Phoeniker und Griechen

[113] Zwischen dem Westen und der Heimat liegt das Ägaeische Meer und die Welt der Griechen. In den homerischen Epen erscheinen hier mehrfach226 die Sidonier oder Phoeniker – beide Namen stehn gleichbedeutend nebeneinander – als verschmitzte Kauffahrer, die in den Hafenplätzen landen, ihre Waren, Schmucksachen und Tand aller Art (μυρία ἀϑύρματα, ο 416) mit reichem Gewinn verkaufen, bei Gelegenheit wohl auch einen Knaben an sich locken und als Sklaven fortführen. Berühmt und begehrt sind vor allem die bunten Gewänder, die goldenen und silbernen Krüge und mit Bernstein ausgelegte Halsketten. Gelegentlich sind auch die Heroen selbst nach Phoenikien verschlagen oder gefahren, wie Paris und Menelaos, oder sie verbinden sich mit einem phoenikischen Händler, um gemeinsam Geschäfte zu machen, wie Odysseus in seinen Erzählungen.

Phoenikische Ansiedlungen in der griechischen Welt kommen bei Homer nicht vor. Umso mehr wissen die Späteren davon [113] zu erzählen. Ihre Angaben beruhen auf der Sage von Europa und Kadmos, welche die genealogische Poesie gestaltet hat. Die Gestalt der Europa stammt aus Boeotien: hier ist sie Kultname der Erdgöttin von Lebadea227, oder sie ist; von Zeus in einer Höhle bei Teumessos verborgen228. Dann wird ihr Name Bezeichnung des mittelgriechischen Festlandes229 und schließlich des ganzen Kontinents. Daß sie von Zeus in Stiergestalt geraubt wird, mag auch noch boeotischer Mythus sein; was aber den Anlaß gegeben hat, sie zu einer Tochter des Phoinix zu machen230, und weiter, sie nach Kreta zu bringen, wo sie Mutter des Minos und seiner Brüder wird, ist völlig dunkel. Denkbar wäre, daß Phoinix hier ursprünglich eine der griechischen Sagengestalten dieses Namens war, die dann ethnographisch gedeutet wurde231; auch auf Kreta kennen wir einen Gott Phoinix232. Dann [114] hat die Gestalt der Europa in den kretischen Sagen weitergewuchert: in Gortyn wird sie mit einer Göttin Hellotis identifiziert, deren Gebeine an ihrem Festtage – also einem Vegetationsfest – umhüllt von einem riesigen Myrthenkranz in Prozession getragen wurden233; ihr Entführer aber ist der Stiergott Zeus Asterios234, aus dem dann ein König Asterios oder Asteros gemacht wird, der die Europa heiratet, und von dem der Minotauros von Knossos mit dem Eigennamen Asterios ein Doppelgänger ist235.

Mit der Europasage ist weiter die Gestalt des Kadmos, des Gründers der Kadmeia, der Burg von Theben, verknüpft236. Irgendwie mag er schon in der einheimischen boeotischen Überlieferung mit Europa in Verbindung gesetzt worden sein; in der genealogischen Dichtung aber wird er zum Bruder des Phoinix und Sohn des Agenor und daher zum Oheim oder Bruder der Europa, und wird ausgesandt, sie zu suchen. Da ihm das nicht gelingt, kann er nicht heimkehren und siedelt sich in der von ihm gegründeten Burg von Theben an. Daß diese Erzählung keinerlei geschichtliches Element enthält und daß die typische Binnenstadt Theben keine Kolonie der Phoeniker gewesen sein kann, bedarf jetzt keiner Erörterung mehr. Für die Griechen dagegen war das Epos die maßgebende Autorität; und so ist es für sie alle, Dichter so gut wie Historiker, selbstverständlich, daß die Kadmeer von Theben Phoeniker gewesen waren; auch die zahlreichen Geschlechter, vor allem in Ionien, die ihren [115] Stammbaum auf Kadmos und seine Genossen zurückführten, galten als phoenikischen Ursprungs, so die Theliden, das Geschlecht des Thales von Milet237.

Weiter gelten auch mehrere griechische Inseln als ursprünglich von Phoenikern besiedelt, und ihre Besetzung wird daher in die Zeit des Kadmos gesetzt, ihre Eponymen oder Stammväter sind seine Genossen bei der Suche nach Europa. So bei Herodot Thasos mit seinem Heraklestempel238 und Thera, dessen Oekist Membliaros einen »Buntmann« Poikiles zum Vater erhält, der nach den bunten Gewändern der Phoeniker benannt ist239. Auch das Heiligtum der Aphrodite auf Kythera ist nach Herodot von Phoenikern gegründet240. Andere Notizen führen Melos auf Byblos, Oliaros auf Sidon zurück241; auch nach Thukydides saßen zur Zeit des Minos auf den Inseln Karier und Phoeniker242.

