Die Götterwelt. Athena

[274] An Kämpfen und Wanderungen wird es in der ältesten Zeit so wenig gefehlt haben wie später. So wird es sich [274] erklären, daß zahlreiche Orts- und Flußnamen ohne erkennbare appellative Bedeutung, meist wohl schon der vorgriechischen Bevölkerung angehörend, an den verschiedensten Stellen des Landes wiederkehren536. Einzelne weitere Aufschlüsse werden sich aus der Geschichte der einzelnen Kulte und dem Auftauchen derselben Götter und Mythen an weit voneinander getrennten Stellen537 wohl noch gewinnen lassen, wie sich in Ägypten auf diesem Wege wenigstens teilweise ein Einblick in die älteste Verteilung der Bevölkerung erreichen läßt (Bd. I, 178ff.); wesentlich erschwert wird das allerdings in Griechenland dadurch, daß unsere Kunde hier erst relativ sehr spät einsetzt, wo sich schon zahlreiche neue Beziehungen gebildet haben, und daß sie stark getrübt ist einerseits durch die Ausbildung einer poetisch ausgestalteten Götterwelt im Epos, die überall neben den lokalen Kulten zu universeller Geltung gelangt, andrerseits durch die systematisierende Zusammenfassung und Umgestaltung der mythischen Traditionen in den genealogischen Epen und bei den dies Material immer wieder aufs neue verarbeitenden Historikern. Oft genug gewähren daher die Nachrichten, die wir aus späterer Zeit [275] über die lokalen Kulte und Bräuche erhalten, einen weit wertvolleren Anhalt als diese Erzählungen, die den trügerischen Schein höchsten Altertums erwecken.

Es kommt hinzu, daß nicht nur die kretische Kultur, als sie den Anstoß zu einer höheren Entwicklung auf griechischem Boden gab, auch die Religion aufs stärkste beeinflußt hat, sondern daß weiter durch die ständig fortschreitende Berührung mit den Völkern der Inselwelt und Kleinasiens immer wieder neue Kulte und Erzählungen übernommen wurden. So ist die bunte Mannigfaltigkeit der griechischen Götterwelt und der griechischen Mythologie entstanden.

Vielfach sind offenbar die Kultstätten der vorgriechischen Bevölkerung und die an ihnen hausenden Mächte nebst den Formen des Kultus bei der Einwanderung von den Griechen übernommen und fortgeführt worden. Damit mag auch der in Griechenland weitverbreitete Tierdienst zusammenhängen, der, soweit wir sehn können, sowohl der indogermanischen wie der kretischen Religion ganz fremd ist; in der altgriechischen Religion dagegen offenbart sich jede Gottheit zugleich in der Gestalt des ihr Wesen verkörpernden Tieres. Überhaupt aber wandelt sich durch die Seßhaftigkeit, durch das Verwachsen mit dem Boden der Charakter der einfachen religiösen Vorstellungen, die sie aus der Vorzeit mitgebracht haben, umso stärker, je mehr der Charakter der Wohnsitze zu immer weitergehender Zersplitterung in kleine Ländergruppen führt. So ist auch Zeus, neben der Erdgöttin einer der wenigen Götter, die bereits der indogermanischen Zeit angehören, ein wesentlich anderer geworden. Zwar bleibt er der Himmelsgott, der den Blitz schleudert, und der »Vater der Götter und Menschen« und wird von jeder Familie als Ahne (πατρώιος) verehrt – nur bei den Ioniern ist darin Apollon an seine Stelle getreten –; im Kult dagegen ist er überall eine lokale Gottheit geworden, die auf allen Berghöhen thront, aber auch in der Tiefe (so in Dodona) ihren Sitz hat und die Hürde des Hofes beschirmt (o. S. 243). Daher wird er beim Opfer nicht als universale Gottheit, sondern immer nur [276] als dieser mit der Einzelgemeinde verbundene Sondergott angerufen; der Beiname, den er als solcher führt und der ihn von allen anderen gleichartigen Zeusgestalten scheidet, ist dafür ganz unentbehrlich.

