Herrschaft des libyschen Militärs und die Entstehung der erblichen Berufsstände

[30] Die Neugestaltung Ägyptens ist von dem libyschen Militär ausgegangen. Das ständige Anwachsen dieser Fremdtruppe seit den Zeiten Ramses' III. ist schon erwähnt worden. Die damals [30] noch aus Asien und den überseeischen Gebieten, vor allem den Šerdana, bezogenen Mannschaften sind mit dem Niedergang der Machtstellung verschwunden; die Krieger werden jetzt durchweg mit dem Namen Mašauaša bezeichnet, der in der Regel zu Ma verkürzt wird, nach dem Stamm (den Maxyern der Griechen), der bei den Invasionen unter Merneptaḥ und Ramses III. die treibende Kraft gewesen war. Von ihm werden immer neue Reisläufer ins Niltal gekommen sein, die hier im Delta als Militärkolonisten angesiedelt und mit Grundbesitz ausgestattet wurden. Als Abzeichen tragen sie im Haupthaar eine Feder, wie sich daheim die Stammgenossen damit schmücken. An ihrer Spitze stehn Hauptleute, die den Titel »Großfürst der Ma« führen; gelegentlich findet sich statt dessen die libysche Bezeichnung dieser Scheichs »mes der Mašauaša«.40 Äußerlich haben sie sich ägyptisiert, verehren die Götter Ägyptens und haben seinen Totendienst angenommen; manchmal tragen sie auch ägyptische, in der Regel aber libysche Namen wie Šošenq, Nimrod u.a. Die Sagengestalt eines Heros Nimrod, eines riesigen Jägers, ist auch den Israeliten bekannt geworden und ist hier in der Völkertafel des Jahwisten widersinnig genug einerseits zum Sohn des Kuš, andrerseits zum ersten König von Sinear [31] und Gründer der Städte sowohl Babyloniens wie Assyriens gemacht worden.41

Von den Häuptlingen der Ma sind nicht wenige zu hohen Stellungen und großem Grundbesitz gelangt. Genauer bekannt ist die Familie des als Zeḥenu (d.i. nach unserem Sprachgebrauch als Libyer im weitern ethnographischen Sinn) bezeichneten Bujuwa, der etwa unter den letzten Ramessiden in Ägypten eingewandert ist.42 Seine Nachkommen sind in Herakleopolis ansässig, Priester des dortigen Gottes Harsaphes, und haben hier großen Grundbesitz und eine fürstliche Stellung gewonnen. Der fünften Generation gehört der »Großfürst der Ma, Fürst der Fürsten« Šošenq43 an, für dessen früh verstorbenen und in Abydos bestatteten Sohn Nimrod, als sein Grab geplündert ist, wie schon erwähnt (o. S. 21), der König von Tanis in Theben das Orakel Amons einholt, das die Wiederherstellung gebietet; dabei betet der König für Šošenq und für alle seine Truppen, und Amonrê' [32] verheißt ihm: »Du sollst ein hohes Alter auf Erden erreichen, und dein Erbe soll auf deinem Stuhl sitzen für immer.«

In diesem Wort des Gottes kommt die Machtstellung, die der General neben der Krone gewonnen hatte, deutlich zum Ausdruck. Sein Enkel und Erbe, der Sohn Nimrods, der wieder Šošenq heißt, hat dann den letzten Schritt getan und sich die Doppelkrone aufs Haupt gesetzt (um 950 v. Chr.). Irgendwelche Kunde über den Hergang besitzen wir nicht; es scheint aber, daß der Übergang sich friedlich vollzogen hat, vielleicht so, daß Šošenq nach dem Tode des Psusennes etwa in derselben Weise, wie in Theben Ḥriḥor, an seine Stelle getreten ist. Jedenfalls ist das Andenken des Psusennes in Ehren geblieben;44 seine Tochter Makerê' wurde mit Šošenqs Sohn und Nachfolger Osorkon I.45 vermählt. Ob es größere politische Bedeutung hat, daß jetzt nicht wenige »Königssöhne des Ramses«, also Nachkommen des alten Herrscherhauses, in hohen Stellungen erscheinen,46 läßt sich nicht erkennen. Zur Hauptstadt der neuen Dynastie wurde an Stelle von Tanis die Stadt Bubastis weiter südlich im östlichen Delta ausersehn.

