Merneptaḥ. Der Angriff der Libyer und der Seevölker

[576] Ramses II. erscheint in seinen Denkmälern als der kriegerische König, der heldenhaft einen Sieg nach dem andern erficht; aber der bei weitem größere Schlußteil seiner 67 jährigen Regierung, mehr als zwei Drittel, ist in ungestörtem Frieden verlaufen. Als er starb (um 1232), lagen nicht nur seine Kämpfe, sondern auch seine riesigen Bauten weit hinter ihm. Wie so mancher Herrscher, dem eine lange Regierung beschieden war, hat er nicht nur seine eigene, sondern auch die nächste Generation überlebt. Alle die Söhne, die als Knaben mit ihm in den Chetiterkrieg gezogen waren, sind vor ihm gestorben, ebenso Cha'emuês, der in seinen mittleren Jahren besonders hervortritt, als Hoherpriester von Memphis seinen Vater bei der Feier religiöser Feste vertritt und in der späteren Tradition als großer Zauberer und Verfasser magischer Texte fortlebt. Sein Nachfolger wurde der gleichfalls schon bejahrte Merneptaḥ, der dreizehnte in der Reihe seiner zahllosen, von den verschiedensten Frauen sei nes Harems geborenen Söhne1115.

[576] In seinen ersten Jahren hat Merneptaḥ sich der Ordnung der asiatischen Verhältnisse zugewandt; wie es scheint, hat der Thronwechsel hier, wie so oft, den Anlaß zu lokalen Aufständen gegeben. Einem großen Hymnus auf den König, der seinen Sieg über die Libyer verherrlicht1116, ist eine allgemeine Schilderung der Machtstellung Ägyptens angehängt: »Die Fürsten liegen ausgestreckt und sagen šalôm« – die asiatischen Vasallen, die um Frieden und Verschonung bitten, wie so oft dargestellt wird –, »kein einziger erhebt seinen Kopf unter den neun Bogenvölkern« – der uralte Ausdruck für die Ausländer – »Libyen (Zeḥenu) ward zerstört; das Chetiterland ist friedlich1117; Kana'an mit all seinem Bösen ist gefangen; Askalon ward fortgeführt; Gazer ward gepackt; Jenu'am ist zu nichte gemacht; der Stamm Israel ist verwüstet und hat keinen Samen (Nachkommen); Chor ist für Ägypten eine Witwe (chart, ein Wortspiel mit dem Namen). Alle Länder insgesamt sind in Frieden, wer immer umherschweift, ist gebändigt durch König Merneptaḥ.«

Im Zusammenhang mit den Kämpfen, auf die hier angespielt wird, wird auch »der Brunnen Merneptaḥs im Hochland«, [577] nordwestlich von Jerusalem, angelegt sein, bei dem nach einer Notiz aus seinem 3. Jahr eine Besatzung stationiert war; er hat seinen Namen noch in israelitischer Zeit bewahrt1118.

Eine Folge der Unruhen in Asien war, daß Merneptaḥ Maßregeln ergriff, um die Ostgrenze Ägyptens und das unbebaut daliegende Vorland im Gebiete von Per-bairis (Bilbeis) und Heliopolis gegen das Eindringen der Nomaden aus der Wüste weiter zu sichern1119. Da wurde, im Frühling seines 5. Jahres (1227), diese Tätigkeit jäh unterbrochen durch den Angriff der Libyer und ihrer Genossen auf die Westgrenze1120. Ihr Fürst Maraju, Sohn des Did, hat ihn sorgfältig vorbereitet, vor allem durch die Koalition mit den Seevölkern. Das stärkste Kontingent haben, wie schon erwähnt, die Aqaiwaša gestellt, schwächere die Turša, Šakalša und Šerdana, während die Luka nur mit geringer Zahl beteiligt waren. Von den Libyern selbst wurde die gesamte wehrfähige Mannschaft aufgeboten; dazu kamen die Scharen der Mašauaša und des kleinen, auch sonst gelegentlich erwähnten Volksstammes der Kahak. Von den Dimensionen des Heeres gibt einen Begriff, daß Merneptaḥ als Zahl der in der Schlacht erschlagenen Libyer 6111 (var. 6200) Mann, der Seevölker 2370 Mann, als Gesamtzahl der Gefangenen 9376 Männer und Frauen1121 angibt. Danach wird das Gesamtheer etwa [578] 30000 Mann stark gewesen sein, ein Beweis, daß es sich nicht um einen Raubzug, wie früher, sondern um einen großen Eroberungskrieg handelt. Wie die Pharaonen hat auch Maraju seinen Harem (zwölf Frauen), seine Söhne und Brüder mitgenommen, in vollem Vertrauen auf den Sieg. Merneptaḥ war noch im Osten des Delta beschäftigt, als er die Kunde vom Vorrücken Marajus ins Gebiet von Per'ari im Westen des Delta, wohl auf der Straße nach Memphis, erhielt. Er hat es an Energie nicht fehlen lassen; in vierzehn Tagen war sein Heer marschfähig, am 24. April 1227 unternahm er, gestärkt durch einen Traum, in dem ihm der Gott Ptaḥ sein Schwert überreichte, den Angriff auf die feindliche Stellung. Der Sieg war hart umstritten, die Schlacht dauerte sechs Stunden; aber sie endete mit dem vollen Siege der Ägypter. Gegen 10000 Leichen deckten das Schlachtfeld, etwa ebensoviel wurden gefangen, darunter der Harem Marajus. Er selbst entkam in eiliger Flucht, aber seine Kinder und Brüder fanden den Tod. Mit reicher Beute konnte Merneptaḥ triumphierend heimkehren; er hatte Ägypten vor einem Schicksal bewahrt, wie es vor einem halben Jahrtausend die Hyksos über das Land gebracht hatten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 576-579.
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