Die Verteilung der griechischen Stämme.

Ältere Schichtungen. Epiros und Makedonien

[269] Von der Ausbreitung und Verteilung der griechischen Stämme über das von ihnen besetzte Gebiet werden wir immer nur ein sehr unvollkommenes Bild gewinnen können. Scharf muß auch an dieser Stelle betont werden, daß sich bei ihnen nicht die mindeste Erinnerung daran bewahrt hat, daß ihre Vorfahren einmal aus weiter Ferne eingewandert sind (vgl. Bd. I, 527); sie betrachten sich durchweg als Autochthonen. Wohl aber wissen sie mancherlei von Umwälzungen und Wanderungen auf diesem Boden zu erzählen, Richtiges und Falsches; dabei haben namentlich die in nachhomerischer Zeit in der genealogischen Dichtung einsetzenden und von den ältesten Historikern immer weiter ausgesponnenen Konstruktionen über ein angebliches Urvolk der Pelasger verhängnisvoll gewirkt.

Als gesichert kann gelten, daß die Sitze der griechischen Stämme im 2. Jahrtausend beträchtlich weiter nach Norden reichten, als in späterer Zeit; hier hat die Völkerwanderung um 1200 eine wesentliche Verschiebung herbeigeführt. Die nordwestgriechischen (dorischen) Stämme, die damals in Thessalien und Mittelgriechenland einbrachen, müssen vorher weit nach Illyrien und Makedonien hinein gesessen haben. In Epiros finden sich zahlreiche griechische Ortsnamen. Die uralte Kultstätte von Dodona, mit dem Orakel des in den Wassern des fruchtbaren Tales hausenden Zeus Naios, ist immer griechisch geblieben. Aus der Patroklie, die ihm den Beinamen des Pelasgischen gibt, erfahren wir, daß die Propheten, denen die Offenbarungen zuteil wurden, wenn sie mit ungewaschenen Füßen auf dem Erdboden schliefen – also eins der vor allem in Boeotien weitverbreiteten Traumorakel –, [269] den Namen Ἑλλοί trugen522. Später ist der Kultus völlig geändert: Zeus, dem seine Gemahlin Diona zur Seite steht, erteilt das Orakel, das von drei Priesterinnen verwaltet wird, durch das Rauschen des heiligen Eichbaums. Mit den Hellen verbindet sich der von Hesiod523 überlieferte Name Hellopia für die Landschaft von Dodona, der in Nordeuboea wiederkehrt und weiter mit der Landschaft Hellas und dem Hellenenstamm in Südthessalien zusammenhängt. Da ist, in Konkurrenz mit dem gleichfalls weit verbreiteten Suffix –αν (-ην), an den Stamm ein Suffix –οπ getreten, mit dem in alter Zeit zahlreiche, später meist halbverschollene Stammnamen gebildet sind. So im oberen Makedonien die Ἄλμωπες und Δευρίοπες524, in Epiros die Κασσώπιοι oder Κασσωπαῖοι, im Pindos die Δόλοπες, die dann auch die Insel Skyros besetzt haben, Mitglieder der pylaeischen Amphiktionie und von Herodot VII 132 zu den Griechen gerechnet. Dann die Δρύοπες am Oeta, im Süden Euboeas (bei Karystos) und auf der argivischen Akte in Hermione und Asine, also ein Stamm, der vom Malischen Meerbusen aus die See befuhr und sich an mehreren Küstenplätzen festgesetzt hat. Weiter gehört der Name Pelops hierher (o. S. 250), und in Attika der Urkönig Kekrops und der angeblich älteste Landesname Mopsopia (s.o. S. 267, 1). Die Bildung liegt auch in dem in der homerischen Dichtersprache noch in stereotypen Formeln erhaltenen Wort μέροπες »Menschen« (die »Sterblichen«525) vor, ein Beweis, [270] daß sie, mag sie auch aus einer fremden Sprache übernommen sein, doch auch von den Griechen selbst verwendet worden ist. Doch bleibt natürlich die Möglichkeit, daß wir es hier – und ebenso bei den Pelasgern Thessaliens – mit Resten der vorgriechischen Bevölkerung zu tun haben, die sich dann mehr oder weniger hellenisiert haben.