Auch der thebanische Kirchenstaat hat sich den neuen Herrschern unterwerfen müssen.47 Šošenq I. hat das alte Priestergeschlecht beseitigt – vielleicht ist die Vermutung zutreffend, daß es sich nach Nubien in die große Filiale des thebanischen [33] Gottes in Napata zurückgezogen und hier unabhängig behauptet hat – und das Hohenpriestertum seinem Sohn Auput übertragen. Seine Nachfolger sind ebenso verfahren. So bildet das Hohenpriestertum von Theben fortan eine Art Sekundogenitur der Dynastie, mit der der jeweilige Pharao einen seiner Söhne ausstattet. Erblich dagegen, wie unter der vorigen Dynastie, ist diese Stellung nicht geworden, obwohl Versuche dazu gemacht worden sind, und ebensowenig ist einer dieser Hohenpriester auf den Thron gelangt.

Weiter aber ist an der Organisation des Kirchenstaats nichts geändert worden. Nach wie vor führen die Hohenpriester den Titel »Truppenkommandant und Oberst«, bei Auput mit dem Zusatz »der an der Spitze der großen Armee des Südens steht«; ihm ist also das Aufgebot der Gaumiliz ganz Oberägyptens unterstellt. Klar ausgesprochen wird die Sonderstellung Thebens von Osorkon II. bei seinem in Bubastis gefeierten Jubiläum (dem Seṭfest) mit den von seinem Vater Amon gesprochenen Worten: »Ich beschirme Theben in seiner Länge und Breite als rein und ausgestattet für seinen Herrn; nicht betreten es die Beamten des Königshauses, seine Bewohner sind alle Zeit beschirmt im großen Namen des guten Gottes (d.i. des Königs)«.48 Das hindert natürlich nicht, daß wie unter der einundzwanzigsten Dynastie so auch jetzt die Pharaonen hier tätig sind. Šošenq I. hat gegen Ende seiner Regierung den offenbar bereits den Bauten der Ramessiden zugrunde liegenden Plan49 eines großen Säulenhofs und eines mächtigen Pylons vor dem Tempel von Karnak wieder aufgenommen und dafür in seinem 21. Jahr zusammen mit seinem Sohn, dem Hohenpriester Auput, in Silsilis einen neuen Steinbruch eröffnet. Aber weder er noch seine Nachfolger sind wesentlich über die sog. Bubastidenhalle, das Verbindungsstück zwischen der südwestlichen Ecke des großen Säulensaals und dem unter Ramses III. ihr vorgelagerten kleinen Tempel, hinausgelangt; wieder aufgenommen ist der Bau von den Äthiopen und schließlich von den Ptolemaeern, aber niemals ganz fertig geworden.

[34] Neben dem Gottesstaat von Theben stehn weiter stromabwärts mehrere andere geistliche Fürstentümer. So zunächst das Hohenpriestertum des Ḥaršaf von Herakleopolis (Eḥnas), das zum Erbbesitz der Dynastie gehört. Wie es scheint, haben ihre ersten Könige es selbst in Händen behalten;50 dann aber hat Osorkon II. seinen Sohn Nimrod zum Hohenpriester und Truppenkommandanten von Herakleopolis ernannt und ihm zeitweilig auch das Hohenpriestertum von Theben übertragen, so daß damals ganz Oberägypten bis zum Faijûm in einer Hand vereinigt war. Die Stellung in Herakleopolis hat sich dann in Nimrods Familie sechs Generationen lang, bis zum Ende der Dynastie, weiter vererbt.51 Weit bedeutsamer ist natürlich das Hohenpriestertum des Ptaḥ von Memphis, das immer mit Mitgliedern der Dynastie besetzt wird. Nicht anders wird das des Atum von Heliopolis behandelt worden sein. Dazu kommt schließlich, unterhalb von Memphis am Westufer des Nil, kurz vor seiner Teilung, das Hohenpriestertum des Horus von Letopolis (Sechem).52 So steht das ganze Niltal oberhalb des Delta unter geistlichen Fürsten und ist dem unmittelbaren Machtbereich der in Bubastis residierenden Pharaonen entzogen; hier hat sich daher auch die altüberlieferte Gestaltung des Kriegswesens, die Gaumiliz unter dem Kommando der Hohenpriester weiter erhalten.

