Der Gottesstaat Amons von Theben und die letzte Phase der Amonreligion

[20] Etwas mehr erfahren wir über den Gottesstaat Amons. Er umfaßt außer der Thebais auch die nubische Provinz (Kuš) und [20] das Niltal Mittelägyptens etwa bis zum Faijûm hin, und der Hohepriester führt den alten Titel »Kommandant der Truppen des Südens und Nordens (oder: des ganzen Landes)«, also des Aufgebots der Gaumiliz. Indessen neben diese sind jetzt die unter ihren eigenen Obersten und den Königen von Tanis stehenden libyschen Truppen getreten, und so hat sich der Kirchenstaat der Oberhoheit der Pharaonen von Tanis unterordnen müssen. An Versuchen, die volle Unabhängigkeit wiederzugewinnen, hat es nicht gefehlt. Als Pinoẕem I. zum König aufgerückt war, sind unter seinem Sohn, dem Oberpriester Masaherta, oder nach dessen Tode schwere Wirren ausgebrochen, zahlreiche Leute sind von der jetzt zur Herrschaft gelangten Partei durch ein Dekret Amons in die Oase verbannt worden. Da zieht, offenbar von seinem Vater entsandt und gewiß von einer libyschen Kriegertruppe begleitet, Mencheperrê', der zweite Sohn König Pinoẕems, als Hoherpriester nach dem Südlande (Ptoris), um »das Herz des Landes zu beruhigen und seine Rebellen niederzuschlagen«, die Ordnung wiederherzustellen »wie sie bestand zur Zeit des Rê'«. Er wird in Theben freudig empfangen und von Amon auf den Stuhl seines Vaters gesetzt; am Neujahrsfest erwirkt er ein Dekret Amons, das den Verbannten (also den Anhängern der legitimen Regierung) die Rückkehr gewährt, dagegen eifrig zustimmt, daß »alle Leute, von denen ihm berichtet wird: er ist ein Totschläger lebender Menschen«, ausgetilgt und getötet werden.25

Daß unter den folgenden Hohenpriestern die Abhängigkeit von den Königen von Tanis bestehn blieb, ist schon erwähnt. Besonders bezeichnend ist, daß, als in Abydos das Grab des frühverstorbenen »Großfürsten der Ma« Nimrod aus einer in Herakleopolis ansässigen libyschen Soldatenfamilie, unter Mitschuld seiner Beamten, ausgeplündert war, der Vater Šošenq sich nicht etwa an den Hohenpriester von Theben, sondern an den Pharao wandte – der Name ist leider nicht genannt – [21] und dieser mit ihm nach Theben ging und dort ein Orakel Amons erwirkte, das die Schuldigen verurteilt und die Wiederherstellung befiehlt; der König selbst schickt dazu eine Statue des seligen Osiris Nimrod nach Abydos.26

Trotz dieser Einfügung in das Gesamtreich ist der Gottesstaat von Theben eine Welt für sich. Tatsächlich regiert der Hohepriester, dem seine Gemahlin als »Gottesweib«, »Gottesverehrerin« oder »erste Haremsdame des Amon« zur Seite steht, die daneben zahlreiche andere Priestertümer in den wichtigsten Kultstätten der einzelnen Gaue bekleidet. Offiziell aber führte Amon in eigener Person das Regiment und der Hohepriester ist lediglich das ausführende Organ seines Willens; wie in den angeführten Fällen werden dem Gott auch sonst alle Fragen von Bedeutung vorgelegt und er gibt in der oben geschilderten Weise durch sein Orakel – »ein Wunder«, wie es offiziell heißt – die Entscheidung. So legt beim Verfahren gegen einen des Unterschleifs beschuldigten hohen Beamten Thutmose27 der Hohepriester Pinoẕem II. dem Amon zwei Tafeln vor, von denen ihn die eine für schuldig, die andere für unschuldig erklärt, und der Gott wählt die freisprechende Tafel. Um sicher zu gehn, wird das Verfahren nochmals wiederholt, mit demselben Ergebnis; in den nächsten Jahren folgen weitere gleichartige Entscheidungen, bis schließlich dem Thutmose das Amt seines Vaters als oberster Rechnungsbeamter zugesprochen wird.