Das gleiche gilt von allen Gottheiten des Kultus. Auf manche von ihnen, so auf Herakles und Apollon, werden wir später zurückkommen. Dagegen muß an dieser Stelle noch eine Gottheit besprochen werden, durch die auf die älteren geschichtlichen Verhältnisse ein helles Licht fällt, die Burggöttin Athena.

Wir haben die bildliche Darstellung der Kriegsgöttin in Mykene kennen gelernt (o. S. 241f.), ein riesiger Schild mit angefügten menschlichen Gliedmaßen, in der Hand die Lanze schwingend. Es ist das Palladion, das wir überall in den Städten als Schirmer der Burg antreffen538; die Göttin selbst heißt Pallas »die Lanzeschwingerin«. Aber im Epos heißt sie Παλλὰς Ἀϑηναίη, also nach einer Stadt Athen; und nicht nur in der berühmtesten Stadt dieses Namens, sondern in der ganzen griechischen Welt, in der sie überall eine der höchsten Gottheiten ist, lautet ihr Eigenname immer nur einfach Ἀϑηναία »die von Athen«; sie heißt also nach der Stadt, nicht diese nach einer Göttin539. Es gibt nun zwei Städte dieses [277] Namens540, die Hauptstadt Attikas und die alte, früh im Kopaissee verschwundene Stadt in Boeotien (o. S. 260 Anm.). Aber der Kult hat sich hier erhalten in den beiden nahe beieinander gelegenen Orten Alalkomenai und Itonos; zwischen ihnen fließt der Bach Triton, an dem die Göttin geboren ist541. Andrerseits gilt der Kult der Athena in Athen selbst als sekundär: nach der ganz feststehenden athenischen Tradition hat zuerst Poseidon die Burg in Besitz genommen, dann ist Athena gefolgt, und die Götter haben zu ihren Gunsten entschieden. In Wirklichkeit hausen immer beide auf der Burg, und zwar so, daß der Vorrang Poseidons unverkennbar ist. Poseidon »der Erderschütterer« ist ein Erdgott, der seine Macht vor allem im Erdbeben manifestiert542. Auf der Burg führt er den Beinamen Erechtheus, aus dem sich dann im Mythos ein von der Erde geborener Urkönig abzweigt; und in dessen Hause, das das von Poseidon mit dem Dreizack in den Fels gestoßene Mal und eine Salzquelle umschließt, die [278] er hatte hervorsprudeln lassen, hat Athena neben ihm ihren Kultsitz erhalten543. Das zeigt deutlich, daß die Göttin, die die Burg beschirmt (Athena Πολιάς) und in den Eulen, die hier im Gemäuer hausen, dem menschlichen Auge sichtbar wird (daher γλαυκῶπις »mit Eulenantlitz«), zu dem Herrn des Felsens erst hinzugetreten ist, als auf diesem in mykenischer Zeit die Königsburg erbaut wurde.

Somit wird, wie die Geburtssagen bestätigen, das boeotische Athen der Ausgangspunkt des Namens und der Kultformen gewesen sein; von hier aus ist dann der Name der Stadt und ihrer Göttin nach dem attischen Athen übertragen. Ganz anschaulich tritt uns darin – und ebenso im Herakleskult – ein großer Zusammenhang entgegen, der Boeotien und Attika umschließt und auch nach Thessalien hinübergreift, und zugleich die dominierende Stellung, die das Reich von Orchomenos – denn nur zu diesem kann das boeotische Athen gehört haben – eingenommen hat. Nur auf dieser Machtstellung kann es beruhen, daß der Name »Göttin von Athen« sich über die ganze griechische Welt verbreitet hat und der allgemeine Name der Burggöttin geworden ist, nicht selten mit Verdrängung eines älteren Namens544.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 274-279.
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