Vollständig umgewandelt dagegen sind diese Verhältnisse gleichzeitig im Delta, neben dem jetzt Oberägypten zu einem Nebenlande herabsinkt. Mit der Usurpation Šošenqs haben sich die libyschen Truppen, die Ma, tatsächlich der Herrschaft über Ägypten bemächtigt, in derselben Weise, wie ehemals in Babylonien [35] die Amoriter, wie die Germanen im römischen, die Türken in den islamischen Reichen und wie im 13. Jahrhundert in Ägypten selbst die Mamluken. Fortan bilden sie im Delta einen privilegierten erblichen Kriegerstand, die einheimische Bevölkerung ist vom Waffendienst ausgeschlossen und auf das Erwerbsleben beschränkt; ihre Offiziere, die »Großfürsten der Ma, welche die Feder tragen«, erscheinen in der Folgezeit im Delta überall als die Herren der Ortschaften und Kommandanten der Festungen.

So ist der geschlossene Stand der μάχιμοι entstanden, wie ihn die Griechen seit dem 7. Jahrhundert in Ägypten vorfanden. In den einheimischen Quellen werden die Häuptlinge der Ma seit der einundzwanzigsten Dynastie oft genug erwähnt; aber für die spätern Epochen, von der Äthiopenzeit an, versagen sie bekanntlich so gut wie ganz, und vor allem vom Delta würden wir fast gar nichts wissen, wenn uns hier nicht die große Inschrift des Pi'anchi (um 735 v. Chr.) ein Bild der dortigen Zustände gäbe. So sind wir fast ausschließlich auf die Berichte der Griechen angewiesen; hier hat uns vor allem Herodot die wertvollsten Angaben bewahrt.53 Sie zerfallen in zwei Gruppen, die Hermotybier und die Kalasirier, jene mit einem Höchstbestande von 160000, diese von 250000 Mann.54 Ursprung und Bedeutung beider Namen ist unbekannt; wenigstens zur Zeit der Perserkriege sind beide gleichmäßig vollbewaffnete Infanteristen,55 die Kriegswagen des Neuen Reichs kommen nicht mehr vor, auch eine Reiterei hat sich nicht gebildet. Jede Erwerbsfähigkeit und jeder andere Beruf ist ihnen und ihren Söhnen untersagt; dafür ist ihnen ein steuerfreies Grundeigentum [36] von je 12 Morgen zu 100 ägyptischen Ellen im Quadrat zugewiesen, also ein Grundstück von rund 3 Hektar. So bilden sie in den Gauen, in denen sie angesiedelt sind, geschlossene Militärkolonien, die dem Ruf zu den Waffen jederzeit Folge zu leisten haben. Vollständig hat das gesamte Aufgebot, auch wenn wir die von Herodot gegebenen Zahlen noch so stark reduzieren, natürlich im Ernstfalle niemals mobil gemacht werden können; viel wesentlicher ist, daß die entwaffnete einheimische Bevölkerung dadurch dauernd in Untertänigkeit gehalten wird.56 Dagegen werden alljährlich aus jeder der beiden Gruppen 1000 Mann ausgehoben, die dem Pharao als mobile Truppe zur Verfügung stehn und daher auch von ihm verpflegt werden.

Die Griechen haben von dem Ursprung dieser Organisation nichts mehr gewußt und betrachten sie daher, ebenso wie die gesamte Erblichkeit der Berufsstände, als seit Urzeiten bestehend57 und die Krieger als die Elite des ägyptischen Volks. In Wirklichkeit dagegen bilden sie das letzte Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung: das Volk hat, im Endstadium einer überfeinerten Zivilisation, den Waffendienst auf kräftige Barbaren abgewälzt, mit der Folge, daß diese sich der Herrschaft und des [37] Grundbesitzes bemächtigen und die einheimische Bevölkerung unterdrücken. Ganz anschaulich tritt uns die Neugestaltung in der von Herodot bewahrten Liste der Gaue entgegen, in denen die Krieger angesiedelt sind. Nur ein einziger liegt in Oberägypten, Kalasirier im Gau von Theben; und hier können sie, solange der Gottesstaat in seiner oben geschilderten Gestalt unter der Herrschaft der Hohenpriester bestand, noch kaum angesiedelt gewesen sein,58 sondern erst, als dieser nach Verdrängung der Äthiopen dem Gesamtreiche wieder einverleibt wurde; da ist es sehr begreiflich, daß Psammetich trotz der Konflikte, in die er mit dem Kriegerstande geriet, eine Militärkolonie hierherverlegt hat, um Theben in Ordnung zu halten. Alle anderen Gaue liegen im Delta, sechs der Hermotybier, fast alle im Westen, und elf der Kalasirier, im Zentrum und Osten. Damit sind alle wichtigeren Gebiete des eigentlichen Delta belegt; dagegen fehlt die Südspitze Unterägyptens mit Memphis, Heliopolis, Letopolis. Das erklärt sich daraus, daß diese Städte der Sitz von Priesterfürstentümern waren, und bestätigt so die Authentizität der Liste; zugleich ergibt sich daraus, daß diese auf die Zeit der zweiundzwanzigsten Dynastie zurückgeht und deren Ordnungen wiedergibt.59