Auch Verfügungen über das Eigentum und Testamente werden von Amon, unter Mitwirkung seiner Gemahlin Mut und seines Sohnes Chons, sanktioniert. So als die Prinzessin Makerê', die Tochter des Psusennes I., den Hohenpriester Pinoẕem I. heiratet und ihm eine große Mitgift mitbringt, die weiter durch [22] »Geschenke von den Leuten des Landes« (d.i. der Thebais) vermehrt wird. Alle diese Besitzungen werden ihr und ihren Nachkommen von den Göttern für ewige Zeiten garantiert; sie gebieten »jedem König, Oberpriester des Amon, Offizier, jedermann, Mann oder Frau, die jetzt oder in Zukunft das Regiment führen werden«, dies Gebot zu befolgen; wer immer irgend etwas von diesem Besitz beansprucht oder antastet, soll getötet werden, den Übertretern werden die schwersten göttlichen Heimsuchungen angedroht28. Gleichartig ist das nur in Bruchstücken erhaltene Dekret derselben Götter über die Vererbung des Besitzes der Isiemcheb, der Gemahlin des Mencheperrê', an ihre Nachkommen.29

Auch für das Gedeihen im Jenseits sorgt jetzt nicht mehr Osiris, sondern Amon selbst. Der Leiche der Nsichons, der Gemahlin des Pinoẕem II., und ebenso der des letzteren, sind lange Urkunden beigegeben,30 in denen Amon sie in der Unterwelt »vergottet«, ihnen Wasser, Nahrung und alles was sonst den dort Vergotteten zusteht, in breiter Ausführung zusichert und nicht gestattet, daß ihre Seelen vernichtet werden. Pinoẕems Seele kann nach Belieben aus- und eingehn, er kann fliegen wohin er will, jederzeit jeden Weg befahren. Bei Nsichons kommt noch die weitere Bestimmung hinzu, daß Amon »ihr Herz wendet«, daß sie nicht gegen Pinoẕem, seine Frauen, Kinder und Brüder irgend etwas Böses begehe oder seine Lebenszeit zerstöre, sondern für ihn alles Gute und Wohlergehn erstrebe, solange er auf Erden lebt; der überlebende Gatte soll gegen jede verderbliche Einwirkung des Totengeistes geschützt sein.

Den Eingang beider Papyri bildet ein umfangreicher Text, der das Wesen Amons schildert. Er ist deutlich nicht erst für [23] diese Urkunden verfaßt, sondern als feststehende Formulierung aus dem Kultus übernommen. Inhaltlich und formell berührt er sich vielfach mit den Anrufungen Amons in den Königsinschriften des Neuen Reichs und dem großen in einem Papyrus der achtzehnten Dynastie erhaltenen Amonshymnus und den gleichartigen Texten31 und benutzt die längst geschaffenen, zum guten Teil von Ptaḥ, dem Sonnengott (Atum), Chnum u.a. auf Amon übertragenen Formulierungen; aber inhaltlich geht er wesentlich über sie hinaus. Trotz seines hymnenartigen Stils ist er kein Hymnus oder Gebet, sondern eine Verkündung des Wesens der Gottheit; er kann geradezu als ein Credo der Amonsreligion bezeichnet werden.

