie wieder betreten. Wer dagegen aus gerechtem Anlaß einen Menschen erschlagen hat, z.B. den auf frischer Tat ertappten Dieb oder Ehebrecher oder den Gegner in der Notwehr oder im Bürgerkrieg, geht frei aus, ebenso wer von [530] jeglicher Verschuldung frei ist, z.B. wenn beim Wettspiel oder bei der Waffenübung durch ihn, ohne daß er eine Fahrlässigkeit beging, jemand den Tod fand. Die Anerkennung, daß in diesem Falle der Mörder entsühnt und freigesprochen werden muß, scheint überall von Delphi ausgegangen zu sein und knüpft an das Vorbild Apollos an (daher der Gerichtshof beim Delphinion in Athen, vgl. Plato leg. IX 865 b). Dem unfreiwilligen oder fahrlässigen Mörder endlich wird gestattet, das Land auf eine Reihe von Jahren zu verlassen (ἀπενιαυτισμός) und sich dadurch der Blutrache zu entziehen. Nur in diesem Falle wird, wenn alle Verwandten bereit sind sie anzunehmen, von Drakon auch die Versöhnung (αἴδεσις), d.i. ursprünglich die Annahme der Blutbuße, gestattet, beim vorsätzlichen Mord dagegen wird sie jetzt nicht mehr zugelassen.

So stark das griechische Recht in die Blutrache eingreift, so weit ist es von dem konsequenten Vorgehen der Römer entfernt, welches, indem es jeden Mord für »paricidium« erklärte, die Blutrache aufhob (o. S. 472f.). Sie wird nur unter die Gebote geordnet, welche die neue Rechtsanschauung aufstellt. Nach wie vor ist die Verfolgung des Mörders ausschließlich Sache der Blutsverwandten, sie allein können die Klage erheben, freveln aber auch gegen das göttliche Recht, wenn sie es unterlassen. Für die Gebundenheit der griechischen Rechtsanschauungen ist es charakteristisch, daß noch Solon, zum großen Erstaunen der Späteren, auf den Vatermord keine Strafe gesetzt hat. Den Vatermörder verfolgen die Erinnyen; auch in der Unterwelt, wo sonst die Verstorbenen in die gleiche wesenlose Existenz eingehen, harrt seiner wie des Frevlers an den Göttern, an der Heiligkeit des Eides und des Gastrechts, ewige Strafe (Äschyl. Eumen. 269. Aristoph. ran. 146. 274. Plato rep. II 363 d. Polygnot bei Pausan. X 26, 5) – aber die irdische Gerechtigkeit hat kein Mittel, gegen ihn einzuschreiten. Auch zeigt das attische Blutrecht – wie das entwickeltste, so das einzige, das wir genauer kennen –, daß seine Ordnungen allmählich und großenteils spontan aus den ethischen und religiösen Forderungen und dem Bedürfnis nach Frieden und Sicherheit erwachsen sind, ehe Drakon sie durchbildete und in [531] Gesetzesform kleidete783. Dadurch daß der Mörder an eine heilige Stätte flieht, die ihm Schutz verleiht, wird die Intervention des Staats unumgänglich gemacht784. Ist ein Mord geschehen, so kündet der Bluträcher dem Mörder die Verfolgung an und gebietet ihm, Markt und Tempel zu meiden (πρόρρησις). Ist der Mörder geständig und hat er keine Entschuldigung seiner Tat, so flieht er außer Landes – ein gerichtliches Verfahren findet dann nicht statt. Leugnet er die Tat, so bleibt freilich in der Stadt für ihn kein Raum, bis er die Beschuldigung von sich abgewiesen hat. Aber er flüchtet auf den Hügel vor den Toren der Burg, wo Ares der Kriegsgott und in tiefer Schlucht die furchtbaren »Ehrwürdigen« Göttinnen hausen – die Sage identifiziert, sie eben um des Blutgerichts willen mit den Erinnyen, den Töchtern der Nacht –, zum »Stein des Frevels« (λίϑος ὕβρεως); ihm gegenüber auf dem »Stein der Unversöhntheit« (λίϑος ἀναιδείας) nimmt der die Sühne weigernde Bluträcher Platz785. Beide beschwören die Wahrheit ihrer Behauptung und verfluchen sich und ihr Geschlecht, wenn dem anders sei, und nun fällt der Beamtenrat (Rat vom Areopag) unter dem Vorsitz des Königs das Urteil, das den Schuldigen der [532] Rache überliefert786. Auch über Giftmord und Brandstiftung entscheidet der Areopag787. Anders liegen die Dinge, wenn der Beschuldigte die Tat zugibt, aber behauptet, im Recht zu sein (φόνος δίκαιος)788, oder auch sie ohne Absicht zu morden verübt zu haben (φόνος ἀκούσιος) – ein Fall, der in naturwüchsigen Verhältnissen weit häufiger ist als der vorsätzliche Mord; dann darf der Mörder durch zeitweilige Verbannung seine Tat büßen oder auch Buße zahlen. In jenem Falle sucht er beim Heiligtum des Apollo Delphinios Schutz, in diesem bei einem Athenabilde vor der Stadt, dem Palladion – die spätere Sage läßt es aus Troja geraubt sein. Für beide Fälle ist, offenbar um der Schwierigkeit der Entscheidung willen, ein besonderer Gerichtshof von 51 aus den besten Männern ernannten Richtern (ἐφέται), unter Vorsitz des Königs und der Phylenkönige, geschaffen789. Ihrer Kompetenz unterstehen auch die milderen Fälle, der Mord eines Fremden, Metöken oder Sklaven, ebenso die Tötung durch Anstiftung anderer oder sonst auf indirektem Wege (βούλευσις), endlich der Fall, daß ein flüchtiger Mörder aufs neue verklagt wird. Dann darf dieser den Boden des Vaterlands nicht betreten, sondern verteidigt sich vom Meere aus auf einem Nachen bei der [533] Quelle Phreatto im Piräus. Endlich bleibt der Fall, daß ein Mord begangen ist, aber der Mörder unbekannt (oder auch ein Tier oder ein lebloser Gegenstand) ist. Dann wird dem Staatsrat der Prytanen (o. S. 324f.) Anzeige gemacht, und dieser reinigt das Land von dem Frevel. Er spricht den Fluch über den verborgenen Verbrecher und schafft die Mordwaffe, das stößige Rind oder was sonst die Ursache war, über die Grenze.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 521-534.
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