Als gesicherte Tatsache erweisbar ist freilich keine dieser Angaben, und manche mögen lediglich auf grundlosen Kombinationen [116] beruhen. Aber zu beachten ist doch, daß sie nicht etwa aus der Kadmos-Europa-Sage erwachsen sind, sondern umgekehrt eine Tradition über den phoenikischen Ursprung dieser Orte voraussetzen und ihn durch Anknüpfung an diese Sage geschichtlich zu erklären suchen. Auch wird man sich schwerlich entschließen dürfen, eine so präzise Angabe, wie die Herodots, einfach zu verwerfen, daß die phoenikischen Goldbergwerke auf Thasos, die er selbst gesehn hat, im Unterschied von den späteren »weitaus am bewunderungswürdigsten« seien. Zu beachten ist auch, daß keine der Inseln im thrakischen Meer vor dem 7. Jahrhundert von den Griechen besetzt worden ist; überhaupt hat sich die volle Umwandlung des ägaeischen in ein griechisches Meer erst ganz allmählich vollzogen. So werden wir wohl nicht fehlgehn mit der Annahme, daß in den vorhergehenden Jahrhunderten die Verhältnisse auch hier der Schilderung gleichartig waren, die Thukydides von Sicilien gibt, und daß die Phoeniker an manchen Hafenplätzen kleine Niederlassungen und Faktoreien angelegt haben, aus denen sie dann später ohne Kampf gewichen sind.

Diese Annahme verträgt sich durchaus mit dem Bilde, das wir aus Homer gewinnen; nur darf man die Bedeutung, welche den Phoenikern zukommt, nicht in der früher üblichen Weise überschätzen, hier so wenig wie im Westmeer und in Spanien. Aber die Einwirkung des phoenikischen Kunsthandwerks auf die einheimische Entwicklung ist unverkennbar. So schwierig, ja unmöglich es ist, in dem dürftigen Material, das uns aus diesen Jahrhunderten erhalten ist, überall mit Sicherheit zu scheiden, so ist doch nicht zweifelhaft, daß die orientalischen und ägyptischen Motive, die fortdauernd in die griechischen Dekorationen und Malereien der Gefäße eindringen, in der Regel durch die Phoeniker (daneben auch über Kleinasien) vermittelt sind, und daß die in Olympia, Delphi u.a. gefundenen Metallschalen mit Kampfszenen, die ägyptische und assyrische Vorbilder nachahmen, phoenikische Arbeit sind243.

[117] Noch bedeutsamer ist, daß die Griechen zu Anfang des 9. Jahrhunderts244, alsbald nach der Erfindung der phoenikischen Schrift, das Alphabet mitsamt Gestalt, Namen und Reihenfolge übernommen haben. Das zeigt, wie lebendig sich der Geschäftsverkehr gestaltet hat. Dabei aber tritt gleich hier die geistige Selbständigkeit der Griechen bedeutsam hervor; sie empfanden, wie ungeeignet diese Schrift für ihre Sprache, wie unentbehrlich eine Bezeichnung der Vokale sei, und vollzogen sogleich den entscheidenden Fortschritt über ihre Lehrmeister hinaus – einen Schritt, den im gesamten Bereich des Alphabets im Orient niemand gewagt hat, auch die Inder nicht –, die Vokale als gleichartig mit den Konsonanten zu behandeln. Von den Buchstaben, die im Griechischen keine Verwendung hatten, wurden vier genommen, 'alef, he, jod und 'ain, um die vier Vokale a e i o zu bezeichnen, und für den fünften, das u, ein Zeichen hierzu erfunden245. Diese Umgestaltung ist wohl sicher auf einer der Inseln erfolgt246; sie muß das Werk eines einzelnen Mannes, eines Schreiblehrers, gewesen sein. Sie ist in der gesamten griechischen Welt einstimmig angenommen worden, während die weitere Entwicklung der Schrift dann in jedem Gebiet ihre Sonderwege geht.

Vielfach hat man versucht, weitere Spuren der Phoeniker in der griechischen Religion nachzuweisen. Indessen diese Hypothesen, die so lange geherrscht und den klaren Blick getrübt haben, sind durchweg unbegründet und unhaltbar; weder der griechische Herakles noch Kronos noch die stiergestaltigen Götter noch die gerade bei den Griechen weit verbreiteten Menschenopfer sind phoenikisch; und auch der Kult der Göttin [118] Aphrodite hat zwar seit alters starke orientalische Elemente in sich aufgenommen, aber nicht durch die Phoeniker, sondern schon lange, ehe diese zur Bedeutung kamen, von Cypern aus; als dann die Phoeniker auf diese Insel kamen, haben sie die große Göttin des Geschlechtslebens, die im Himmel thront, genau in derselben Weise verehrt und mit ihrer Astarte identifiziert, wie es die Griechen getan haben247.