Die religionsgeschichtliche Bedeutung des Schriftstückes liegt nicht in den aus den älteren Texten übernommenen Wendungen, sondern in den Abweichungen und Auslassungen; in ihnen hat der Fortschritt über alles bisher Erreichte seinen dogmatischen Ausdruck gefunden. Ganz überraschend ist, daß sowohl die mythischen Elemente wie die Bezugnahme auf Gestalt und Attribute des Gottes so gut wie vollständig gestrichen sind. Von seinen verschiedenen Kronen mit ihren Hörnern, Federn und Schlangen nebst Szepter und Geißel, die in den anderen Texten eine so große Rolle spielen, ist nicht mehr die Rede; wenn der Schöpfergott einmal »junger Stier mit spitzen Hörnern« oder »grimmig blickender Löwe mit roten Augen« heißt oder wenn ihm anstatt der beiden Gottesaugen32 einmal zahlreiche Augen und Ohren zugeschrieben werden, so ist das nicht mehr sinnlich real gedacht, sondern die alten mythischen Anschauungen und Symbole sind zu dichterischen Wendungen und Gleichnissen geworden, in derselben Weise wie in den gleichartigen Ausdrücken in der prophetischen und kultischen Literatur Israels. Die Schilderung des täglichen Sonnenlaufs wird veranschaulicht [24] als ein Altern und Sichwiederverjüngen; aber von den Sonnenschiffen ist nicht mehr die Rede,33 und die aus den Mythen von den Kämpfen des Sonnengottes in der Urzeit, vor allem mit der Schlange 'Apopi, übernommenen Wendungen von seinen Siegen über die Feinde sind einfach zum Ausdruck der Allgewalt geworden, mit der der in der Sonne erscheinende Allgott tagtäglich die gesamte Welt durchdringt und beherrscht. Die Formel des alten Mythus, daß die Menschen aus seinen Augen, die Götter aus seinem Munde hervorgegangen sind, ist aus dem Amonhymnus übernommen, aber deutlich nicht mehr als Schilderung des wirklichen kosmogonischen Vorgangs, sondern als überkommene Formel für seine Schöpfertätigkeit, die ebenso die Nahrung und damit die Möglichkeit des Lebens gegeben hat.

Nicht minder bedeutsam ist, daß abgesehn von der Gleichsetzung mit Rê', der seit langem mit dem Götterkönig von Theben völlig verschmolzen und einfach ein Bestandteil seines Namens geworden war, alle Identifikationen mit anderen Göttern gestrichen sind. In dem gesamten Text findet sich weder Horus und sein Falke noch Atum von Heliopolis oder Šow, und ebensowenig Ptaḥ von Memphis, dessen Stellung und Wirksamkeit vielmehr vollständig auf Amonrê' übertragen ist, oder gar Min und Chnum. Nur der Name Cheperi ist beibehalten und wird stark verwertet; aber das ist nicht mehr der Käfergott oder überhaupt ein selbständiges Wesen, sondern ist einfach das Appellativum für »Schöpfer« geworden. Die Existenz der übrigen Götter und ihre Zusammenfassung in Götterkreisen wird vorausgesetzt, aber mit Namen wird kein einziger erwähnt, und ebensowenig findet sich eine Anspielung auf den Osirismythus oder auf Thouth und seine acht Elementargötter.

So ist der Grundgedanke aller theologischen Spekulation Ägyptens weit klarer herausgearbeitet als in den älteren Texten. Die Religion, die der Text verkündet, ist theoretisch monotheistisch, allerdings nicht in der exklusiven und polemischen [25] Tendenz wie in der Atenreligion oder im Judentum und Islam, sondern in der Auffassung der schöpferischen Gotteskraft als einer Einheit, die die gesamte Welt ewig gleichmäßig gestaltet und regiert. Sie läßt daher, anders als Echnaten, alle anderen Götter und ihre Kulte bestehn (was in unserem Text nicht erst ausgesprochen zu werden braucht); denn sie alle sind nur Zeugungen oder Emanationen des einen Urwesens, und so existiert im wahren Sinne dieses Wortes, als Verkörperung des absoluten Seins, als »Gott, der von der Wahrheit lebt«, nur dieser »Eine« oder »Einzigeine«.34

Dieser Gott offenbart sich den Menschen sinnlich wahrnehmbar in der Sonne, in der er tagtäglich, »ohne je zu ermüden« und »ohne daß seine Lebenszeit zu Ende geht«, die gesamte Welt, Himmel und Hölle, durchwandert und so »die Grenze der Unendlichkeit und der Ewigkeit erreicht« (oder »sich ihrer bemächtigt«). Aber er selbst ist, wie gleich zu Anfang ausgesprochen und nachher wiederholt wird, ein geistiges Wesen, »eine ehrwürdige Seele«. Daher ist er trotz seiner Manifestation in Sonne und Licht (auch im Mond) dennoch »unerkennbar«, »sich geheimmachend als Sonne (d.h. obwohl er in der Sonne sichtbar ist)«, »sich seiner Kreatur verhüllend« und ihr »nicht begreifbar«. Diese Unerkennbarkeit wird immer wieder auf das stärkste betont; auch »vor den Göttern hat er sich verborgen«, wie mit Benutzung einer seit langem gebräuchlichen Deutung des Namens Amon (»der dessen Name verborgen ist«) gesagt wird. Darin liegt der entscheidende Fortschritt über die Sonnenreligion Echnatens hinaus: der »Eine« ist als geistiges Wesen über die Sinnenwelt erhaben und transzendent geworden.