Mit der Entstehung des Kriegerstandes ist ein zweiter erblicher und privilegierter Berufsstand neben den der Priester getreten. Denn auch in diesem hat sich, wie in der Regel, wo die Religion das dominierende Element in der Kulturentwicklung geworden ist, so bei den Brahmanen Indiens, den Magiern Irans, den Lewiten und Kohens der Juden, die Erblichkeit völlig[38] durchgesetzt. Seit ältester Zeit hat sich in Ägypten aus der Masse des Volks der Stand der »Reinen« (u'êb) ausgeschieden, gegliedert in vier Abteilungen (sa, φυλή), die monatlich im Tempeldienst wechseln und an den Opfermahlen u.ä. Anteil haben;60 über ihnen stehn die Verwalter der eigentlichen Priesterämter bis zum Hohenpriester (»ersten Propheten«) hinauf, bei denen ein Aufrücken in der Laufbahn wohl die Regel war. Gerade bei den höchsten Stellen freilich kommen noch ganz andere Rücksichten in Betracht, und so er fahren wir, daß z.B. Ramses II., als bei seinem Regierungsantritt die Stelle des Hohenpriesters von Theben neu zu besetzen war, dem Amon außer »den Priestern des Gottes und Großen seines Hauses, die vor ihm standen«, auch »den ganzen Hofstaat und das Oberhaupt der Armee« vorgeschlagen hat und der Gott den bisherigen Hohenpriester des Onuris von Thinis und der Ḥatḥor von Dendera Nebwenenf wählte.61 Söhne von Beamten aus ganz anderen Stellungen haben oft genug hohe und höchste Priestertümer erhalten, und auch Ausländer, wie die Nachkommen des Libyers Bujuwa, die Ahnen der zweiundzwanzigsten Dynastie, haben Priestertümer – in diesem Falle zunächst das eines »Gottesvaters«, das unterste Amt der höheren Laufbahn – erhalten und weitervererben können (o. S. 32). Jetzt aber ist die Erblichkeit der Priesterqualität und damit die Geschlossenheit des Priesterstandes voll anerkannt. Anschaulich illustriert wird der Grundsatz durch einen Vorgang, der sich in Theben abspielte, als der neuernannte Hohepriester Osorkon, Sohn des Takelot II., dort eintraf und beim Chonsfest am 11/9 sein Amt antrat. »Da kam Harsiesis, u'êb mit Zutritt zum [39] Amonstempel,62 gehörig zum Monatsdienst am Tempel Achmenu (dem sog. Festtempel Thutmosis' III. in Karnak) in der dritten Phyle, und sagte: ich bin ein u'êb mit Zutritt in Karnak, Sohn des großen Oberpriester Amons von seiten meiner Mutter, Sohn eines u'êb ...; der Vater meines Vaters war ein Gottesvater und Eingeweihter des Urgottes.« Er legt seine Urkunde und den Nachweis seiner Abstammung aus Theben vor; seine Ansprüche werden vom Hohenpriester und seinen Beamten anerkannt, er darf den Tempel betreten, dort die Reinigungszeremonien vollziehen und die Geheimnisse schauen; den Bericht über diese Vorgänge hat er an der Tempelwand von Achmenu eingegraben.63

So ist Herodots Angabe II 37 vollständig zutreffend, daß »den Priesterdienst bei jedem Gottes nicht einer, sondern viele vollziehen, von denen einer der Oberpriester ist; wenn aber einer stirbt, tritt sein Sohn an seine Stelle«; nur bei Besetzung der höchsten Stelle haben natürlich auch andere Interessen mitgewirkt.

