Das Idealbild des ägyptischen Königtums

[42] Im Anschluß an einen Abriß der Geschichte Ägyptens, der im wesentlichen eine Überarbeitung der Erzählungen Herodots in modernem Geschmacke darstellt, gibt Diodor eine Schilderung der den Griechen so fremdartig und zugleich, trotz ihrer seltsamen Religion, so verständig und wirkungsvoll durchgeführt erscheinenden Institutionen des alten Kulturvolks,67 und unter ihnen zunächst eine Schilderung der Stellung des Königtums. Im Gegensatz zu allen anderen Monarchien ist in Ägypten Lebensführung und Verhalten des Königs für alle Stunden des Tages und der Nacht durch unverbrüchliche Gesetze streng geregelt; sie stehn ununterbrochen unter der Kontrolle der Priester, der Träger der geheiligten Überlieferung, aus der auch [42] ihre Dienerschaft entnommen ist; nicht nur jede Willkür, sondern im Grunde jede selbständige Betätigung ihres Willens ist ihnen untersagt. Dem entspricht das Totengericht, das nach ihrem Ableben über sie abgehalten wird und von dessen Ausfall es abhängt, ob ihnen die normale Bestattung zugebilligt werden kann. Die alten Könige haben durch gewissenhafte Befolgung dieser Satzungen lange Zeiträume hindurch sich eine glückliche, vom Wohlwollen aller Untertanen getragene Regierung geschaffen, ihre Macht über das Ausland ausgedehnt und die Mittel gewonnen, die ihnen ihre gewaltigen Bauten und Weihgeschenke ermöglicht haben; mit der Abweichung von den alten Gesetzen ist auch der Niedergang eingetreten.

Diodor folgt in dieser Darstellung, wie durchweg in diesem Abschnitt seines großen Sammelwerks, dem Werk, das zur Zeit des ersten Ptolemaeos Hekataeos von Abdera über Ägypten geschrieben hat. Vielfach hat man gemeint, Hekataeos habe damit eine Utopie geschaffen; er habe, ausgehend von den politischen Theorien der Griechen, das Bild eines monarchischen Idealstaats entworfen, als dessen Verwirklichung er das alte Ägypten darstelle.68 In dieser Weise hat allerdings Xenophon in seiner Geschichte des Kyros eine politisch-militärische Utopie geschaffen, die in den Wirren der griechischen Welt seinen Landsleuten ein Idealbild vorführen sollte. Aber in der Darstellung des Hekataeos weist nichts darauf hin; vielmehr verkennt diese Auffassung vollständig, daß die dieser Schilderung zugrunde liegenden Anschauungen echt ägyptisch sind. Sie gibt, ebenso wie der damit eng verbundene Abschnitt über die ständische Gliederung, über Recht und Sitten, allerdings ein Idealbild, aber ein von den ägyptischen Priestern selbst, nicht etwa von einem griechischen Philosophen aufgestelltes. Von den ältesten Zeiten bis zum Untergang des Ägyptertums ist der Pharao in seinem [43] Auftreten auf Schritt und Tritt gebunden durch das Ritual und die Zeremonien, die er immer wieder vollziehen muß; dabei ist die Leitung durch die Priester ganz unentbehrlich.69 Im Neuen Reich tritt dann die religiöse Idee immer mächtiger hervor und hat das Königtum sich untergeordnet. Der Versuch, es durch den Hohenpriester zu ersetzen, war allerdings sofort gescheitert; aber die Idee der Theokratie blieb bestehn. Ihr entspricht die Staatsgestaltung, die Hekataeos schildert.70 Sie ist denn auch, ein Jahrhundert vor diesem, bereits dem Plato bekannt: er weiß, daß »in Ägypten ein König ohne Priestertum nicht herrschen darf und daß, wenn es jemand aus einem anderen Geschlecht durch Gewalt geglückt ist, er nachträglich in dieses Geschlecht durch Weihung eingeführt werden muß«71 – bei den raschen Thronwechseln in seiner Zeit, unter den sich gegen die Perser erhebenden Dynastien, wird das mehrfach vorgekommen sein.

So wird dies Idealbild in seinen Grundlagen bis in die spätere Ramessidenzeit zurückreichen und in der Folgezeit voll ausgebildet worden sein. Wie weit die Könige der zweiundzwanzigsten Dynastie danach gelebt haben, wissen wir natürlich nicht; aber die reichen Gaben, die Osorkon I. den Göttern darbringt, die peinliche Sorgfalt, mit der Osorkon II. – nach den altherkömmlichen Formen – in Bubastis das Seṭfest feiert und in der von ihm erbauten Festhalle darstellt, unter Festhalten des Vorrangs Amons, sprechen durchaus dafür, und noch mehr die Ohnmacht, zu der sie immer mehr herabsinken. Die Rekonstruktion [44] des Staatsbaus, die Psammetich und seine Nachfolger durchführen, setzen es durchweg voraus, trotz der Bewegungsfreiheit in Politik und Heerwesen, die sie sich sichern. Voll durchgeführt aber ist es in dem äthiopischen Reich von Napata, das den von der thebanischen Amonsreligion geschaffenen Gottesstaat hier, auf dem Kolonialboden, voll verwirklicht, unter dem Regiment des Pharao, den der Gott selbst – wie ehemals schon in der offiziellen Darstellung der Erhebung des Thutmosis III. und der Hatšepsut auf den Thron – aus der Zahl der Anwärter ausgesucht hat.72

So haben die Ideen der thebanischen Theokratie sich das Königtum in der Idee völlig unterworfen. Im Delta, das mit der übrigen Welt ununterbrochen in Berührung stand und den Verkehr mit ihr nicht entbehren konnte, war das allerdings tatsächlich nur in beschränktem Umfang möglich. Die Folge ist gewesen, daß die Thebais mehr und mehr, als eine gänzlich von der Religion beherrschte Welt für sich, aus dem übrigen Ägypten ausscheidet. Aber auch in diesem bleibt als Vertreter der im Volk herrschenden Anschauungen lediglich die Priesterschaft. Auch Psammetich und seine Nachfolger haben sie nicht antasten dürfen, sondern sie gewähren lassen müssen; Darius hat mit ihrer Hilfe die innere Gestaltung des Landes unter der Fremdherrschaft geordnet; und auch die Ptolemaeer haben ihre Stellung offiziell anerkannt, wenn sie der Priesterschaft gestatteten zusammenzutreten, um den Königen für ihre Wohltaten zu danken und immer neue Ehren für sie und ihre Angehörigen zu ersinnen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 42-45.
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