Nur zwei Namen bleiben, deren phoenikischer Ursprung kaum zu bestreiten ist, die Kabiren und Melikertes. Kabiren, Κάβειροι, d.i. die »Großen« (םיריבכ), ist der Name einer Gruppe von sieben Göttern, die zusammen mit dem »Achten«, dem Heilgott Ešmun, in Berytos verehrt werden; ihnen wird von Sanchunjaton die Erfindung der Schiffahrt – daher werden sie den Dioskuren gleichgesetzt –, ihren Kindern die von Heilmitteln und Beschwörungsformeln zugeschrieben248. Auch in Memphis, wo ja so manche semitische Götter Eingang gefunden haben, haben sie einen Tempel; nach Herodot gelten sie hier als Söhne des Ptah (Hephaestos) und werden ihm gleichartig gebildet249, also wohl als primitive unbeholfene Kindergestalten, wie die von Herodot neben ihnen genannten phoenikischen Pataïken.

Nun werden als Kabiren durchweg auch die großen Götter der Insel Samothrake bezeichnet, an die ein Mysterienkult anschließt, der seit dem Ausgang des 6. Jahrhunderts zu stets steigendem Ansehn gelangt ist und sich schließlich über die ganze griechische Welt und noch darüber hinaus verbreitet hat. Mit den Phoenikern freilich hat dieser Geheimkult garnichts zu tun, sondern mag mit thrakischen und kleinasiatischen Anschauungen [119] in Zusammenhang stehn250. Im Kultus und in den Weihinschriften auf Samothrake und den Nachbarinseln heißen die Gottheiten durchweg nur Θεοὶ Μεγάλοι, die großen Götter; das deckt sich aber so vollständig mit dem Namen Kabiren, der ihnen in der Literatur durchweg gegeben wird251, daß es unzulässig erscheint, seinen phoenikischen Ursprung zu bezweifeln252. So wird man annehmen müssen, daß der Name sich in der griechischen Welt erhalten hat und in der religiösen Bewegung des 6. Jahrhunderts, als die Geheimkulte und Weihen aufkamen und man begierig nach fremden und daher geheimnisvollen und zauberkräftigen Namen griff, auf die Θεοὶ Μεγάλοι von Samothrake übertragen worden ist. Das war umso leichter möglich, da diese auf der mächtig aufragenden Felsburg von Samothrake inmittendes stürmischen Meeres thronenden Gottheiten zugleich Schirmherrn der Schiffahrt waren und daher auch den Dioskuren gleichgesetzt wurden.

Lange Zeit galt es als völlig gesichert, daß der Name des Melikertes, den man für einen Gott am Isthmus von Korinth hielt, aus Melqart entstanden sei und dieser daher hier einen Kult gehabt habe. Jetzt dagegen ist er als echt griechisch in [120] Anspruch genommen und als »Honigschneider« gedeutet worden253, und diese Deutung hat viel Anklang gefunden, so ungeheuerlich ein solcher Name für einen Gott ist, ganz abgesehn davon, daß in der Überlieferung nirgends auch nur die geringste Andeutung auf irgendwelche Beziehungen zum Honig hindeutet. Aber Melikertes ist überhaupt garkein Gott; das einzige, was von ihm erzählt wird, ist vielmehr, daß er der Sohn der Ino und des Athamas war, mit dem sich die Mutter im Wahnsinn vom molurischen Felsen bei Megara ins Meer stürzte; die Leiche des Knaben wird dann von einem Delphin bei Krommyon nördlich vom Isthmus ans Land getragen, bei einer Fichte, neben die dann natürlich auch ein Altar gesetzt worden ist254. Bestattet hat ihn sein Oheim Sisyphos, der Bruder des Athamas, und Ino, die inzwischen zur Meergöttin Leukothea geworden ist, veranlaßt ihn, zu Ehren des Melikertes Leichenspiele zu stiften, die fortan als isthmische Spiele dauernd gefeiert werden. Der Knabe aber wird unter dem Namen Palaemon wieder belebt und vergottet wie seine Mutter255.

In dieser Doppelnamigkeit ist die künstliche Mache und die Kombination verschiedener Gestalten deutlich erkennbar256. Palaemon, der »Ringer«, ist einer der vielen Dämonen des [121] Meeres; auf Bildnissen und Münzen wird er oft als ein auf einem Delphin reitender Knabe dargestellt. Am Isthmos hat er innerhalb der Ringmauer ein Heiligtum, wo er in einer unterirdischen Krypta haust und über der Unverbrüchlichkeit der Eide waltet257. Für Melikertes aber bleibt nichts als das Märchen von seinem Leichnam, das dann benutzt worden ist, um für die Isthmien eine Ursprungsgeschichte zu geben, mit derselben dürftigen Mache, mit der die Nemeen zu einer Leichenfeier für den Knaben Opheltes oder Archemoros gemacht sind. An diese Geschichte hat sich der für die Griechen völlig inhaltlose Name Melikertes angesetzt; so steht nichts im Wege, ihn für fremdes Gut zu halten und von Melqart abzuleiten. Von dem Wesen des tyrischen Gottes freilich ist nichts geblieben, geschweige denn, daß daraus eine Ansiedlung am Isthmus zu folgern wäre. Vielmehr beweist gerade dieser Name, ebenso wie der der Kabiren, nur, wie dürftig der phoenikische Einfluß auf religiösem Gebiet gewesen ist.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 113-122.
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