Dem entspricht es, daß kein Versuch gemacht wird, eine Kosmogonie zu entwickeln, wie ehemals in den Spekulationen der »memphistischen Theologie«35 oder wie in der Genesis, sei [26] sie mythisch, wie im zweiten, oder rationalistisch wie im ersten Kapitel. Amonrê' ist »geheimnisvoll an Geburten (Zeugungen), zahlreich an Gestaltungen, seine Einsetzung kennt man nicht; außer ihm bestand Nichts beim Beginn der Schöpfung«; in der Formel »der große Gott vom Anbeginn der Schöpfung« wird sein Wesen kurz zusammengefaßt. Alle anderen Wesen, auch alle Götter sind aus ihm und durch ihn entstanden. Aber wie dieser Prozeß verlaufen ist und wie zu Anfang, »am ersten Morgen der Erde (d.i. der Welt)« er selbst entstanden ist oder vielmehr sich selbst gebildet hat – die alte mythische Formel »Stier seiner Mutter« ist offenbar mit voller Absicht vermieden, und ebenso natürlich die kraß realistische Zeugung durch Selbstbegat tung – und wie er dann die Götter gezeugt und die Welt geschaffen und gestaltet hat, das bleibt aller Kreatur verborgen. Das Problem des Anfangs, so unabweislich es sich dem grübelnden Denken, aufdrängt, bleibt dennoch seiner Natur nach für jede Religion und jede Philosophie ein unerforschliches Geheimnis,36 und so begnügt sich die Amonsreligion, die Welt wie sie ist als durch den Gott nach seinen Plänen gestaltet hinzunehmen.

Im Mittelpunkt dieser Welt steht natürlich Ägypten; und so ist dieser universale Schöpfergott, zu dem des Morgens, wenn es Licht wird, alle Welt betet, gefürchtet und schreckensvoll für Götter und Menschen, aber auch »geliebt und süßen Namens«, zugleich der König Ägyptens; seinen Sitz aber hat er in den Tempeln Thebens und erteilt hier seine Orakel. Der innere Widerspruch, der darin liegt, wird hier so wenig empfunden, wie wenn im Judentum der zum Himmelsgott und Weltherrscher gewordene Jahwe zugleich seinen Sitz im Tempel von Jerusalem hat oder wie im Islam die Verknüpfung des Einen Gottes mit [27] dem Lokalkult der Ka'ba von Mekka. Es ist das Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung, durch die dieser Lokalgott, alle anderen überflügelnd und beiseite drängend, zum Träger der universalen Idee geworden ist.

Der Amontext, den wir analysiert haben, ist der letzte und höchste Ausdruck, zu dem die religiöse Spekulation der Ägypter gelangt ist. Gerade darin, daß er jede Konstruktion ablehnt und das Rätsel anerkennt und dennoch in Worte zu fassen sucht, liegt seine eminente Bedeutung für die Religionsgeschichte. Er bildet den Abschluß der zwei Jahrtausende umfassenden Entwicklung, die in der Epoche der Pyramiden begonnen hat.37 Auf die Dauer hat sich diese Gestaltung so wenig auf ihrer Höhe behaupten können, wie irgend eine gleichartige in der Religionsgeschichte. Mit dem Niedergang Thebens treten nicht nur die anderen Lokalgötter wieder in den Vordergrund, sondern die Entwicklung schlägt überhaupt andere Bahnen ein; teils drängen sich die primitiven magischen Anschauungen, die sich daneben in der Volksreligion immer lebendig erhalten haben, stets mächtiger hervor, teils nehmen mystisch verschwommene Anschauungen in den späteren Texten, so in dem bekannten Amonshymnus von Hibis in der großen Oase unter Darius, die älteren, in unserem Texte verworfenen Formeln in buntem Gemisch wieder auf; und daneben verschiebt sich für die Gebildeten der Schwerpunkt des religiösen Denkens in derselben Weise wie in der semitischen Welt immer mehr in die Ethik.