Die Festlegung der Priester und der Krieger als erblicher Berufsstände hat zur Folge, daß auch in der Masse der übrigen Bevölkerung die Erblichkeit der Berufe sich völlig durchgesetzt hat. So schildern die griechischen Berichte durchweg die politische und soziale Gestaltung Ägyptens;64 die »Scheidung der bürgerlichen Bevölkerung nach Gattungen«, wie Aristoteles sie nennt, ist gesetzlich festgelegt und gilt, wie für die privilegierten Stände der Priester und der Krieger, so auch für Landwirtschaft und Viehzucht und für alle Gewerke des Handwerks, des Verkehrs und überhaupt des gesamten Erwerbslebens. Niemand darf den Beruf verlassen, in den hinein [40] er geboren ist, oder mehrere Gewerke nebeneinander betreiben; wer es doch versucht, wird bestraft. Diese Ordnung, die sie als uralt betrachten, hat den Griechen den größten Eindruck gemacht; sie schien, gegenüber den tastenden Experimenten der griechischen Staaten, den dauernden Bestand einer homogenen Kultur und Staatsgestaltung zu sichern, und erschien ihnen als Vorbild für ähnliche Einrichtungen und Anschauungen bei anderen Völkern sowie daheim, so vor allem im spartanischen und kretischen Staat; Plato, der Ägypten genau kennengelernt und von ihm entscheidende Eindrücke erhalten hat, sah hier die Staatsgestalt verwirklicht, die ihm als Ideal vorschwebte.65 Sehr mit Unrecht hat man die Zuverlässigkeit dieser Nachrichten bezweifelt; vielmehr bestätigen die langen Stammbäume, die seit der zweiundzwanzigsten Dynastie in Grab- und Weihinschriften üblich werden, aufs beste, welche Bedeutung jetzt Abstammung und Erblichkeit gewonnen hat. So führt ein Vorsteher der Bauten unter Darius I. seinen Stammbaum durch vierundzwanzig Glieder, die alle dasselbe Amt bekleidet haben sollen, bis auf Imḥotep, den Erbauer der Stufenpyramide König Ẕosers von Sakkara in der dritten Dynastie hinauf.66

Seit dem 18. Jahrhundert ist auf diese ägyptischen Stände die Bezeichnung »Kasten« übertragen worden. Damit sind ganz falsche Vorstellungen hineingetragen worden, die lange Zeit, bis zur Erschließung seiner Denkmäler, zu den kühnsten Konstruktionen über die Geschichte Ägyptens und den Ursprung seiner Kultur Anlaß gegeben haben. In Wirklichkeit haben sie mit den indischen Kasten garnichts gemein, und der Ausdruck sollte ganz vermieden werden. Sie stehn, wie wir gesehn haben, weder am Anfang noch gehören sie der Blütezeit der ägyptischen Kultur an, sondern sind das letzte Ergebnis ihrer Entwicklung, als sie innerlich abstirbt und das nationale Leben erlischt. Eine vollständige Analogie bietet dagegen die Gestaltung des absterbenden römischen Kaiserreichs, als dieses im 3. Jahrhundert auf dasselbe Stadium hinabgesunken ist. Auch dort hat die kultivierte [41] Bevölkerung den Waffendienst aufgegeben und ihn auf die rohen, aber kräftigen Völkerschaften der Grenzprovinzen, vor allem die Illyrier, abgewälzt; und auch dort ist die Folge, daß die Armeen sich der Herrschaft bemächtigen, ihre Generäle zu Kaisern erheben und die Reichseinheit sich auflöst. Gleichzeitig ist auch dort die ständische Gliederung voll durchgeführt, alle Berufe sind erblich geworden, wie früher schon die Senatoren des Reichs und die Stadträte, so jetzt die Bauern und die Handwerker, und die Gesetze erzwingen ganz wie in Ägypten das Verbleiben eines jeden in dem Stande, in dem er geboren ist.

Die Parallele setzt sich noch weiter fort. Wie im römischen Reich Diokletian und Konstantin, so hat in Ägypten Psammetich das Reich noch einmal wieder aufgerichtet und neu organisiert. Aber möglich war es in beiden Fällen nur dadurch, daß aus dem Ausland kräftige Truppen angeworben und ins Land hineingezogen wurden, und so ist denn auch, so verschiedenartig der Verlauf sich im einzelnen gestaltet hat, das Endergebnis das gleiche gewesen: der Untergang des nationalen Staats und die Fremdherrschaft.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 30-42.
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