In der Folgezeit sind nun aber die Griechen bis auf geringe Reste, so in Dodona526, aus Epiros verdrängt worden. Es empfiehlt sich, gleich an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß, entgegen gegenwärtig weit verbreiteten Ansichten527, nach allen Zeugnissen, die uns vorliegen, die Stämme, die wir in geschichtlicher Zeit hier antreffen, nicht griechisch, sondern eine »barbarische« Sprache gesprochen haben, also wahrscheinlich zu den Illyriern gehört haben. Allmählich ist dann auch bei ihnen von der Küste her das Griechische eingedrungen, und im Molosserreich ist im 4. Jahrhundert, wie bei den Aetolern, der delphische (»norddorische«) Dialekt – also nicht etwa eine einheimische Sprachform – die offizielle Sprache geworden528. Auch in die aetolischen Berge [271] sind derartige nichtgriechische Stämme eingedrungen, die sich dann mit den griechischen Aetolern etwa in derselben Weise zu einer Konföderation zusammenschlossen, wie die verschiedenen Nationalitäten des Schweizer Bundesstaats; aber noch im Jahre 197 bezeichnet König Philipp V. die Agraeer, Apodoten und Amphilocher (die damals mit zum Bunde gehörten) als nicht zu Hellas gehörend529.

Eine Spur eines früheren derartigen Vorstoßes scheint darin vorzuliegen, daß der Name der Athamanen, eines im Pindos sitzenden epirotischen Volksstammes, in dem Namen zweier Ebenen, des athamantischen Gefildes bei Halos am Pagasaeischen Meerbusen, und des gleichnamigen in Boeotien am Kopaissee, wiederkehrt. Dadurch ist ihr Eponyme Athamas [272] in die griechischen Genealogien verflochten und hat hier eine große Rolle erhalten.

Etwas anders liegt es mit den Makedonen. Die viel verhandelte und in die politischen Kämpfe der Gegenwart hineingezogene Frage nach ihrer Nationalität scheint sich dahin zu entscheiden, daß die Makedonen einen griechischen Dialekt gesprochen haben, der sich zwar durch manche Lautveränderungen, so vor allem durch die Wandlung der Aspiraten in Medien530, von den andern unterschied, aber im allgemeinen dem Dorischen nahestand531. Das makedonische Reich aber ist erst etwa im 8. oder 7. Jahrhundert – die homerische Poesie kennt die Makedonen noch nicht, wohl aber die Landschaften Pierien am Fuß des Olymp und weiter östlich Emathien532 – durch Eroberung unter Führung einer Dynastie entstanden, die, wie es scheint von der emathischen Ebene mit der Hauptstadt Aigai oder Edessa am Fuß des Gebirges ausgehend, die Landschaften von Pierien bis zum Strymon unterwarf[273] und die Dynasten des Hinterlandes, des »oberen Makedoniens«, von sich abhängig machte533. Dadurch sind nicht wenige thrakische und illyrische Elemente in ihre Sprache gekommen; aber nicht nur zahlreiche uns erhaltene makedonische Glossen haben ein durchaus griechisches Gepräge, sondern in Eigennamen wie Πτολεμαῖος und in der Bezeichnung des Reiteradels als ἑταῖροι, als Gefolgschaft des Königs, haben sie die altgriechischen Formen erhalten, die später in Griechenland selbst geschwunden sind. Wenn sie daher auch, mit Ausnahme des Königsgeschlechts, als ein hellenisches Nationalgefühl entstand und der Hellenenname aufkam, unter diesen nicht inbegriffen, sondern als Ausländer (βάρβαροι) betrachtet wurden534, so kann doch kein Zweifel sein, daß die Makedonen oder wenigstens dasjenige Volkselement, auf dem ihre geschichtliche Bedeutung beruht, ein Zweig des griechischen Volkstums gewesen sind535.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 269-274.
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