In dem thebanischen Gottesstaat ist der Versuch gemacht worden, die Theorie auch in der Praxis des Staats voll durchzuführen. Er ist wie die älteste und naivste so auch die konsequenteste Durchführung der Theokratie, welche die Geschichte kennt. Der Gott übernimmt wirklich in Person, inkarniert in dem Kultobjekt, das Regiment und entscheidet jede ihm vorgelegte Frage in derselben Weise, wie früher der König. Am [28] nächsten kommt ihm der tibetische Kirchenstaat mit dem inkarnierten Bodhisattwa an der Spitze; da der als solcher Wiedergeborene zumeist ein kleiner Knabe ist und man, wenn er herangewachsen ist und sich durch Eigenwillen unbequem macht, dafür zu sorgen pflegt, daß er die Hülle wechselt, ist seine Rolle in der Tat der des Fetisches in der Gottesbarke von Theben vergleichbar. Im jüdischen Kirchenstaat war eine Verkörperung der Gottheit unmöglich und das prophetische Wort, das früher ihren Willen verkündete, längst verstummt, die Losorakel der Urîm und Tummîm in Wegfall gekommen; an ihre Stelle war das ein für allemal unabänderlich festgelegte Schriftwort des Gesetzes getreten, das der Idee nach bei richtiger Interpretation für alle Fälle die Weisung geben sollte, so wenig es in der Praxis dafür ausreichte. Der römische Kirchenstaat dagegen kommt hier überhaupt nicht in Betracht, da er ebenso wie die anderen mit staatlicher Macht ausgestatteten Bistümer ein durchaus weltliches Gebilde und seine Politik immer von rein weltlichen Gesichtspunkten beherrscht war. Die römische Kirche aber ist der unmittelbaren göttlichen Einwirkung und daher der Unfehlbarkeit nur dann gewiß, wenn, wie es die sehr vorsichtig abgefaßte Definition des Vaticanum formuliert, der Papst als Oberhaupt der gesamten Christenheit ex cathedra ... doctrinam de fide vel de moribus ab universa ecclesia tenendam definiert; auf den übrigen Gebieten, und so auch in der Politik, kann er unfehlbare Entscheidungen nicht geben.38

Durch die Theokratie ist die Politik als selbständiger Faktor des staatlichen Lebens ausgeschaltet. Die Folge ist, daß der Gottesstaat als selbständiger Staat nicht zu bestehn vermag. Für die jüdische Theokratie ist die Fremdherrschaft (der erst das Kommen des Messias ein Ende machen wird) geradezu die [29] Voraussetzung, und als das Judentum gezwungen wird, sich staatlich zu organisieren, ist sofort der Konflikt zwischen Politik und Gesetz da, an dem es gescheitert und staatlos geworden ist.39 Auch der Kirchenstaat des Dalailama hat sich nur durch die chinesische Oberhoheit ausbilden und erhalten können. Das gleiche Schicksal hat der thebanische Gottesstaat erfahren: das Königtum des Hohenpriesters Ḥriḥor hat sich nicht behaupten können, es hat sich dem Pharao von Tanis unterordnen müssen.

Im übrigen entsprechen natürlich auch die inneren Zustände dieses Staats dem Ideal keineswegs. Wie es in ihm aussah, wird anschaulich dadurch illustriert, daß er die Ordnung in der Riesennekropole von Theben nicht aufrecht zu erhalten vermochte, daß die Königsgräber ständig ausgeplündert wurden und die Mumien der alten Pharaonen, um wenigstens sie zu retten, immer wieder aus einem Grab in ein anderes gebracht werden mußten, bis man sich schließlich, unter Šošenq I., damit behalf, sie sämtlich in einem unzugänglichen Schacht in den Felsen von Der el baḥri zu verstecken. Wesentlich dabei mitgewirkt hat, daß, seitdem der Schwerpunkt des Landes wieder ganz ins Delta verlegt war, die Riesenstadt, welche das Neue Reich geschaffen hatte, verfiel und weithin verödete. Aus der dominierenden Stellung war die Thebais zu einem abgelegenen Nebenlande herabgesunken, in dem die religiösen Theorien sich frei ergehn mochten, dem aber alle innere Kraft fehlte. So ist denn auch die weitere Entwicklung über sie hinweggegangen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 20-30.
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